Levin Schücking
Die Marketenderin von Köln
Levin Schücking

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Zweites Kapitel

Was der Student und das junge Mädchen in dem alten Hause entdeckten

Es schlug acht Uhr in dem verwitterten alten Domturme, es schlug acht Uhr auf Groß- und auf Klein-St.-Martin, und acht Schläge hallten in verschiedenen Pausen, bald dumpf, bald hell, bald nahe, bald fern, von allen den zahllosen Türmen, die zwischen St.-Kunibert und St.-Severin lagen. Es war ein seltsames Konzert, das durch den dichten Nebel schwirrend bis in die kleinsten Sackgassen, Durchgänge und Höfe drang. Acht Uhr! Es wäre genug gewesen, wenn es die große Domglocke mit ihrem mächtig dahinrollenden Klange gesagt hätte; denn jedermann, der hören wollte, konnte nicht den geringsten Zweifel darüber hegen, daß die großen Glockenhämmer in dem Turme der Kathedrale achtmal aushoben und achtmal niederfielen. Aber die andern wollten es auch sagen. St.-Maria im Kapitol, St.-Maria zu den Staffeln, St.-Maria in der Kupfer – und die in der Schnurgasse wollten es auch verkünden; und was St.-Maria behauptete, damit waren St.-Kunibert, St.-Andreas, St.-Gereon, St.-Ursula und St.-Pantaleon so sehr einverstanden, daß sie es ausdrücklich laut wiederholten; und dann kamen die kleinem Heiligen: St.-Alban, St.-Mauritius und St.-Columba; sie machten sich ein wahres Vergnügen daraus, ihre vollständige Übereinstimmung mit den großen an den Tag zu legen und ihr Stimmrecht zu wahren, und so verkündeten sie alle, daß nun abermals eine Stunde ins Meer der Ewigkeit versunken.

»Bitte, gehen Sie voraus, Herr Bender,« sagte das junge Mädchen zu ihrem Begleiter, als sie den Laden des Professors verlassen hatten; »leuchten Sie mir.«

Der Student schritt voraus und ließ das Licht seiner Laterne auf den Boden der Straße fallen. Jungfer Traud faßte herzhaft ihren Mantel und ihr Sergeröcklein hinter sich zusammen, und auf ihre festen Schnürstiefelchen vertrauend, ergab sie sich, dem raschen Schritte Benders folgend, in das Unvermeidliche.

Ihr Weg mündete in eine Straße, wo der Schmutz noch unergründlicher war. Die beiden jungen Leute aber waren zu voll von ihrem Vorhaben, um sich viel daran zu kehren. Sie gingen der Hochpforte zu, über den Weltmarkt, dann links ab und eine Weile neben der düstern, niedern Georgskirche her, deren gewaltiger Turm noch massenhafter und breiter als bei Tage jetzt durch Nacht und Nebel dräute. Während in den Straßen, durch welche sie gekommen, hier und dort aus den Läden und aus den offenen Türen der Weinhäuser heller Lichtschein auf den Weg gefallen war, lag die ganze Gegend, in welche sie jetzt gelangten, durchaus in Dunkel und Finsternis. Doch glitt der enge Lichtkreis, den Huberts Laterne auf den Boden warf, rasch dahin, und innerhalb dieser Lichtsphäre bewegten sich ebenso rasch zwei männliche, mit Klappenstiefeln bewaffnete Beine und der untere Teil einer weiblichen Gestalt – denn von den Oberkörpern waren nur höchst unsichere zerflossene Umrisse zu unterscheiden. Entschlossen schritten sie vorwärts. Als sie die Kirche hinter sich hatten, gelangten sie auf einen kleinen viereckigen Platz, der allerdings vor dem unergründlichen Schmutz der Straßen den Vorteil darbot, daß man hier festen Boden unter den Füßen fühlte. Dafür aber war er durch Haufen von Kehricht und Schutt, die hier mit oder ohne obrigkeitliche Erlaubnis abgelagert waren, unwegsam gemacht, und die liebe Jugend, die, aus dem Zwinger der Bildungsanstalt entlassen, täglich hier ihre kindlichen Spiele aufzuführen Pflegte, hatte überall tiefe Löcher, wahre Schachtbaue angelegt, so daß Hubert Mühe hatte, in Schlangenlinien seinen Weg durch dieses schwierige Terrain zu finden. Endlich stand man am Ziele. Es war ein kleiner einstöckiger Vorbau, mit einem großen Einfahrtstore, über dem ein vorspringendes Schutzdach die Figur irgendeines nicht recht erkennbaren Heiligen schirmte. Traudchen zog einen Schlüssel hervor, um eine kleinere in das Tor eingeschnittene Einlaßtür zu öffnen.

»Wenn jemand sähe, daß ich Sie mit hereinnähme, was würden die Leute denken!« sagte sie dabei ängstlich flüsternd; »verdecken Sie ja die Laterne,«

»Dann, Traudchen, heirate ich Sie,« gab Hubert lachend zur Antwort, »und was ist dann dabei?«

»Oh, ich danke schön,« versetzte das junge Mädchen, »da wär' die Medizin schlimmer als die Krankheit!«

Sie standen jetzt unter einem gewölbten Torbogen; links lag der Eingang zur Wohnung Traudchens und des Ohms Gymnich, vor ihnen aber ein Hof, dessen hintere Seite ein hohes, in der Dunkelheit unbeschreiblich düster aussehendes Gebäude bildete; die linke Seite dieses Hofes schloß ein auf Holzständern ruhendes offenes Bauwerk, der Holzschuppen, von dem Traudchen geredet hatte, ab, von dem Vorbau bis an das Hauptgebäude reichend und beide verbindend. Rechts schloß eine hohe Mauer den Hof.

Traudchen hieß den Studenten unter dem Durchgang des Vorbaues warten und verschwand dann im Innern ihrer Wohnung. Nach einer Pause kehrte sie zurück. Sie fand ihren Begleiter jetzt auf der Mitte des Hofes stehend und die Laterne noch immer unter dem Mantel verborgen haltend, aber angestrengten Blickes an dem allen Herrenhause hinaufspähend.

»Von Rauch sehe ich nichts,« sagte er leise, als er Traudchens Schritte hinter sich hörte, »ich kann heute nicht einmal die Essen sehen, so dunkel ist es; aber blicken Sie einmal auf das dritte Fenster von links in der obern Reihe – das, welches sich gerade über dem Erker befindet – schimmert da nicht in der Mitte etwas wie ein ganz schmaler Lichtstreifen hindurch?«

»In der Tat,« versetzte Traudchen, »es muß da oben Licht sein.«

»Was haben Sie da, Jungfer Traud?« fragte Hubert, auf einen Gegenstand deutend, den das junge Mädchen in der Hand trug.

»Ein paar alte Filzschuhe vom Ohm,« sagte sie. »Ziehen Sie das über die Stiefel an, damit Sie auf den Treppen kein Geräusch machen.«

»Jungfer Traud denkt an alles!« versetzte Hubert, indem er die Filzschuhe nahm, sie auf den Boden setzte und in die weiten Fußgehäuse des Ohms Gymnich mit Leichtigkeit seine Stiefel schob.

Das junge Mädchen, das ihren Mantel in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte, bemächtigte sich jetzt der Laterne und schritt vorauf. Sie wandte sich zur rechten Seite des Hofes. Die Mauer, welche hier abschloß, stieß nicht unmittelbar an das Herrenhaus, in dessen Inneres die beiden jungen Leute eine Entdeckungsfahrt unternehmen wollten. Sie lief etwa vier oder fünf Fuß von der Seitenwand des Hauses abstehend mit dieser parallel fort, einen schmalen Durchgang bildend, der auf einen hintern Hofraum führte – im tiefsten Hintergrunde schienen da Stallungen oder ähnliche Nebengebäude angebracht, und in der Mitte des Raumes streckte ein uralter hoher Birnbaum seine Äste in den feuchten Nachthimmel auf.

Traudchen, auf diesem Hofplatze angekommen, führte ihren Begleiter an der hintern Front des alten Hauses entlang. Hubert spähte dabei zu den Fenstern empor, ohne hier eine Spur von Lichtschimmer zu entdecken; sein Auge traf nur auf dunkle, dichtverschlossene Läden. Am Ende der hintern Front sprang ein achteckiger Turm in den Hofraum vor; als sie denselben erreicht hatten, wurde eine niedere Tür, die hineinführte, sichtbar.

Traudchen legte ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters.

»Nehmen Sie sich hier in acht,« sagte sie, »es führen drei Stufen hinab, an die Türschwelle.« Zugleich hielt sie die Laterne dicht an den Boden, so daß die Stufen sichtbar wurden.

»Also hier können wir hinein?« fragte Bender, die Stufen hinabschreitend. »In der Tat. die Tür ist nur angelehnt!«

Er schob die Tür behutsam auf; es führten unter ihr noch einige Stufen in einen dunkeln gewölbten Raum, der, als Traudchen mit ihrer Laterne unten angekommen war und ihn beleuchtete, sich als eine Art von Keller oder Rumpelkammer erwies, worin alte Fässer, Kisten und Körbe, Kartoffel- und Rübenvorräte und eine Menge von Gartengerätschaften untergebracht waren, welche letztere in einer Ecke lehnten.

»Der Ohm braucht dieses Gelaß, wie Sie sehen,« sagte Traudchen, »und er verschließt es gewöhnlich nicht; jetzt müssen wir in den Winkel dort links, und das wird Mühe kosten.«

Es kostete allerdings einige Mühe, namentlich über einen großen Haufen von Kartoffeln wegzukommen, die unter den Füßen nicht standhielten, sondern tückisch fortkollerten, so daß Jungfer Traud einmal in die Knie sank und ein andermal, um nicht zu fallen, ihre Hand auf Huberts Schulter legte. Der Student schlang rasch und wie freundlich besorgt, sie im Gleichgewicht zu erhalten, seinen Arm um ihre Taille und drückte sie sanft an sich, indem er zugleich auf etwas verdächtige Weise sein Gesicht ihrer Wange nahe brachte.

»Monsieur Bender!« rief Traudchen, sich ihm entziehend, aus, »wenn Sie unartig werden, laufe ich mit der Laterne davon und lasse Sie hier im Dunkel zurück. Sie mögen dann sehen, wie Sie wieder herauskommen!«

»Unartig, Traudchen? Ich wollte Sie nur auf unserm gefährlichen Wege vor dem Fallen bewahren!«

»Ich bewahre mich schon selber. Lassen Sie sich das gesagt sein, Monsieur Bender.«

»Gut. Dann lassen Sie uns jetzt mit biederm Handschläge und einem herzhaften Kuß Frieden schließen.«

Sie machte eine sehr entschlossen abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Glauben Sie, ich wäre mit Ihnen gegangen,« sagte sie schmollend, »wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich jeden Augenblick mich davonmachen und Sie in einer verzweifelten Lage in dem alten Bau, wo Sie nicht ein noch aus wissen, zurücklassen kann?«

»Ich dachte, Sie wären mitgegangen, weil Sie auf mein überaus redliches und lammfrommes Gemüt vertrauten.«

»Was solch ein Student sich einbilden! Jetzt klettern Sie nur vorwärts; dort in die Ecke müssen wir hinein, und da müssen Sie die leere Tonne beiseiteschieben und die alten Spaten und Rechen fortstellen.«

Hubert folgte ihrer Weisung und arbeitete möglichst rasch und möglichst geräuschlos, die Ecke freizuschaffen, welche Traudchen ihm andeutete. Als dies geschehen, zeigte sich bei dem Schimmer der Laterne eine in die Mauer eingelassene, wie diese Mauer selbst mit Kalk überweißte Tür.

»Hier können wir hinein«, sagte Traudchen.

Die Klinke im Innern ließ sich in der Tat mit Leichtigkeit heben, und leise in ihren rostigen Angeln knirschend, klaffte die Tür auf, während Staub und Spinnweben von oben auf den Rücken des hastig vorwärts schreitenden Studenten rieselten. Die beiden jungen Leute, Hubert, dem Traudchen die Laterne übergeben, voran, schritten jetzt eine steile Wendeltreppe empor. Als sie die Höhe des eisten Stockes erreicht hatten, zeigte sich ihnen zur Linken eine offene Bogenwölbung. Als Hubert den Schein der Laterne hindurchfallen ließ, wurde ein weiter Raum, ein Vorplatz, sichtbar, an dessen Wänden altergeschwärzte Bilder in dunkeln Rahmen hingen. Der Student drang leisen Schrittes in diesen Raum vor, während Traudchen auf der Schwelle der Bogenöffnung stehen blieb. Tief im Hintergrunde des Raumes wurde, als Hubert die Laterne erhob, eine breite Treppe mit dunkelm Holzgeländer sichtbar, wahrscheinlich die Haupttreppe des Hauses, die zu dem Portal in der Vorderfront führte. In der Wand rechts zeigte sich eine breite Flügeltür, deren Einfassung aus reichgeschnitztem Holzwerk bestand. Hubert winkte Traudchen heran, diese trat schüchternen Fußes leise zu ihm.

»Sollten wir die Tür öffnen können, ohne Geräusch zu machen?« sagte er. »Versuchen wir's«, versetzte sie, indem sie leicht die Hand auf den Drücker des altertümlich ziselierten Schlosses legte. Der Drücker wich, die Tür begann sich zu öffnen, aber sie knarrte sehr vernehmlich in den Angeln.

»Pst, Traudchen, lassen Sie mich das tun«, sagte der Student, und indem er den Türflügel faßte, stieß er ihn mit einem schnellen kräftigen Ruck auf.

Die Tür stand jetzt weit offen, ohne auch nur einen Laut von sich gegeben zu haben.

»So muß man das machen!« flüsterte Hubert, »und wenn wir an Stufen kommen, wo es hinabgeht, so denken Sie daran, immer nur mit den Fersen auf den äußersten Rand zu treten, dann bleibt alles still.«

»Der Monsieur Bender scheint Übung darin zu haben«, sagte Traudchen spöttisch.

»Oh, es lernt sich manches!« erwiderte Hubert lächelnd.

Unterdessen waren sie in einen großen Saal getreten. Der Schein der Laterne fiel auf alte Sessel mit zerrissenen Überzügen, die an den Wänden gereiht standen, auf braune Ledertapeten, auf einen mächtigen Kamin mit schönem, weit in den Raum vorspringenden Rauchfang, den als Karnatiden zwei Steinfiguren trugen, welche den kölnischen Bauer und die kölnische Jungfrau, die Schildhalter des reichsstädtischen Dreikronenwappens, darstellten. Um die Stirn des Rauchfanges lief eine Reihe zierlich gearbeiteter kleiner Wappen, alles dick mit weißer Tünche überzogen. Ein größer ovaler Tisch stand in der Mitte des Saales, und über demselben hing ein mächtiger altfränkischer Kristallustre. Dem Eingang gerade gegenüber verlor sich der Blick in die dunkle Tiefe eines von dem Laternenlicht nicht erreichten Erkers.

»Es riecht hier brandig,« sagte Hubert, der bis an den Tisch vorgeschritten war, während Traudchen an der Tür stehengeblieben »spüren Sie das nicht auch? Und da hier keine Spur von Kohlen öder Asche vorhanden,« fuhr Hubert fort, »so muß der Ruß im obern Stockwerke durch ein Feuer entzündet und den weiten Schlot hinab bis hierher niedergefallen sein.«.

»Es muß also im obern Stock ein Feuer brennen«, fiel Traudchen ein.

»Da, wo wir unten vom Hofe aus einen Lichtschein wahrzunehmen glaubten,« fuhr Hubert fort, »kommen Sie hinauf!«

Jungfer Traud schien nicht mehr ganz den Mut zu haben, den sie anfänglich zu der Entdeckungsfahrt mitgebracht. Sie zögerte.

»Nun, kommen Sie!« sagte Hubert.

»Mir graut,« versetzte sie. »Lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen.«

»Woran denken Sie! Jetzt bin ich erst recht versessen auf die Entdeckung, was da oben, vorgehen kann.«

»Mir fällt eine, greuliche Geschichte ein,« flüsterte Jungfer Traud, indem sich ihr glänzendes Auge erweiterte und aus ihren Wangen die Farbe wich, »eine Geschichte von einem, der nachts in ein altes Schloß gekommen ist, und da ist er in einen hellerleuchteten Saal geraten, in welchem Herren und Damen in altmodischer Tracht stumm um einen Tisch gesessen haben, essend und trinkend, und wenn sie getrunken haben, dann ist eine blaue Flamme aus dem Becher geschlagen, und es sind lauter längst, längst tote Menschen gewesen.«

»Hören Sie auf mit Ihren Spukgeschichten, Jungfer Traud, mir graut schon so, daß ich aus lauter Angst mich dicht an Sie schmiegen werde, wie ein furchtsames Kind an seine Mutter«, sagte schelmisch Hubert, indem er noch einmal versuchte, Traudchen zu umschlingen. Sie entschlüpfte ihm leise lachend. Hubert fuhr fort: »Jetzt kommen Sie vorwärts, hinauf; nun müssen Sie schon mit mir aushalten bis ans Ende; ich gebe Ihnen die Laterne nicht zurück!«

Mit diesen Worten verließ Hubert den Saal, schritt hastig über den Vorplatz vor demselben, und als er sich wieder auf der Wendelstiege befand, auf der er bis hierher vorgedrungen, begann er mit verdoppelter Vorsicht emporzusteigen. Jungfer Traud, welche sich Wohl hütete, im Dunkel allein zurückzubleiben, hielt sich ihm dicht auf den Fersen.

So kamen sie leise steigend bis an eine ganz ähnliche Bogenöffnung wie die, durch welche sie eben auf den Vorplatz im eisten Stock geschritten – nur mit dem Unterschiede, daß diese hier mit einer Tür, die aber weder Schloß noch Riegel zeigte, verschlossen war. Hubert drückte erst leise, dann stärker daran – aber sie gab nicht nach; stärkere Kraftanstrengungen dagegen zu versuchen, war nicht rätlich. Vielleicht war sie von innen fest verriegelt.

Hubert stand einen Augenblick, wie sich besinnend, was zu tun. Dann legte er plötzlich den Finger auf den Mund und flüsterte, zu Traudchen sich niederbeugend: »Mir ist, als hörte ich reden ... Pst ... hören Sie nichts?«

Traudchen antwortete nicht – aber sie wies mit ihrem Zeigefinger über Huberts Kopf fort in die Höhe.

Hubert folgte mit den Augen der Richtung, in welcher sie deutete, die Treppe hinauf. Dann schlug er rasch einen Mantelzipfel um die Laterne, und nun wurde bei der um die jungen Leute entstehenden Dunkelheit doppelt sichtbar, was Traudchen eben bemerkt und worauf sie gedeutet hatte.

Es drang ein schwacher Lichtschimmer von oben her die Wendelstiege herab. Der Schimmer lag bleich und dämmerig auf der Mauerfläche, die über der nächsten Wendung der Treppe sichtbar war.

Hubert drang jetzt, ohne sich lange zu besinnen, keck vorwärts, weiter hinauf, Traudchen aber überkam eine unwillkürliche Angst. Sie blieb wie gefesselt stehen.

Nach einer Pause, während deren das junge Mädchen die Schläge ihres eigenen Herzens hatte vernehmen können, erschien Hubert zurückkommend, oben auf der Treppe wieder – er winkte heftig mit der Hand. »Folgen Sie mir doch, kommen Sie, Traudchen – nur kühn vorwärts – kommen Sie rasch!« flüsterte er hinab.

Traudchen ermannte sich und stieg empor. Nachdem die Treppe noch eine Wendung gemacht, zeigte sich dem jungen Mädchen eine kleine Fensteröffnung, die etwa anderthalb Fuß im Gevierte haben mochte und durch welche heller Lichtschein fiel. Das Fenster gingen das Innere des Hauses hinein.

Hubert deutete Traudchen an, ihr Gesicht dem Fenster nahe zu bringen, und indem die letztere sich auf den Zehen erhob, gelang es ihr, in den Raum zu blicken, aus welchen der Lichtschein hervordrang. Sie zog sogleich das Gesicht wieder von den Scheiben zurück, um mit der Miene der äußersten Überraschung Hubert anzublicken.

Dieser legte den Finger auf den Mund und brachte zu gleicher Zeit sein Ohr der Decke des Fensterchens nahe, wo eine der kleinen bleigefaßten Scheiben zerbrochen und ausgefallen war.

Jungfer Traud dagegen war noch ganz Auge. Sie blickte mit weit aufgerissenen Lidern in ein Gemach von mittlerer Größe, das viel wohnlicher eingerichtet war, als der Zustand des übrigen Gebäudes es erwarten ließ. Den Boden bedeckte ein Teppich, die Wände, bis zur halben Höhe mit Holz getäfelt, zeigten oben blanken weißen Estrich, mit dem sie bis an das Gesimse belegt waren, und am oberen Ende, wo ein kleiner französischer Kamin sich befand, flackerte ein lustiges Holzfeuer, das einen hellen Schein in den Raum warf. Auf einem runden, dem Kamin nahegerückten Tische standen außerdem zwei altfränkische gewundene Leuchter mit brennenden Wachslichtern. Auf den Stühlen mit hohen Rückenlehnen von Rohrgeflecht, die sich an den Wanden zeigten, lagen Kleidungsstücke und allerlei Gegenstände, wie sie Personen um sich verbreiten, die eben von einer Reise einkehren und nun mit Mänteln, Hüten, Fußsäcken und Etuis die Räume füllen, welche sie betreten.

Vor den tiefen Fensternischen zeigten sich dicht zusammengezogene Vorhänge von schwerem Stoffe.

Vor dem flammenden Kamin aber saßen zwei Gestalten, in lebhafter Unterredung begriffen.

Die eine der beiden Gestatten war eine Dame, die nachlässig auf der Hälfte eines Kanapees ruhte, welches, um einen fehlenden bequemen Fauteuil zu ersetzen, zwischen dem runden Tische und der Kammecke dem Feuer nahegerückt war.

Ihr gegenüber an der andern Seite des Feuers, auf einem der Stühle mit den hohen Rückenlehnen, saß ein Mann, der seine Füße in bequemer Lage dem wärmenden Scheine der Flammen entgegenstreckte.

Die Dame stand in reiferm Alter; ihr Gesicht hatte ernste, scharf ausgeprägte Züge, in denen sich mehr Klugheit und Entschlossenheit als Wohlwollen und weibliche Milde spiegelten. Die hohe Stirn war stark gerundet, die Nase gebogen, und so bildete das Profil eine Linie, die dem Segment eines Kreises zu nahe kam, als daß diese Frau je hatte von großer Schönheit sein können. Und doch hatte ihr Antlitz etwas Edles, Vornehmes, und ihre ruhige, selbstbewußte Haltung, ihre Bewegungen erhöhten diesen Eindruck. Obwohl, ihr Gesicht und ihre Haltung nichts von Spuren des Alters verrieten, zeigten doch ein paar grauschimmernde Locken, welche unter einer kleinen, mit Spitzen besetzten Haube hervortraten, daß sie über die Mittagshöhe des Lebens weit hinaus sei und an der Schwelle des Alters stehe.

Sie war in eine Robe von schwarzer Seide gekleidet, über welcher sie einen dunkeln, mit braunem Pelz besäumten Überwurf trug, dessen weite Ärmel von den Ellenbogen an den Unterarm freiließen.

Der Herr ihr gegenüber wandte den lauschenden jungen Leuten den Rücken zu. Sie konnten nur aus seiner kräftigen und in den Schultern breiten Gestalt schließen, daß auch er in reifem Jahren stehe. Er trug ein dunkelgrünes Kleid, über dessen Kragen ein starker Zopf niederhing; zu seiner Rechten auf dem Tische lag ein Hirschfänger mit breiter Koppel und ein dreieckiger, mit schmaler Goldborte besetzter Hut.

Während Jungfer Traud mit ihren weit aufgerissenen Augen diese Beobachtungen machte, horchte Hubert Bender voll Spannung auf die Worte, welche die beiden fremden Menschen vor dem Kamin miteinander sprachen.

»Davon kein Wort mehr, Gebharde!« sagte der Mann vor dem Kamin mit einer volltönenden, etwas rauhen Stimme, die durch Anstrengungen in Wind und Wetter von ihrem ursprünglichen Metall verloren zu haben schien, und mit einem etwas fremdländisch klingenden Akzent. »Davon kein Wort mehr! Als Capitaine des chasses zu Chantilly konnte ich dieses vermaledeite Frankreich erträglich finden. Seitdem aber der Herzog von Condé zum Teufel gejagt, Chantilly geplündert und meine Kapitanerie wie jede andere vernünftige Einrichtung, die den Pöbel in seinen Schranken hielt, von der Kanaille über den Haufen gestürzt ist, sprich mir von keiner Rückkehr dahin! Ich sage dir, das ganze schöne Frankreich ist ein Tollhaus geworden, in welchem die Narren frei find und die Vernünftigen zu Tode hetzen, die sich nicht haben beizeiten retten können. Ich gehe nicht dahin zurück.«

Die Dame antwortete etwas, das nicht laut genug gesprochen wurde, um es verstehen zu können.

»Sie überschätzen meinen Einfluß, Wilbrand,« sagte die Dame dann nach einer Pause.

»Aber der Tolle ...«

»Der Tolle haßt mich, weil ich zwischen ihn und eins seiner Opfer getreten bin.«

»So tritt zurück aus dieser gefährlichen Position, und bedinge dir dabei aus, daß er dir deinen Willen tue.«

Die Dame stützte ihre Stirn auf ihre Hand, so daß ihre grauen Locken über ihre Weißen schmalen Finger niederfielen; so blickte sie eine Zeitlang nachdenklich in die Flammen des Kamins.

»Es wäre ein Seelenverkauf!« sagte sie endlich.

Der Mann ihr gegenüber zuckte die Achseln.

»Ah bah! Lassen wir es. Ich werde nach zwei oder drei Wochen mich dem Tollen vorstellen, und du wirst dann alles geordnet haben«, sagte er mit großer Bestimmtheit.

»Es ist auch nicht das allein,« fuhr die Dame mit einem Seufzer fort, »es ängstigt mich der Gedanke ...«

»Doch nicht etwa, daß man mich erkennen könnte?«

»Und wenn es so wäre?«

»Torheit! Die Zeit, das Leben und meine Schramme haben mich vollständig verwandelt. Und wieviel lebt denn noch von meinen alten Kumpanen und Bekannten dort? Es werden ihrer verzweifelt wenig sein! Dem alten Stier, dem Eggenrode kann ich aus dem Wege gehen. – – Der Gedanke, daß man mich erkennen könnte, ist es auch eigentlich nicht, was dich ängstigt«, fuhr der Mann nach einer Pause fort. »Es ist etwas anderes!«

»Und was sollte es sein?« fragte sie mit resigniertem Tone.

»Der Gedanke, mich in deiner Nähe zu wissen.«

Sie antwortete nicht.

»Gestehe, Gebharde, ist es nicht das?«

»Wenn es Ihnen Vergnügen macht, es zu hören – nun ja, allerdings.«

Der Mann legte die Arme auf der Brust übereinander, streckte behaglich noch weiter seine Füße aus und versetzte: »Ich kann es dir einmal nicht ersparen. Also mache deine Einleitungen. Du kennst meinen Willen. Du hast von einem Opfer gesprochen, das du dem Tollen bringen müßtest – welches ist das?«

»Ein junges Mädchen.«

»Natürlich!«

»Die Tochter eines seiner Beamten. Ich habe sie in mein Haus aufgenommen, um sie vor ihm zu schützen.«

»Laß sie unter ihr Dach zurückkehren, und das übrige geht ihn an!«

Die ältliche Dame antwortete nicht, sondern legte sich tief in ihre Kanapeecke zurück.

»Ist sie sehr hübsch?« fragte der Capitaine des chasses.

»Mehr als das – sie ist schön!« »Und sonst?«

»Sanft und harmlos, ein Wesen, das jedem Teilnahme einflößt; meinem Manne ist sie unentbehrlich geworden, und jedenfalls...«

Sie endete nicht, und der Mann ihr gegenüber fiel ein: »Ich errate, was du sagen willst: jedenfalls zu gut, des Tollen Beute zu werden. Nun, es braucht ja auch nicht dahin zu kommen. Hast du sie in diese Gefahr gestürzt, um deine Verwendung für mich zum Ziele zu führen und mir die Stellung zu verschaffen, die ich begehre – dann werden sich schon Mittel ausfindig machen lassen, sie vor ihm zu retten. Die Sache wird nun einmal nicht anders zu machen sein; ohne daß du ihm solch einen Gefallen erzeigst, wird er freilich schwer darauf eingehen, etwas für mich, deinen Schützling, zu tun.«

»Das ist leider nur zu wahr,« versetzte die Dame nach einer kleinen Pause, »und da auch ich fürchte, daß das junge Mädchen, wenn sie länger in meinem Hause bleibt, meinem Neffen Franz den Kopf verrückt, der ihr schon viel zu tief in die Augen geblickt zu haben scheint ...«

»Nun, dann besinne dich nicht lange!« fiel der Mann lebhaft ein.

Indem er diese Worte sprach, öffnete sich lautlos eine Tür im Hintergründe des Raumes, und ein düster blickender Mann in schwarzem Kleide, mit kleiner gepuderter Perücke trat ein, der mit gemessenen Schritten hinter den Sitz der Dame trat und ihr einige Worte zuflüsterte.

»Mein Wagen erwartet mich jetzt,« sagte diese darauf, zu dem Manne in Jagduniform gewendet.

»Soviel ich weiß, haben wir alles, was wir uns zu sagen hatten, gesagt und abgesprochen«, versetzte der Mann ihr gegenüber. »Nach drei Wochen etwa...«

Die Dame unterbrach ihn hier, denn sie wandte ihre Aufmerksamkeit einem vierten Wesen zu, welches sich seit einigen Augenblicken in dem Gemache anwesend gezeigt hatte.

Dieses Wesen war eine schöne, große Dogge mit langem zottigen Haar, der Gestalt nach an die Hunde vom St. Bernhard erinnernd, aber größer und schwerer. Auch war ihre Farbe eine andere als die jener berühmten vierfüßigen Philanthropen; der Hund war ganz weiß, bis auf einen schwarzen Flecken auf dem Oberkopf.

Das Tier hatte bis jetzt unter dem runden Tische gelegen, an dem die Sprechenden saßen; bei dem Eintritt des schwarzgekleideten Mannes, der offenbar ein Diener war, hatte es sich erhoben, war dem letzteren entgegengekommen und hatte, wie um ihn zu begrüßen, seine Hand beleckt. Während der letzten Worte des Herrn und der Dame am Kamin hatte es sich gähnend gereckt, dann eine Runde durch das Zimmer zu machen begonnen, aber plötzlich stillstehend, hatte es seinen Kopf erhoben, das kleine Guckfenster, hinter welchem die Lauscher standen, ins Auge gefaßt, und jetzt, indem es sein Rückenhaar sträubte, stieß es ein dumpfes Knurren aus.

Jungfer Traud sowohl wie Hubert waren bei dieser feindlichen Demonstration mit den Köpfen zurückgefahren.

»Machen wir, daß wir fortkommen!« flüsterte der Student hastig in das Ohr seiner Begleiterin.

Traudchen bedurfte dieser Aufforderung nicht. Aber vielleicht führte sie dieselbe zu eilig, mit zu wenig Vorsicht jedes Geräusch zu vermeiden, aus. Denn wahrend sie die nächsten Stufen hinabeilte und Hubert langsamer und gefaßter, dafür auch geräuschloser, ihr folgte, ließ drinnen der Hund ein paarmal ein tiefes, dumpftönendes Gebell hören.

Als Hubert, der die Stufen jetzt dem trotz Nacht und Dunkelheit förmlich hinabfliegenden Traudchen nach – die Laterne hatte der Student unter seinem Mantel geborgen gehalten – als Hubert an der obersten, der verschlossenen Bogentür, die aus dem Stiegenturm ins Innere des alten Hauses führte, vorüberkam, hörte er drinnen das Auftreten rascher Schritte. Als er ein Stockwerk tiefer den Absatz erreicht hatte, wo die andere, untere Bogenführung ins Innere führte, vernahm er, wie in der Höhe über ihm die verschlossene Tür entriegelt wurde und aufflog – gleich darauf hörte er den Hund hinter sich her die Stiegen herabgeschossen kommen.

Hubert Bender war ein mutiger junger Mann – es war jedoch sehr natürlich daß in diesem Augenblick etwas wie Schrecken und Angst ihn überkamen. Doch verlor er die Geistesgegenwart nicht; er hoffte, daß er den untern Kellerraum werde erreichen und dessen Tür hinter sich werde zuschlagen können, bevor ihn seine Verfolger eingeholt hatten; und für den Fall, daß dies nicht gelang, wickelte er im Hinunterstürzen einen Zipfel seines Mantels um den linken Arm ... er dachte vielleicht unwillkürlich an Hermann Gryn und die Art, wie er nach der alten kölnischen Sage seinen Löwenkampf bestanden.

In der Tat gelang es ihm, bevor er eingeholt war, die Tür, die in das Kellergelaß führte, und durch welche Traudchen sich eben vor ihm gerettet hatte, zu erreichen; in dem Augenblicke jedoch, wo er über die Schwelle schritt, schoß der Hund dicht neben ihm her, ebenfalls in diesen Raum hinab, wandte sich dann mit Blitzesschnelle und stürzte sich zähnefletschend auf den Studenten, indem er ihm die Vordertatzen auf die Brust setzte und seine Zähne in den Hals des jungen Mannes schlug. Der Überfall war so heftig und unerwartet, daß Hubert rücklings zu Boden fiel und mit dem Kopfe auf die unterste der steinernen Stufen der Wendeltreppe aufschlug, während die Laterne zur Seite geschleudert wurde und erlosch. Das große zornige Tier hielt ihn so gefaßt, daß er an eine Verteidigung nicht denken konnte – eine abwehrende Bewegung hätte ihn in Lebensgefahr gebracht – es hing von der Gnade seines Siegers ab, wie tief er seine Zähne in die Gurgel des unglücklichen jungen Mannes eindrücken wollte. Auch fühlte dieser seine Sinne schwinden, es wirbelte und tanzte ihm vor den Augen – er sah nur noch in plötzlichem hellen Lichtschein ein häßliches, wildblickendes Männergesicht, dem ein Auge fehlte, und über dessen linke Wange eine breite Narbe lief, dicht über seinem eigenen Angesicht; aber es war ihm, als ob dieses fürchterliche Gesicht wie im Kreise sich über ihm bewege, dann, als ob es sich ins Riesige verzerre, und darauf zerfloß es wie ein Bild im Traume; und nun schlossen sich zugleich des unglücklichen Studenten Augen, und er sah nichts mehr.

Unterdessen war Traudchen, über alle die Gegenstände, welche den Kellerraum erfüllten, fortstolpernd, ein paarmal in die Knie stürzend, und dann wieder in ihrer Angst jäh sich aufraffend, war Traudchen, sagen wir, glücklich aus dem Turm heraus und in den Hof gekommen. Sie flog über den Hofraum fort, um das alte Haus herum, über den zweiten größern Hof, unter den Torbogen des Vorbaues und hier die zwei Stufen hinauf, welche in ihre Wohnung führten. Erst als sie hier angekommen war und die Tür ihrer Wohnung aufgeworfen hatte, wagte sie es, tief Atem holend, sich umzusehen nach ihrem Fluchtgefährten. Sie erblickte ihn nicht – sie wartete eine Minute – zwei – der Student kam nicht. Traudchen fühlte jetzt all ihre Angst zurückkehren. Weshalb kam er nicht – war ihm ein Leids geschehen, hatte man ihn ergriffen, hielt man ihn zurück ...? Traudchen war ein zu entschlossenes Mädchen, um diese Fragen auf sich einstürmen zu lassen und dabei müßig stehen zu bleiben. Sie schritt zurück – leise und unhörbar schlich sie den Weg, den sie gekommen war, um das Haus, wieder auf den dahinterliegenden Hof. Sie hörte nichts – aber sie sah einen Lichtschimmer fallen aus einem der Fenster im obern Teile des Treppenturmes. Als sie den Fuß dieses Treppenturmes erreicht hatte, stand sie lauschend still. Dann rief sie leise: »Bender! Hubert – wo sind Sie?«

Kein Laut kam zur Antwort.

Die äußere Tür, welche in den Turm führte, stand offen, so wie eben, als Traudchen hindurch geflohen war. Wahrzunehmen war in der Dunkelheit des Kellergelasses nichts.

Traudchens Angst verdoppelte sich. Ohne sich jetzt viel darum zu kümmern, ob sie Geräusch mache oder nicht, eilte sie abermals in ihre Wohnung zurück, um sich ein Licht zu holen. Was schadete es jetzt, wenn man sie wahrnahm! Sie konnte die Unwissende spielen und sagen, sie habe ein Geräusch gehört und wolle nachsehen, wie es entstanden. Mit einem flackernden Öllicht – die Laterne hatte ja der Student an sich behalten – kam sie bald nachher in den Turm zurück. Sie stieg hinab, sie hielt das Licht hoch in der Hand – es knisterte noch von der feuchten Nebelluft draußen, durch welche es getragen war, aber es beleuchtete keinen andern Gegenstand in dem düstern Räume als die Vorräte, Kisten und Geräte des Ohms Gymnich. Traudchen arbeitete sich darüber fort, bis an die Tür in der Ecke, die in den Turm hinaufführte. Diese Tür war jetzt verschlossen. Es war von innen der Riegel vorgeschoben. Traudchen versuchte ihn zu heben, wie es früher nach ihrer Anweisung Hubert gemacht; der Riegel leistete Widerstand; er mußte jetzt von innen irgendwie festgemacht sein. Traudchen legte nun das Ohr an die Tür; sie hörte oben im Turm noch eine Tür sich bewegen; dann hörte sie nichts mehr. Aber wie sie so lauschend den Kopf gesenkt dastand, erblickte sie etwas, das sie mit dem höchsten Schrecken erfüllte. Es war Blut. Eine Blutlache stand auf der untersten, in den Kellerraum vorspringenden steinernen Stufe der Wendeltreppe.

Traudchen zitterte an allen Gliedern. Was war das? Hatten sie ihn ermordet?!

Sie stand und stand, und wußte vor Schrecken und fürchterlicher Angst nicht zu Gedanken und Überlegung zu kommen. Was sollte sie tun, was beginnen? Zu den Nachbarn laufen und Lärm schlagen und die Menschen auffordern, mit Gewalt in das alte Haus einzudringen? . .. sollte sie davonstürzen und den Ohm im Weinhause aufsuchen und ihn zu Hilfe rufen für den Studenten? ... Sie konnte sicher sein, den Ohm jetzt trunken zu finden, und wenn sie ihm gestand, was sie mit dem Studenten zusammen gewagt, dann war sie vor Mißhandlungen nicht sicher. So entschloß sie sich für das erstere; sie stürzte davon und gedachte den ersten besten Nachbar herbeizurufen. Als sie so atemlos dahinflog und eben den Torbogen des Vorbaues erreicht hatte, öffnete sich von außen, von dem Platze her, das Einlaßtürchen, und eine Gestalt im Mantel, eine Laterne in der Hand, trat ein.

»Der Ohm!« schrie Traudchen auf, »um Gottes willen, Ohm Gymnich ...«

Der Mann hob seine Laterne empor, und sie dicht bis vor das Gesicht des jungen Mädchens bringend, das in allen Zügen Entsetzen ausdrückte, sagte er mit einer Zunge, die entweder von Natur oder unter dem Einflüsse jener Stoffe, welche mehr zur Erhöhung der Gesichtsfarbe als der Besonnenheit beizutragen Pflegen, etwas schwer Lallendes hatte:

»Traud ... wat eß ...?«

Traudchen erfaßte krampfhaft den Arm ihres Oheims und überschüttete ihn mit einer Mitteilung, welche der Alte, sie mit stieren, beinahe verglasten Augen anstarrend, vernahm.

»Ohm, wenn Ihr nicht sogleich geht und dem jungen Menschen helft,« sagte sie entschlossen, »so laufe ich und rufe die Nachbarn herbei.«

Ohm Gymnich sah sie zuerst wieder stier, wie verwundert an; dann brach er plötzlich in eine Flut von Flüchen aus; aber er ging in seine Schlafkammer, öffnete dort das Schlüsselspind, und nachdem er mit einem Bunde rasselnder alter Schlüssel zurückgekommen war, ergriff er seine Laterne, welche noch brennend dastand. Dann verließ er seine Wohnung und ging quer über den Hof, dem Holzschuppen zu ...

Jungfer Traud hat uns früher gesagt daß der Ohm von dort aus in das alte Haus einzudringen pflegte, wenn er nach langen Zeitabschnitten es einmal betrat. Sie wollte ihm folgen, aber mit einer gebieterischen drohenden Bewegung befahl er ihr, zurückzubleiben.


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