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Am nächsten Morgen trat der liebenswürdige Krankenwärter Huberts mit einem besonders scharf ausgeprägten menschenfreundlichen Zug um seine verdrießlich hängenden Mundwinkel ein. Nachdem er das Frühstück auf den Nachttisch gestellt, setzte er sich auf den Stuhl, den während der Nacht der Reichsfreiherr Lactantius eingenommen hatte, und sagte:
»Man ist endlich wieder bei Kräften, will mich bedünken?«
Hubert Bender fühlte sich nicht versucht, durch eine bejahende Antwort den teilnehmenden Gefühlen Baptists eine kleine Freude zu machen. Er sah ihn schweigend an.
»Daß man Ihn ruhig Seines Wegs heimgehen lasse, daran ist nicht zu denken«, fuhr jener fort. »Man hat Ihn zu nachtschlafender Zeit in einem fremden Hause umherschleichend betroffen. Was hat Er da anders beabsichtigt, als zu stehlen?«
Hubert zuckte zusammen; er richtete sich entrüstet empor, und seine Hand machte eine Bewegung, als ob er dem hämischen und mürrischen Menschen für diese Beleidigung den Teller an den Kopf schleudern wolle, den er just gefaßt hielt ...
»Nur gemach,« sagte Baptist, der mit einem Seitenblick die Wirkung seiner Worte auf den Studenten beobachtete, »man erhitze sich nicht! Wir haben noch länger zu verhandeln und haben unser ruhiges Geblüt dazu nötig.«
»Ich bin kein Dieb!« versetzte Hubert zornig und Baptist den Rücken zuwendend.
»Man ist als solcher ertappt worden und würde nunmehr, sobald man kuriert ist, auch als solcher zu behandeln sein. Wir haben peinliche Gerichtsbarkeit hier auf Dudenrode, einen Justitiarium, einen Gefängnisturm und ...«
»Einen Galgen am End' auch?« fiel Hubert ein, indem er sich wieder herumwarf und den freundlichen Mann vor seinem Bette nicht ohne den Ausdruck einer gewissen Beunruhigung anstarrte.
»Nein, einen Galgen haben wir nicht; die hohe Justiz und der Blutbann in der Herrlichkeit Dudenrode gehört dem Grafen von Ruppenstein an; aber wir haben ein Halseisen und einen Pranger.«
»I, das ist ja sehr hübsch! Sehr angenehme Besitztümer! Ich gratuliere dazu!«
»Gratuliere Er sich, wenn er denselben entgeht!«
»Und am Ende«, sagte Hubert, »blüht auch das edle Institut der peinlichen Frage oder die Folter noch hier?«
»Sie wird nur noch selten bei denen ruppensteinischen Gerichten angewandt.«
»Immer besser! Das ist ja eine überaus beruhigend eingerichtete Gegend hier, wo die ›Tollen‹ Folter und Galgen zu ihrer Erheiterung haben und böse alte Weiber Halseisen und Pranger so gut wie ihre Kochtöpfe als Haushaltungsangelegenheiten betrachten!«
Er schloß diesen Ausruf mit einem herzhaften Studentenfluche, den Baptist mit den Worten unterbrach:
»Kommen wir zum Ende! Will man sich nunmehr der kriminalistischen Abwandelung, der Verurteilung zu langer Gefängnishaft und andern Unanehmlichkeiten entziehen, so entschließe man sich. Nimmt man Raison an, so habe ich den Auftrag, Ihn nach Bremen zu begleiten und dort auf das nächste Schiff zu bringen, welches nach einem Hafen Nordamerikas abfährt. Er erhält freie Überfahrt und Wechsel für die Summe von 300 Talern auf Neujork, sobald Er an Bord ist! Damit läßt sich etwas anfangen!«
»Äußerst großmütig!«
»Ist man entschlossen?«
»Höre Er, lieber Mann,« versetzte Hubert, »daß Ihr hier einen Gefängnisturm und Halseisen und ähnliche juristische Kneifzangen habt, scheint mir für Euch eine ganz erfreuliche Einrichtung; für den Rest der Menschheit wäre es aber entschieden beruhigender, wenn auch ein kleines Tollhaus mit den nötigen Zwangsjacken in der Nähe wäre, wo man Euch selber unterbrächte.«
Baptist zuckte mit den Achseln.
»Man wähle!« sagte er mürrisch, »statt schlechte Späße zu machen. Ich muß eine Entscheidung haben.«
»Nun, vielleicht erhält Er sie morgen. Ich will mir's überlegen.«
»Dann wohlan! Jedoch länger als bis morgen wird Ihm keine Frist zur Überlegung verstattet.«
Baptist erhob sich und stellte sich an den Ofen, um Hubert sein Frühstück beendigen zu lassen. Dann nahm er die Platte mit dem geleerten Gerät und ging, ohne ein Wort weiter zu äußern, fort.
Hubert sprang aus dem Bett, sobald er seine letzten Schritte draußen hatte verhallen hören. Er zog seine Kleider an und suchte die Tür, durch welche in der Nacht der Reichsfreiherr Lactantius gekommen sein mußte. Er brauchte nur das niederhängende Leder aufzuheben, um sie zu finden; eine kleine schmale Tür von braunem Eichenholz; aber leider war diese kleine Tür fest verschlossen, und keinerlei Versuche brachten sie dahin, sich zu öffnen.
Hubert mußte sich in Geduld ergeben; er mußte warten, bis der Freiherr selber zu ihm kam, um mit diesem überlegen zu können, was er tun solle in der schlimmen Alternative, die man ihm gelassen. Der Reichsfreiherr Lactantius war jetzt plötzlich des Studenten nächste Hoffnung geworden. Der Mann mochte so seltsam und wunderlich sein, wie er wollte, er war doch am Ende der Hausherr. Und war nicht mehrmals in Hubert der Verdacht aufgestiegen, daß des Mannes Wunderlichkeiten etwas von einer Maske hätten, daß er schlauer und scharfblickender sei, als er den Anschein haben wollte? Daß er ihn einmal beim Spiele durch geschicktes Eskamotieren einer Karte betrogen habe, darüber war Hubert kaum mehr zweifelhaft. Kurz, je mehr er über ihn nachsann, desto mehr wuchs seine Hoffnung, Schutz und Schirm bei dem langen Freiherrn zu finden; und gelang das nicht, so mußte er baldmöglichst seine Flucht zu bewerkstelligen suchen.
Aber Geduld hatte er nötig, zähe, nicht zu ermüdende Geduld, einen ganzen, bleiern schleichenden Tag lang. Er vertrieb sich die Zeit, so gut es gehen wollte, indem er umherging, aus dem Fenster schaute oder in einem Lafontaineschen Roman las, den ihm der Arzt gestern mitgebracht hatte. Um die Mittagstunde kam Baptist zurück, mit seinem Mahle, ohne mit einer Silbe des Gesprächs vom Morgen zu erwähnen; am Nachmittage war, wie immer unter Baptists Obhut, der kleine stille Arzt da, um seine Zufriedenheit mit dem raschen Verlaufe, den die Genesung des kräftigen jungen Mannes nehme, zu äußern. Dann kam der Abend, die Dunkelheit der Nacht, endlich das Nachtmahl, und dann ging Baptist, schloß seinen Gefangenen draußen mit ungewöhnlicher Sorgfalt ein und entfernte sich.
Hubert versuchte zu schlafen. Daß es ihm nicht gelang, brauchen wir nicht zu sagen. Seine Spannung und Aufregung stieg mit jeder Viertelstunde; sie wäre unerträglich geworden, hätte der Freiherr seinen versprochenen Besuch heute um dieselbe Stunde gemacht wie in der vorigen Nacht. Zum guten Glücke war das nicht der Fall. Es mochte neun Uhr sein, dreiviertel hatte es auf dem alten Torturm längst geschlagen, als Hubert ein Geräusch hinter der Tapete hörte; wie vom Zugwind bewegt hob sie sich – dann wurde sie zur Seite geschoben, und der Freiherr stand im Zimmer, ganz wie gestern angetan, im großblumigen Schlafrock, die hohe Zipfelmütze auf dem grotesken Haupt, ein brennendes Licht in der Hand.
»Können Sie aufstehen und sich ankleiden, junger Mann?« sagte er, an Huberts Bett tretend.
»Ganz gut«, versetzte Hubert. »Ich war heute bereits den ganzen Tag über außerhalb des Bettes.«
»So machen Sie sich rasch heraus. Ich will Ihnen heute zu Ihrer Aufmunterung ein kleines Vergnügen bereiten, in meinem Zimmer drüben. Sie sollen mit mir gehen. Wir spielen heute mit einem Partner, der Ihnen gefallen wird.«
»Mit einem Partner?« fragte der Student, während er sein Bett verließ.
»Sie werden sehen.«
Nach einigen Minuten war Hubert fertig. Der lange Freiherr schritt nun voran; die Tapetentür führte zunächst in einen schmalen Gang, der als Rumpelkammer benutzt schien, denn eine Menge alter verstaubter Möbel stand an der Wand, und auf den Möbeln lag noch eine größere Menge alten Geräts, Kisten, ausgediente Spinnräder, alte mißhandelte Gemälde, außer Dienst gesetzte Vogelkörbe und hundert andere abenteuerlich aussehende Dinge, über welche der Lichtschein fortflackerte, als der Freiherr mit langen Schritten rasch hindurchging.
»Gehen Sie behutsam, lassen Sie Ihre Schritte nicht lauter hören, als es nötig ist«, sagte der Reichsfreiherr.
Hubert gehorchte ihm. Er trat so leise auf, wie es ihm möglich war, während Lactantius sorglos in weichen Pantoffeln vor ihm herschlurfte. So kamen sie ans Ende des Ganges, wo eine Tür, die nur angelehnt war, die beiden nächtlichen Wanderer in einen großen, wüsten Raum, der nichts als hohe geweißte Wände zeigte, einließ.
»Das ist meine Bibliothek!« sagte der Reichsfreiherr.
»Ihre Bibliothek? Wo sind denn die Bücher?«
»Stoßen Sie sich nicht an den Kisten!«
Die Warnung war nicht überflüssig; in der Mitte des Raums stand wirr durch- und übereinander eine kleine Anzahl schwerer alter Kisten, vernagelt und bestäubt ... wenn sie es waren, welche die Bibliothek enthielten, so mußte man einräumen, daß die Bücher auf eine mehr sichere als für den unmittelbaren Gebrauch zweckmäßige Weise untergebracht waren.
»Als ich mich verheiratete,« sagte der Freiherr, »habe ich sie hierhin transportieren lassen – ich bin noch nicht dazu gekommen, sie aufzustellen, aber ich will nächstens damit beginnen.«
»Als Sie sich verheirateten? Sie reden davon, als ob es im vorigen Monat gewesen ...«
»Im vorigen Monat waren es vierundzwanzig Jahre«, versetzte der Reichsfreiherr lächelnd.
Damit öffnete er eine Flügeltür, aus welcher Hubert ein heller Lichtschimmer entgegendrang, verbunden mit einer höchst angenehmen Wärme. Es war ein großes, wohnlich eingerichtetes Gemach, mit Fenstern nach zwei Seiten, mit Gemälden in verblichenen Goldrahmen, mit gepolsterten Möbeln, deren geschweifte Füße und altfränkische Formen in schönster Übereinstimmung standen mit den etwas rohen Stuckverzierungen der Decke, von der ein höchst altmodischer Kristallustre herabhing. Rechts stand in einer Nische ein großer Kachelofen, welcher eine hinreichende Wärme ausstrahlte, um den großen Raum behaglich zu machen; dahinter erblickte Hubert einen Tisch mit brennendem Armleuchter darauf, und daneben ein Spiel Karten; hinter dem Tische aber stand ein Sofa, und auf diesem Sofa saß eine weibliche Gestalt, welche beim Eintritt des Studenten dessen Gruß mit einer anmutigen kurzen Verbeugung erwiderte.
»Da ist der wunderliche Mensch, von dem ich Ihnen erzählt habe, Marie,« sagte der Reichsfreiherr – »er heißt Gregorius, glaub' ich ...«
Hubert errötete bei dieser sonderbaren Einführung, und noch mehr vielleicht bei den forschend auf ihn gehefteten Blicken der jungen Dame, deren Erscheinung etwas höchst Überraschendes für ihn hatte. Sie war nämlich von einer Schönheit, wie Hubert Bender sich nicht erinnerte, jemals ein weibliches Wesen gesehen zu haben, wenigstens nicht von dieser zarten, lilienhaften, seelengewinnenden Art von Schönheit; ihr Gesicht war länglich oval, mit feinen, regelmäßigen Zügen und sinnig blickenden, großen blauen Augen, umwallt von einer Fülle blonder Locken; dabei lag ein eigentümlich anziehender Ernst auf diesen Zügen, und die Weise, wie das junge Mädchen Hubert mit einer leichten Bewegung des Kopfes und Oberkörpers begrüßte, hatte etwas unendlich Anmutiges. Hubert war vollständig geblendet von dieser Erscheinung, und deshalb stotterte er ziemlich verwirrt hervor:
»Ich heiße nicht Gregorius, Herr von Averdonk, ich glaube nicht, daß es Ihnen umständlicher sein kann, wenn Sie mir meinen ehrlichen Christennamen Hubert Bender geben, als jeden andern. Und was dann den Namen dieser Dame angeht, so muß ich umso mehr bitten, darin eingeweiht zu werden, weil ich mir nicht erlauben würde, sie bei dem bloßen Taufnamen anzureden, den ich eben gehört habe –«
»Sagen Sie ihm nichts, Marie, sagen Sie ihm nichts«, fiel der Freiherr lebhaft ein. »Wir spielen uns, wie gestern, wieder unsere Geheimnisse ab. Er hat kein Geld einzusetzen – wir spielen darum, ob er Sie fragen darf, wer Sie sind!«
Lactantius rieb sich aus Vergnügen über diesen Scherz die Hände.
»Soll die junge Dame ihren Namen aufs Spiel setzen, Herr von Averdonk?« fragte Hubert.
Der alte Reichsfreiherr lachte; es sah höchst merkwürdig aus, wie er lachte: es sah aus, als ob es bloß zufällig und infolge besonderer Umstände ein Lachen geworden, und als ob es ursprünglich auf nichts anderes als ein lautes Weinen angelegt sei.
»Da der gnädige Herr mich Ihnen nicht nennen will,« fiel jetzt errötend die junge Dame ein, »so nenne ich mich Ihnen selber; ich heiße Marie Stahl –«
»Genannt die Lilie von Elfen!« fiel der lange Freiherr ein.
»Und wohne hier im Schlosse, weil meine Eltern wünschen, daß ich einen größern Haushalt kennen lerne und Erfahrungen darin sammle. Und nun, da wir uns kennen,« setzte sie mit derselben ernsten Freundlichkeit hinzu, »können wir zum Spiele übergehen, welches der Freiherr so liebt, daß er jeden Abend mit einer so unachtsamen und vergeßlichen Schülerin, wie ich es bin, sich die Mühe gibt, sie darin zu vervollkommnen.«
»Wir könnten zum Spiele übergehen,« fiel Hubert ein, »wenn ich nicht leider bitten müßte, mich erst von etwas anderm, weniger Angenehmem reden zu lassen: mir ist in der Tat das Herz viel zu voll, um den Karten meine Aufmerksamkeit zuwenden zu können.«
»Und wovon ist Ihnen das Herz voll, Gregorius?« fragte der Reichsfreiherr.
»Davon, wie man mit mir umgeht, in Ihrem Schlosse, Reichsfreiherr!«
Der Reichsfreiherr fuhr mit seiner großen Hand von hinten her über seinen Kopf, so daß er die Zipfelmütze bis auf seine buschigen weißen Brauen herabdrückte. Dann fragte er mit einem sehr verdrießlichen Gesicht: »Können Sie denn das nicht auf ein paar Stunden vergessen, um einem alten Manne, der sich nach einer Erholung sehnt, gute Gesellschaft zu leisten? Sie haben mir in der vorigen Nacht den Kopf schwer genug gemacht mit Ihren Geschichten; der Teufel hole Sie mit allen Ihren Querelen, ich will nichts davon hören! Helfen kann ich Ihnen doch nicht. Nehmen Sie die Karten.«
»Aber Sie können doch nicht vergessen haben ...«
»Ich habe alles vergessen! – alles!«
»So geben Sie mir einen schlechten Trost, mein Herr von Averdonk; doch wenn meine Geschichten Ihnen plötzlich so uninteressant geworden sind, daß Sie nichts mehr davon hören wollen, so bin ich weit entfernt, Sie damit zu belästigen. Dies wird mich aber nicht hindern, meine Geschichte dieser jungen Dame zu erzählen und ihren Rat ...«
»Zum Henker, das sollen Sie bleiben lassen ... was gehen Ihre Geschichten die Marie an? Wollen Sie meine Frau zur Fabel der Gegend machen mit dem Geschwätz von dem alten Hause und ihrem Liebhaber darin? ...« Der lange Reichfreiherr unterbrach sich, wie plötzlich sich erinnernd, daß er indiskret werde.
»Ich will mir den Mund nicht verschließen lassen ... ich will von diesem jungen Mädchen, in deren Augen ich lese, daß sie die Wahrheit sprechen wird, zu erfahren suchen, welche Räuberhöhle denn eigentlich dieses Haus – ja, Ihr Haus ist, Herr von Averdonk, wo man unschuldige Menschen mit Kerker und Pranger bedroht, wenn sie nicht vorziehen, sich nach Amerika schicken zu lassen.«
»Was ist das? Was soll das heißen?« sagte der Freiherr, weit die Augen aufreißend und Hubert anglotzend, während, wie erschrocken über des Studenten ausbrechende Heftigkeit, das junge Mädchen aufgestanden war und Miene machte, das Zimmer zu verlassen. Aber Hubert trat ihr in den Weg.
»Gehen Sie nicht,« sagte er, »gehen Sie nicht, ich bitte Sie darum – auch Ihnen habe ich etwas mitzuteilen, was von der äußersten Wichtigkeit für Sie ist!«
»Was reden Sie von Gefängnis und von Amerika ... erklären Sie das!« fuhr der Freiherr fort.
»Man will mich nach Bremen transportieren und dort auf das Verdeck eines nach Amerika segelnden Schiffes bringen ...«
»Sie? ... weshalb?«
»Es scheint, daß man großen Wert darauf legt, mich zu beseitigen, nachdem ich die Unterhaltung der Frau Gebharde mit dem Capitaìne des chasses in dem alten Hause zu Köln behorcht habe; ich soll ohne Zweifel unschädlich gemacht werden, entweder durch Güte oder durch Gewalt. Ein böser alter Mensch, den ich von dem Arzte Baptist nennen höre, hat mir heute morgen die Reise als mein unabwendbares Schicksal in Aussicht gestellt.«
Der lange Reichsfreiherr stand auf und verschwand plötzlich völlig den Blicken der beiden jungen Leute. Er war nämlich hinter einen großen herabgelassenen Fenstervorhang getreten, der seine Gestalt vollständig verbarg. Es blieb für Hubert ein Rätsel, was er da mache, ob er dort einen aufkochenden Zorn hinunterwürgen oder unbeobachtet dem Studenten eine Zähre des Mitgefühls weihen, oder nur durchs Fenster nach dem Wetter sehen wolle.
Hubert Bender verlor jedoch mit der Lösung dieses Rätsels keine Zeit.
»Demoiselle Stahl,« sagte er zu dem jungen Mädchen gewandt, »es bedroht auch Sie ein großes Unglück.«
»Mich? ... o mein Gott, was kann das sein!«
»Nicht wahr ... Sie sind den Verfolgungen eines Menschen ausgesetzt gewesen, den man den ›Tollen‹ nennt und der ein Graf von Ruppenstein sein soll?«
Marie Stahl antwortete nicht – aber die Leichenblässe, welche ihre Züge überzog, reichte hin, um Hubert zu zeigen, daß seine Voraussetzung die richtige sei.
»Nun wohl,« fuhr er fort, »die Frau, die hier im Hause vollständig unumschränkt zu herrschen scheint, hat beschlossen, Ihnen den Schutz zu entziehen, den die Mauern dieses Gebäudes bis jetzt Ihnen gewährten. Sie sollen von hier fortgeschickt werden, damit Sie dem ›Tollen‹ in die Hände fallen.«
Marie Stahl traf diese Mitteilung wie ein Donnerschlag. Sie sank, die Hände mit einem Ausruf des Schreckens faltend, in das Sofa zurück.
Der Reichsfreiherr trat jetzt plötzlich hinter seinem Vorhang hervor. »Was sagen Sie da ... woher wissen Sie das?« rief er aus.
»Wenn Sie nicht, wie Sie vorhin beteuerten, alles vergessen hätten, was ich Ihnen in der gestrigen Nacht erzählte, so würde es Ihnen leicht begreiflich sein, woher ich das weiß!«
»Sie haben es ...«
»Mit meinen eigenen Ohren gehört«, versetzte Hubert.
»Marie ... wenn man Sie von hier fortsendet, wenn ich niemand, gar niemand mehr habe, der mit mir spielt und mir diese langen Winterabende, die jetzt kommen, vertreiben hilft, dann halte ich es hier nicht mehr aus, dann bin ich ein unglücklicher Mensch!« wehklagte der Reichsfreiherr, indem er plötzlich in eine Tonart des tiefsten Jammers überging.
Hubert sah ihn mit einem Gesicht an, von dem es schwer zu sagen war, ob sich darin mehr Verwunderung oder mehr Zorn malte. Ein so naiver, so unglaublicher Egoismus war ihm noch nicht vorgekommen. »Aber zum Teufel, mein Herr von Averdonk,« rief er aus, »es handelt sich hier viel darum, wer Ihnen die Abende verkürzt und sich von Ihnen im Kartenspiel übers Ohr hauen läßt! es handelt sich um schändliche Frevel, die in Ihrem Hause, unter Ihren eigenen Augen vorgehen und denen Sie entgegentreten würden, wenn Sie ein Mann wären!«
Statt sich über diese derbe Apostrophe beleidigt zu zeigen, blickte der Freiherr mit melancholischen Blicken Marie Stahl an und sagte: »Es ist wahr, es ist wahr – ich muß der Sache ein Ende machen! Was meinen Sie, wenn ich einen meiner Wutanfälle bekäme, Marie? Sollte es nicht das Beste sein? Sie wissen, das letzte Mal ... nein, Sie wissen es nicht; Sie waren damals noch nicht hier; aber es schlug durch; sie bekam Angst vor mir und zitterte wie ein Espenlaub; ja, sie zitterte, Marie, sie zitterte vor Schrecken; sie wurde ganz kreideweiß; oh, es war eine Freude, es anzusehen, eine wahre Freude ... Ich hätte sie um den kleinen Finger wickeln können, damals; wenn Sie dabei gewesen wären, würde es Ihnen noch sein, als ob es gestern gewesen wäre!«
Und dabei schritt der lange Freiherr im Zimmer auf und ab, rieb sich die Hände vor Vergnügen bei dieser Erinnerung und rief einmal über das andere: »Ich will einmal wieder in Wut geraten, ich will sofort in Wut geraten ... in eine schreckliche Wut!«
Hubert sah fragend nach dem jungen Mädchen hin, diese aber hatte ihren Kopf auf die Lehne des Sofas gelegt, verbarg ihr Gesicht daran und schien zu weinen.
Lactantius von Averdonk blieb jetzt mitten im Zimmer stehen: er sah sich nach allen Seiten wie suchend um; endlich fuhr er hastig nach dem Holzkasten hinter dem Ofen und holte einen Arm voll großer Scheite daraus, die er einzeln mit einem schrecklichen Gepolter gegen die Möbel in dem Räume, warf. Dann nahm er einen Stuhl und schleuderte ihn wider den an der Wand hängenden Spiegel; mit einem furchtbaren Krachen und Klirren stürzten die Glasscherben, der Rahmen, die Bruchstücke des zerschmetterten Stuhls auf eine darunterstehende Kommode mit chinesischen Porzellanvasen nieder, und von dort, durch die Trümmer der Vasen vermehrt, auf den Boden. Dann ging er dazu über, mit den Holzscheiten ein lebhaftes Bombardement gegen den Kristallustre, der von der Decke niederhing, zu eröffnen, daß die Scherben davon nach allen Seiten stoben, klirrten und rasselten.
»Wir wollen einmal in Wut geraten!« schrie Lactantius von Averdonk dabei in einem fort, mit den Zähnen knirschend, mit puterrot aufflammendem Gesicht und immer lauter und toller, und mit den Waffen, welche er ergriffen hatte, um sich fahrend, daß im ersten Augenblick weder Hubert noch viel weniger Marie es wagte, in seinen Bereich zu treten, um ihn an diesem unsinnigen Benehmen zu hindern. Doch sammelte Hubert sich bald und wollte ihm von hinten her den Arm festhalten. Es wurde ihm dazu aber keine Zeit gelassen. Denn während der lange Freiherr so im besten Zuge war, sich mit außerordentlicher Anstrengung in eine gehörige Wut hineinzuarbeiten, und als er just durch einen wohlgezielten Wurf den Kronleuchter so getroffen hatte, daß die Scherben und Splitter wie ein Hagelschauer niederrasselten und nach allen Seiten umhersprühten – wählend das zu Tode erschrockene junge Mädchen sich zu flüchten im Begriff stand und, um nicht von den herumfliegenden Holzscheiten getroffen zu werden, sich an die Mauer drückte: währenddessen öffnete sich plötzlich und rasch aufgerissen eine Flügeltür in der dem Sofa gegenüberliegenden Wand und zwei Personen traten mit einer Hast und den Zeichen von Aufregung herein, welche allerdings in hohem Grade gerechtfertigt waren, wenn sie, wie nicht anders möglich, in irgendeinem nahen Räume des Hauses den Hexensabbat vernommen hatten, den Freiherr Lactantius anstellte.
Die eine dieser beiden Personen war Hubert nur zu wohl bekannt; ja, er kannte dieses Frauenantlitz mit den scharfen Zügen, den harten Blicken unter wimperlosen Lidern her; diese hohe zurückliegende Stirn, gelbfleckig und von leichten Runzeln durchfurcht; diese gebogene Nase, dieses ganze von ergrauenden Locken umrahmte Gesicht; aber freilich, als er es zum ersten Male sah, lag ein anderer Ausdruck, ein Gepräge von Leiden und Kummer und einer gewissen bittern Ergebung darauf; und während sie dann später im Wagen ihm gegenübergesessen, hatte dieses Antlitz nichts verraten als eine eisige Fassung, welche durch nichts in der Welt schien erschüttert werden zu können. Heute aber, in diesem Augenblicke zeigten diese Züge einen andern Ausdruck, den hellsten Zorn. Zorn funkelten diese Augen, Zorn sprach aus den zuckenden Mundwinkeln.
Ihr zuvorgeeilt war ein kräftiger, hochgebauter junger Mann, der Huberts Alter, vielleicht etwas mehr haben mochte; er hatte ein schönes, aristokratisches Gesicht, dem der Dame ähnlich, freiwallende und ungepuderte braune Locken, und trug eine bequeme Haustracht, ein grünes Wams mit kurzen Schößen – man sah, daß er zur Intimität der Dame vom Hause gehörte. Das erste, was er tat, als er den Schauplatz der Wutanstrengungen des Freiherrn erreichte, war, an diesen dicht heranzutreten und den Versuch zu machen, die Arme des tobenden Mannes festzuhalten. Aber Freiherr Lactantius schien nicht gewillt, sich in seinem Vorhaben stören zu lassen, das dahin ging, durch einen grenzenlosen Lärm unzweifelhaft zu beweisen, daß er in Wut geraten sei ... er suchte den jungen Mann abzuschütteln, während er zugleich das Holzscheit, welches er in der Rechten gefaßt hielt, schwang, als wolle er damit seinem Angreifer den Schädel zerschmettern.
»Lactantius! Lactantius!« rief in diesem Augenblick eine Stimme dazwischen – eine helle, schneidende Stimme, in der zwar genug Zorn, Entrüstung, Staunen und Verachtung, zu ganz gleichen Teilen gemischt, lag, deren plötzliche Wirkung auf den Wütenden jedoch darum nicht weniger merkwürdig und zauberhaft war.
Der Reichsfreiherr ließ den erhobenen Arm sinken; es war, als habe der Ruf seines Namens von den Lippen dieser Frau ihn durchzittert von dem Scheitel bis zur Sohle, als habe er seine Kraft gelähmt und ihn gebändigt wie die Hand eines Tierbändigers, die sich auf die Mähne eines brüllenden Löwen legt, wie das Flüstern eines »Wisperers« der ein unbändiges Roß sich dienstbar macht.
Es war eine seltsame Erscheinung, welche der Freiherr in diesem Augenblicke darbot. Sein Gesicht flammte, seine Augen glühten rotunterlaufen, sein Haar sträubte sich in dünnen weißen Strängen um den entblößten Schädel, von dem die hohe Zipfelmütze gefallen war. So stand er wie völlig bezwungen und bezähmt da – aber nicht lange; er schien sich ermannen zu wollen, er erhob die Hand geballt seinem Weibe gegenüber und dann beide Hände und schrie, ihr um einen Schritt entgegentretend: »Ich bin in Wut, Gebharde! Ich bin in Wut ... Wut ... Wut!«
»Und du glaubst, du könntest mir Furcht einjagen mit dem, was du deine Wut nennst? Du glaubst, ich würde fliehen vor deiner ›Wut‹!« erwiderte die Frau mit einer unsäglichen Verachtung und einer verzweiflungsvollen Kaltblütigkeit. Und dabei schritt sie, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, auf den Tisch vor dem Sofa zu, stützte ihre Hand darauf und blickte mit drohendem Stirnrunzeln auf Hubert, der als stummer Zeuge dieser Szene mit untergeschlagenen Armen zur Seite stand. »Wie kommt dieser Mensch hierhin?« sagte sie, und Hubert glaubte annehmen zu dürfen, daß die gleichmütige Ruhe, womit sie diese Frage stellte, etwas Erheucheltes habe; er bemerkte, daß ihre Stimme ein klein wenig zitterte, ihre Farbe um ein kaum Merkliches bleicher wurde, als sie ihn erblickte und fragte.
»Das wirst du dir am besten selbst beantworten, wie er hierhin kommt«, schrie der Freiherr fast freudig auf, als ob er durch diese Frage wieder einen neuen Strom Wassers auf das Mühlwerk seiner »Wut« bekommen, als ob er es nun plötzlich wieder tosend und brausend von neuem in Gang setzen könne. »Warum hast du diesen Menschen verwunden, überwältigen und gefangen hierher schleppen lassen ... Warum verfolgst du ihn und willst ihn in die Fremde, ins Elend hinausjagen? Warum belügst du mich und gibst an, du habest ihn ...«
Frau Gebharde wandte sich zu ihm. Sie legte ihre Hand um seinen Unterarm, und, wie es schien, mit festem, wie eisernem Griff. »Lactantius!« sagte sie mit ihrer schneidenden Ruhe.
»Was willst du mir?« entgegnete der Freiherr, indem er einen schwachen Versuch machte, sie abzuschütteln.
»Lactantius, es scheint, der Augenblick, den ich lange gefürchtet habe, ist eingetroffen. Du bist wahnsinnig geworden. Ich muß dich für geisteskrank erklären lassen und für deine Unterbringung in einer Anstalt, wo man die Narren zu bändigen weiß, Sorge tragen. Du weißt, daß ich leider seit langem habe vorbereitet sein müssen auf das Eintreten eines solchen Ereignisses ...«
Statt über diese Worte in neue Entrüstung zu geraten, verlor der Freiherr bei ihnen plötzlich seine hochrote Farbe; er ließ seine Arme schlaff niedersinken und sah mit Blicken, die anfingen, nur noch Schrecken und Furcht auszudrücken, seine Gattin an.
»Dein Verstand hat offenbar gelitten«, fuhr diese fort. »Du begreifst die einfachsten Dinge nicht mehr. Gestehe es, in deiner Seele verwirrt sich das Klarste und Offenbarste, und du vergissest, was du noch am vorigen Tage hörtest, oder läßt es aufs abenteuerlichste mit deinen kranken Träumereien sich vermengen.«
»Nein, nein!« rief Lactantius entsetzt dazwischen, »ich begreife alles ...«
»Tu vergaßest, daß ich diesen Menschen dort auf meiner letzten Reise verwundet, bewußtlos, im heftigsten Fieber unter einer Hecke am Wege liegend fand und ihn mit mir nahm, aus bloßer Barmherzigkeit, um ihn zu pflegen, daß ich ihn abgesperrt halten ließ, weil seine Krankheit eine ansteckende sein konnte ...«
»O nein, nein, ich weiß es, ich weiß es, Gebharde«, rief der Reichsfreiherr, sich matt auf einen Stuhl werfend und dann flehentlich seine Hände erhebend, aus.
»Du vergaßest aber, daß ich deshalb verboten hatte, sich ihm zu nähern und sich um ihn zu kümmern ... er ist hier ... du mußt ihn aufgesucht haben!«
»Ja, das vergaß ich allerdings, Gebharde; ich führte ihn hierher, um einen Spielpartner an ihm zu haben ...«
»Ist Marie Stahl nicht bei dir? ...«
»Marie Stahl ... ja, aber du willst sie von hier fortsenden ... willst sie wegschicken, damit ...«
Frau Gebharde fiel ihm ins Wort. »Beginnt dein Wahnsinn wieder?«
»Er sagt's«, wagte Lactantius schüchtern mit einer Kopfbewegung nach Hubert hin einzuwerfen.
»Also ein Wort dieses auf der Straße aufgelesenen Menschen, der die Phantasien seiner Fieberträume hier für Wahrheit auszugeben scheint, reicht hin, dich glauben zu lassen ...«
»Nichts, nichts ...«, rief der Reichsfreiherr dazwischen, »du hast recht, Gebharde, er hat phantasiert und geträumt, du hast recht. Vergib mir!«
»Dir will ich vergeben,« versetzte Frau von Averdonk, »aber nicht denen, die dich in diesen Zustand versetzt haben, die dir Dinge vorschwatzten, welche bei dir zu so verhängnisvollen Anfällen führen ... Marie Stahl!« wandte sie sich an das junge Mädchen, »ich weiß nicht, welchen Anteil du daran hattest, wieviel du tatest, diese abscheuliche Szene hervorzurufen, aber damit ich sicher bin, daß so etwas nicht wiederkehret, verlässest du morgen mein Haus!«
»Tante ... ich bitte Sie, Tante ...« fiel hier entsetzt der junge Mann ein, der sich während des Vorigen Marien genähert und, wie nur Hubert bemerkt, dieser rasch ein paar Worte zugeflüstert hatte.
Die zürnende Frau wandte sich zu ihm; sie maß ihn von oben bis unten mit einem stolzen und kalten Blicke, der die volle Gewalt zu haben schien, jedes weitere Wort auf seiner Lippe ersterben zu machen. Dann richtete sie ihr drohendes, gebieterisches Antlitz Hubert zu.
»Er«, sagte sie, »wird sich sofort dahin zurückbegeben, wohin ich Ihn habe weisen lassen. Für die Lügen, welche Er hier vorgebracht zu haben scheint, werde ich Ihn strafen zu lassen wissen ...«
»Lügen ... strafen?« rief jetzt Hubert mit von Zorn flammendem Gesichte aus und trat der hochmütigen Frau kühn einen Schritt entgegen.
Diese aber wandte ihm den Rücken, und mit den Worten an ihren Neffen: »Franz, rufe augenblicklich Baptist und den Jäger herbei ... augenblicklich ... du, Lactantius, folgst mir!« rauschte sie stolz und heftig zur Tür hinaus. Der junge Mann folgte ihr, um ihren Befehl zu erfüllen, der lange Freiherr aber schritt gebeugt und wie gebrochen hinter ihr drein.
Nur noch Marie Stahl und Hubert standen im Zimmer.
»Dem ist die Komödie, die er aufführen wollte, schlecht bekommen!« rief Hubert mit einem bittern Lächeln des Hohns und der Verachtung aus, als der Freiherr verschwand. »Adieu, Demoiselle Marie – ich hoffe, es ist dies erste nicht das letzte Mal, daß wir uns sehen – ich wäre glücklich, wenn ich denken dürfte, wir sind Freunde von nun an, nach dieser Szene, die wir zusammen erlebten! Daß meine Warnung für Sie nur zu begründet war, haben Sie jetzt gesehen. Adieu, Adieu!« »Wohin wollen Sie?« fragte zitternd vor Aufregung das junge Mädchen.
»Irgendwohin, wo ich vor der Rachsucht dieses gereizten Weibes sicher bin – zu irgendeiner Tür oder einem Fenster hinaus ...«
Hubert eilte bei diesen Worten zum nächsten Fenster und öffnete es hastig, um einen Blick hinauszuwerfen; Regen und Nachtwind schlugen ihm entgegen; dunkle Wolkenmassen, die über den Mond fortgepeitscht wurden, verdoppelten die Schatten der Nacht; es war weiter nichts zu erkennen, als daß unter dem Fenster sich ein Garten befinde. »Läuft nicht ein Spalier an der Wand hinauf, mir scheint es!« flüsterte er Marien zu, die hinter ihn getreten war.
»Ein Spalier läuft allerdings an der Mauer entlang; aber es reicht nicht bis an diese Fenster.«
Hubert antwortete nicht; er trat an den Tisch zurück und riß die lange grüne Tuchdecke, welche darauf lag, herab, während Marie rasch genug herbeisprang, um einen der beiden brennenden Leuchter zu retten, daß er nicht fortgeschleudert werde, wie die Trümmer des Kronleuchters fortgeschleudert wurden, die auf der Decke lagen. Dann eilte Hubert ans Fenster zurück, wo er in dem geschlossen gebliebenen Flügel eine Scheibe einstieß, sodaß er den Zipfel der Decke an diesen Flügel festknoten konnte.
Er schwang sich ins Fenster.
»Mein Gott, mein Gott, was tun Sie?« rief Marie Stahl aus. »Sie werden umkommen ... nehmen Sie sich in acht ... nehmen Sie sich Zeit... ich werde die Tür schließen«, und zugleich flog sie der Flügeltür zu, um den Nachtriegel vorzuschieben.
Hubert hing bereits mit seinem ganzen Körper frei in der Luft. Er ließ sich an der Decke niedergleiten; sie war lang genug, daß er, ans Ende gekommen, immerhin sich hätte fallen lassen können, ohne sicher zu sein, den Hals zu brechen. Daß seine Füße jedoch in diesem Augenblick die Latten eines Spaliers berührten, war desto beruhigender und erfreulicher für ihn. Er konnte daran niederkletternd den Boden erreichen, ohne sich irgend verletzt zu haben. Die Folgen seiner Flucht trafen bloß einen Spalierbaum, dessen Äste er zerbrach. Als er sicher auf festem Boden stand, blickte er empor. Er sah, wie Marie die Decke wieder hereinzog, das Fenster schloß und dann die Vorhänge dicht vorzog.
»Das schöne Geschöpf hat Geistesgegenwart«, sagte er sich dabei. »Sie will mir den Rücken decken; vielleicht ist sie auch so klug, die Verfolger auf eine unrichtige Fährte zu schicken. Desto besser. Aber nun – wohin?«
Die Frage war allerdings nicht leicht zu beantworten, in einer Nacht, so dunkel wie diese.
Hubert entfernte sich fürs erste mit langen Schritten durch den nächsten Gartenpfad, den er auffand, von dem Schlosse, das bald in breiter umfangreicher Masse hinter ihm lag. Als er ein paar hundert Schritte weit gekommen war, sah er plötzlich eine hohe Mauer vor sich. Die Mauer wollte nicht aufhören; umsonst schaute Hubert ängstlich zu den Obstbäumen auf, welche ihr zunächst standen und deren Kronen sich am Nachthimmel abzeichneten; aber es war keiner da, der einen starken Ast so über die Mauer gestreckt hätte, daß er dem Studenten eine Möglichkeit geboten, den Mauerrand zu erreichen. Und doch wurde es mit jeder Minute dringlicher, da hinüberzukommen.
Sicherlich suchte man Hubert Bender jetzt noch im Gebäude selbst – es irrten Lichter hastig an den Fenstern vorüber, in dem Gebäudeflügel, an dessen Ende seine Krankenstube lag. Wenn man jedoch von dem vergeblichen Suchen, da oben abließ, wenn man anfing, die Umgebung des Schlosses zu durchsuchen und dazu die Hunde entfesselte – Hubert hörte jetzt schon vom Hofe und von den Vordergebäuden her Hunde anschlagen und es klang ihm durch Mark und Bein ... er hatte vor diesen Bestien einen ganz eigentümlichen Respekt bekommen – dann war es um seine Freiheit geschehen.
Schon zum zweiten Male war er beinahe die ganze Länge der Mauer entlang gelaufen; er hatte nichts gefunden, als dicht am Schloßgebäude eine schwere Tür von Eichenbohlen, an welcher er bereits beim eisten Rundlauf an dieser verzweifelten Mauer entlang gerüttelt hatte. Sie schien den einzigen Ausgang aus dem Garten zu bilden, mit Ausnahme einer nicht weit davon entfernten, in das Gebäude selbst führenden Glastür, durch welche Hubert jedoch nicht denken konnte zu dringen. In der Nähe dieser Glastür glaubte er jetzt einen dunkeln Gegenstand wahrzunehmen, der mit einem auf der Lauer stehenden menschlichen Wesen eine höchst beunruhigende Ähnlichkeit hatte. Und in der Tat, er hatte sich nicht getäuscht ... Die Gestalt bewegte sich, sie mußte ihn ebenfalls wahrgenommen haben, denn sie kam einige Schritte näher auf ihn zu.
Hubert nahm die Flucht. Er lief davon, er lief so schnell, wie seine Glieder ihn tragen wollten. Leider waren diese Glieder geschwächt von der Krankheit; leider waren sie bald ermattet, um so mehr, als für ohnehin zusammenbrechende Knie der Lauf über weiche, vom Regen durchtränkte Gartenbeete eine höchst lähmende Aufgabe ist. Er hörte mit Schrecken, wie der Verfolger ihm immer näher kam.
»Um Gottes willen,« rief er halblaut hinter ihm, »stehen Sie doch! Ich will Ihnen ja helfen ... stehen Sie doch und vertrauen mir!«
»Wenn das wahr ist, warum sagten Sie es nicht gleich?« versetzte Hubert, der jetzt, an der Stimme zumeist, den jungen Mann erkannte, welcher vorhin mit Frau von Averdonk zugleich in das Zimmer des Freiherrn getreten war.
»Weil ich erst wissen wollte, ob es nicht einer von unsern Leuten sei, der nach Ihnen spähe. Ich habe keine Lust, mich zu verraten, daß ich mich hierhin geschlichen habe, um Ihnen mit einer Leiter über die Mauer zu helfen.
»Mit einer Leiter?«
»Sie steht dort hinten in der Ecke. Kommen Sie, aber machen Sie rasch, ich höre Stimmen, man kommt ...«
In der Tat wurden jetzt jenseit der Mauer, in der Gegend eben jenes Tores Stimmen laut, dazu Geheul und Gekläff von Hunden, und ein Lichtschimmer fiel über die Mauer herüber.
Der Fremde zog Hubert hastig nach dem nächsten Winkel der Gartenmauer fort. »Hier habe ich die Leiter aufgestellt,« sagte er, als sie dort angekommen waren. »Aber warten Sie noch, nehmen Sie dies erst.« Und mit diesen Worten warf der Fremde Hubert einen leichten Radmantel, den er trug, um die Schultern, setzte ihm seine eigene Jagdmütze auf und indem er flüsterte: »In der Tasche des Mantels ist etwas Geld ... flüchten Sie zum Vogt von Elsen, verbergen Sie sich bei dem, bis Sie weiter können, vertrauen Sie sich ihm an«, unterstützte er den Studenten, bis dieser den Mauerrand erklommen hatte; dann schob er ihm die Leiter nach, die, oben von Hubert gefaßt, rasch von ihm nach der äußern Seite hinabgelassen wurde.
»Wohin, sagten Sie, soll ich gehen?« flüsterte Hubert jetzt von oben herunter.
»Zum Vogt von Elsen, Mariens Vater; sagen Sie ihm, das junge Mädchen habe Sie an ihn gewiesen!« antwortete der Fremde und entfernte sich rasch.
Wenn er bei seinem Rettungswerke nicht ertappt sein wollte, so war es freilich hohe Zeit, daß er sich aus dem Staube machte. Durch das Gartentor waren eben mehrere dunkle, von dem Schein einer Laterne beleuchtete Gestalten eingedrungen, und eine Anzahl wüster Rüden stürzte sich in toller Aufregung daher.
Hubert dankte seinem Schöpfer, daß er geborgen sei. Er war die Leiter jenseits hinabgestiegen, er stand am Fuße der Mauer, und jetzt lag zwar eine dunkle Tiefe vor ihm, eine Art Abgrund; als er aber ohne sich lange zu besinnen, diesen Abgrund hinunterstieg, nahm er wahr, daß nichts Gefährliches und Schreckliches an demselben sei; wenn auch der Boden, aus losem Geschiebe und Steingeröll bestehend, unter seinen Füßen wegkollerte, so war doch Gestrüpp und Holzaufschlag genug da, um sich daran festhalten zu können, und so kam der flüchtige Student wohlbehalten in der Tiefe an, übersprang hier einen schmalen Bach, einen höchst bescheidenen Wasserfaden, in welchem er auf keinen Fall hätte ertrinken können, wenn er auch das Unglück gehabt hätte, mitten hineinzufallen, und klomm an der andern Seite eine von Hochwald bedeckte Hügelwand empor.