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Der Retter Huberts trat nach einer Weile, wie von einer ganz andern Seite des Gartens herkommend, den heraneilenden Leuten mit den Hunden und der Laterne entgegen.
»Ihr werdet nichts von ihm entdecken,« sagte er zu den Leuten, »im Garten ist er nicht, ich habe überall gesucht – ist das Baptist, der da die Laterne trägt? Leuchte Er mir, Baptist, ich will ins Haus zurück.«
Er stieg die Treppe hinauf und ging oben über einen Korridor; dann öffnete er eine Flügeltür und trat in ein ovalrundes großes Zimmer, das mit einem hohen Schirm an der Tür vor dem Luftzug geschützt war. Als der junge Mann um den Schirm herum trat, sah er die Freifrau Gebharde vor sich, die in einem bequemen Lehnsessel ruhte, zwischen dem Ofen und einem großen Tische, der mit Büchern, Papieren, Aktenheften und allerlei andern auf eine männliche Beschäftigung deutenden Gegenständen bedeckt war. Im Hintergrunde des Zimmers schritt der lange Freiherr auf und ab, bewehrt mit einer frischen, steilrecht in die Luft ragenden Zipfelmütze, welche, da der große Raum von einer Schirmlampe nur sehr unvollständig beleuchtet war, bald in den dunkeln Hintergründen des Gemachs wie ein untergehender Mond erblich, bald, wenn die lange Figur sich dem Lichtkreise der Lampe wieder nahte, aufs neue blendend auftauchte.
Dame Gebharde fixierte den Eintretenden eine Weile; sie sah ihm scharf und mißtrauisch forschend ins Gesicht. Der junge Mann zeigte alle Spuren, daß dieser Blick ihm drückend und unangenehm sei; er wechselte unter demselben die Farbe und warf seine Augen im Zimmer umher, als ob er irgendeinen Gegenstand suche, auf dem er sie mit einem wenn auch nur schwachen Anschein von Interesse haften lassen könne.
»Franz!« sagte die gestrenge Freifrau endlich.
»Meine Tante?«
»Solltest du denn nicht recht gut wissen, wer eigentlich Marie Stahl von hinnen sendet? Solltest du in der Tat verblendet genug sein, mir Vorwürfe darüber zu machen, daß ich etwas tue, was ich keinen Tag länger aufschieben darf? Soll ich Marie Stahl etwa hier lassen und still zusehen, wie sie meinem Neffen den Kopf verdreht, wie die stille Unschuld ihn mit kleinen koketten Manövern in ihr Netz einfängt, bis er umstrickt ist und ...«
»Meine Tante, was sagen Sie da ... welche Behauptung, welcher Vorwurf ...«
Der lange Freiherr Lactantius hatte seinen maschinenhaften Wandelgang im Gemache auf und ab unterbrochen; er stand hinter dem Rücken des Neffen still, schaute ihm mit seinem langen blassen Gesicht, seinen runden Augen, seiner hohen Zipfelmütze wie ein Gespenst über die Schulter, und warf einen Blick auf seine Gattin, in welchem diese etwas von schadenfroher Schlauheit hätte aufblitzen sehen können, wenn sie überhaupt es der Mühe wert gefunden, nach ihm zu sehen. So aber würdigte sie keinen der beiden einer weitern Beachtung, weder den bleichen Gatten noch den hochroten Neffen, und fuhr mit derselben eisigen Kälte fort:
»Sie soll mir nicht die Pläne zunichte machen, welche ich für deine Zukunft habe und in kurzer Zeit ausgeführt sehen will!«
Der Neffe wandte sich mit einem Achselzucken des Unwillens ab und warf sich wieder in seinen Sessel, ohne ein Wort zu entgegnen.
»Darf ich fragen, welches die Entschlüsse sind, welche meine gnädige Tante, wie Sie eben andeuteten, für meine Zukunft gefaßt hat?« bemerkte er dann mit großer Bitterkeit.
»Es ist kein Grund da, sie dir vorzuenthalten«, versetzte die Dame. »Lactantius,« wandte sie sich an diesen, »es wird gut sein, wenn du dich in dein Schlafzimmer begibst. Nach deinem Anfall von vorhin haben deine aufgeregten Nerven der Ruhe nötig. Begib dich zu Bett.«
Lactantius von Averdonk nahm schweigend wie ein wohlerzogener Knabe, den man zum Zimmer hinausschickt, einen Leuchter von einem Spiegeltisch und zündete ihn an der Schirmlampe seiner gestrengen Gebieterin an. Dann murmelte er ein demütiges »Gute Nacht« zwischen den Zähnen und verschwand durch eine Nebentür.
»Ich meine,« hub, nachdem sich die Tür hinter dem abziehenden Gatten geschlossen hatte, die gestrenge Dame wieder an, »deine Erziehung könnten wir, nachdem du dich mehrere Jahre auf den Universitäten und nun noch zwei auf Reisen umhergetrieben hast, so ziemlich als vollendet betrachten. Über die Früchte dieser Erziehung will ich nicht reden, obwohl sich manches darüber sagen ließe; deine lange Abwesenheit von hier, wo noch die gute alte Zucht und Sitte herrscht, hat wenigstens nicht dazu beigetragen, dich vernünftiger und einsichtiger zu machen. Aber das gehört nicht gerade jetzt zur Sache. Zur Sache gehört, daß es jetzt Zeit ist, dich zu vermählen, Zeit, daß du dir eine Häuslichkeit schaffst, und daß du dich in den Stand setzest, an der Verwaltung unserer Güter teilzunehmen, die dir nach meinem Tode, wenn du dir meine Zufriedenheit erhältst, zufallen sollen.«
»Das heißt, ich soll Hedwig von Wrechten heiraten und mit ihr Amelsborn beziehen, um es zu verwalten.«
»Das heißt es!«
»Meine teuerste gnädige Tante!« sagte Franz von Ardey ruhig, »ich bin von Herzen gern bereit, in dem tristen alten Kastell zu Amelsborn zu wohnen und es Ihnen auf Probe zu verwalten; ich würde es tun, wie nur der gewissenhafteste Rentmeister es kann... es wäre mir jedoch lieber, unendlich lieber, wenn ich es allein beziehen könnte, ohne Hedwig Wrechten mitnehmen zu müssen!« Dabei stieß der junge Mann einen tiefen Seufzer aus und blickte, die Arme verschränkend, äußerst melancholisch zu Boden.
»Daraus wird nichts,« sagte die Tante sehr bestimmt, »der Aufenthalt –« Sie unterbrach sich, denn draußen auf dem Korridor wurden Schritte laut, und nachdem die Tür sich geöffnet, trat Baptist hinter dem verdeckenden Schirm hervor.
»Habt ihr ihn gefunden? Habt ihr seine Spuren?« rief ihm Gebharde von Averdonk mit leidenschaftlichem Eifer zu, indem sie aufsprang und ihrem Diener zwei Schritte entgegenging.
Baptist zuckte die Achseln: »Ihn nicht – Spuren wohl, gnädige Frau! Er ist über die Gartenmauer entkommen.«
»Die Pest über ihn!« sagte die Dame, indem ein Blick wilden Zornes aus ihren Augen flammte. »Hat der Bursche denn Flügel?!«
»Die hat er nicht gebraucht, er hat eine Leiter im Garten gefunden und ist damit an einer Seite hinauf-, an der andern bequem wieder hinuntergestiegen.«
»Eine Leiter? So wird der Andres, der nachlässige Schlingel, sie draußen haben stehen lassen. Er läßt immer die Gartengerätschaften und was er am Tage braucht, über Nacht im Garten umherliegen; kommt es noch einmal vor, so soll er weggejagt werden. Hat man den Menschen verfolgt?«
»Der Jäger und der Andres sind ihm mit den Hunden in den Wald nach. Aber sie werden ihn schwerlich drin finden. Es ist eine Nacht, so dunkel ...«
»Nun ja, ihr wißt euere Dummheit und Faulheit immer zu entschuldigen. Geh!«
Baptist wandte sich, und während er abging, sagte er in mürrischem Tone: »Wir haben getan, was wir gekonnt haben!« und dabei schnitt sein häßliches Gesicht mit den hängenden Mundwinkeln eine höchst respektwidrige höhnische Fratze. Franz vernahm seine Erwiderung sehr wohl, Tante Gebharde schien sie völlig zu überhören; sie stützte den Kopf auf die Hand und schien ganz mit der Nachricht beschäftigt, welche Baptist ihr eben gebracht hatte.
»Sie wollten mir sagen, weshalb ich nicht allein auf Amelsborn wohnen darf,« nahm der junge Mann nach einer Weile das abgebrochene Gespräch wieder auf – »während ich doch unendlich lieber allein dort wäre als mit all den Ballkleidern, den Kapricen und den Hofdamenerfahrungen Hedwig Wrechtens. In der Tat, meine gnädigste Tante, Hedwig hat mir viel zu lange Zeit am Hofe des tollen Philipp gelebt, als daß ich je eine wünschenswerte Gattin darin sehen könnte, wenn ich überhaupt daran dächte, zu heiraten.«
»Das sind deine Vorurteile, an die ich mich nicht kehren kann. Du weißt auch lange genug recht wohl, daß du Hedwig heiraten wirst, um dich mit dem Gedanken daran vertraut gemacht zu haben. Es ist unnütz, weiter davon zu reden. Und weshalb du nicht allein in Amelsborn wohnen sollst? Weil es nicht gut ist für dich!«
Der junge Mann schwieg, in seinen Zügen den unverkennbaren Ausdruck eines tiefen zornigen Verdrusses.
»Weshalb«, begann er nach einer Pause wieder, »haben die Tugenden Hedwigs nicht während meiner langen Abwesenheit größere Anerkennung gefunden und ihr einen andern Mann verschafft? Ich habe ihr lange genug Zeit gegeben, sich einen zu erobern!«
»Da es bekannt ist, daß sie für dich bestimmt, wäre es seltsam gewesen, wenn ein anderer Mann sich ihr genähert haben sollte!«
Franz schwieg wieder eine Weile. »Meine Tante,« sagte er dann, »ich bin bereit, in allem Ihren Willen zu erfüllen und auch die Partie mit Hedwig Wrechten in Überlegung zu ziehen; ich will gleich morgen nach Amelsborn übersiedeln – aber dann lassen Sie Marie Stahl hier! Wenn ich fort bin, liegt ja für Sie kein Grund mehr vor, das arme Geschöpf zu verstoßen.
Der junge Mann brachte diese Worte mit dem Tone der äußersten Bitterkeit vor.
»Ihr werdet nach Amelsborn ziehen, wenn ihr vermählt seid«, versetzte Gebharde streng und bestimmt. »Und das wird geschehen, sobald die nötigsten Einrichtungen dort getroffen sind. Ich werde sie beschleunigen lassen, damit alles in Ordnung ist, bevor vielleicht die Kriegsstürme über uns hereinbrechen, die schwarz und dunkel genug über uns hangen. Die Franzosen drängen, wie nur heute geschrieben wird, dem linken Rheinufer zu, und wenn sie erst so weit sind, werden wir sie leider bald genug auch hier haben.« »Sie wissen ja,« bemerkte Franz ironisch, »der tolle Philipp rüstet!«
Frau Gebharde antwortete nicht darauf. Sie begnügte sich, ihrem Neffen anzudeuten, daß sie mit ihm an einem der nächsten Tage nach Ruppenstein fahren werde, um dort am Hofe mit ihm einen Besuch zu machen.
Da Franz hierauf schwieg, erstarb das Gespräch.
Die Gebieterin von Dudenrode versank eine Weile in tiefe Gedanken; dann erhob sie sich, um sich in ihre Gemächer zurückzuziehen. Sie befahl Franz, ihrer Jungfer zu klingeln, und verabschiedete ihn dann, indem sie ihm die Hand zum Kusse reichte. Franz entfernte sich. Es mochte etwa zehn Uhr sein, als er die Zimmer betrat, welche ihm in dem alten Gebäude zu seiner Wohnung angewiesen waren. Er stellte das Licht auf den Tisch im ersten Zimmer, dann verließ er es wieder, horchte lange auf den düstern und stillen Gang hinaus, der sich bis an das Ende des ganzen Flügels hinabzog, und schritt endlich so geräuschlos, wie es ihm möglich war, diesen Gang hinunter. Es war allerdings viel zu dunkel ringsumher, als daß ein Fremder hier noch irgend etwas hätte wahrnehmen können; aber Franz von Ardey schien hier eben kein Fremder zu sein, sondern selbst bei äußerster Dunkelheit ganz bewunderungswürdig genau Bescheid zu wissen; und so sah er denn auch zu seiner Linken eine Tür, wo ein anderer jetzt gewiß nichts von einer Tür bemerkt haben würde. Sie war aber doch da, so gewiß und richtig, daß, als Franz daran klopfte, ein »Herein« hinter derselben erscholl, und daß der junge Mann durch sie in ein wohnliches, guterleuchtetes, guterwärmtes und mit außerordentlich vielen Gegenständen erfülltes Zimmer treten konnte, welch letztere darauf deuteten, daß hier so etwas wie die oberste Zentralstelle und das Generaldirektorium eines ausgedehnten Haushalts sich befinde. Namentlich zeigten sich an den Wänden außerordentlich viel Schlüssel, die, mit Etiketten versehen, in drei langen Reihen auf einem großen schwarzen Brett hingen; außerordentlich viel ineinander geschachtelter Waschkörbe, aus deren oberstem ein Haufe blendend weißer Wäsche hervorschimmerte; außerordentlich viel schwerer, schwarzer Plätteisen, welche in einer Reihe auf einer Fensterbank standen und aussahen wie kleine dunkle Kriegsschiffe mit kriegerisch drohendem Schnabel, die, nachdem sie den Tag über in einer heißen Aktion gewesen, hier in Schlachtlinie vor Anker gegangen. Den Mittelpunkt dieses ganzen häuslichen Verwaltungsapparats bildete jedoch eine große Kaffeekanne von blaugeädertem Porzellan, die auf einem runden Tische in der Mitte der Stube stand und vor allen andern Kaffeekannen in der Welt die besondere Eigenschaft voraushaben mußte, daß sie sich durchaus nicht von ihrem Ehrenplatze auf dem Tische in der Mitte des Gemaches verdrängen und in irgendeinen Schrein einschließen ließ; wenigstens war es allen Bewohnern von Haus Dudenrode bekannt, daß sie den lieben langen Tag von morgens früh bis abends spät just hier und nirgendwo anders stand.
An dem Tische mit dem hartnäckigen Kaffeegeschirr saßen zwei Frauen; die eine ist unsern Lesern bekannt; denn wenn auch ihre Züge einen andern Ausdruck tragen als in dem Augenblicke, wo wir sie zum ersten Male erblickten, wenn auch ihr Antlitz von einer tiefen Trauer überschattet ist und die Linien um ihren Mund und ihre schöne Stirn das Gepräge eines nagenden Kummers tragen, so ist das Antlitz Marie Stahls doch eins von denen, die, wenn man sie einmal im Leben erblickt hat, sich unauslöschlich dem Gedächtnis einprägen. Als Franz von Ardey eintrat, erhob sie das Haupt, welches sie auf ihren Arm gestützt gehalten; ein Blick voll tiefer Trauer und Wehmut flog ihm entgegen und senkte sich dann wieder; der junge Mann trat an sie heran, reichte ihr die Hand und sagte: »Gottlob! daß ich Sie allein finde, Marie!«
Allein war sie nun freilich nicht; es war noch ein ganz stattliches, in seinen äußern Umrissen keineswegs derart und also, daß man es hätte allenfalls übersehen können, angelegtes weibliches Wesen da; und dieses Wesen zögerte auch keinen Augenblick, seine Gegenwart geltend zu machen.
»Baron Franz,« sagte es, »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie voraussetzten, wir wären vielleicht nicht allein? Gott soll mir beistehen, Baron Franz, wenn ich ihn jemals abends spät noch hier in meine Stube kommen lasse, den gottlosen Menschen, den Baptist; bei Tage, wenn er einen Auftrag von der gnädigen Frau hat, kann ich ihm meine Schwelle nicht verbieten, dann kommt er freilich ab und zu ...«
»Und macht Ihnen den Hof, Frau Eckenscheid ... räumen Sie's nur ein ...«
»I du liebe Zeit,« versetzte die korpulente Dame, »darauf bin ich nicht stolz – na, genieren Sie sich nicht und reden Sie nur mit der Marie, was Sie ihr noch zu sagen haben, vielleicht ist sie aufrichtiger gegen Sie, wie sie es gegen mir war, denn gegen mir war sie es nicht, und wenn ich eine Silbe davon verstehen tue, was das eigentlich für Geschichten sind, die da oben beim Baron Lactantius vorgefallen und wo die Marie doch dabei war, als es ausgebrochen ist, und wo der kranke Student, wie Baptist sagte, die gnädige Frau mit einem Holzscheid hat schlagen wollen, und wo der verwegene Mensch geblieben sein kann, wenn er nicht wie 'n Rauch zum Schornstein hinausgeflogen ist, so will ich nie nicht selig werden; aber ich bin eine alte Frau, Baron Franz, und Eckenscheid seliger sagte immer: »Deine Eltern haben dir einfach erzogen, Margareth, schlicht und recht, und viel gelernt, außer was das Hauswesen und die Kindererziehung und was die Leinewand angeht, hast du nicht, aber dir bescheiden stille halten, Margareth, das kannst du«, und was das anbetrifft, so hatt' er wohl recht, und wenn Sie jetzt der Marie noch etwas anzubefehlen haben, da sie ja morgen am Tage nach Hause reisen soll, weil ihr Vater, der arme Mensch, krank geworden ist, was immer eine Schickung des Himmels ist, besonders wenn einer mit die Getränke und die Herzstärkungen einen unvorsichtigen Lebenswandel führt, so will ich mir in meinen Eckstuhl setzen, und dann sind Sie ungeniert, Baron Franz.«
»Tun Sie das, gute Eckenscheid«, sagte der Baron Franz, und ließ sie unbehindert ihren Vorsatz ausführen, sich mit einem wollenen Wamsungeheuer, an dem sie strickte, in eine Ecke zurückzuziehen, er hatte unterdes Mariens Hand in die seine gefaßt und seine Blicke tief in die ihren gesenkt.
»Was tun wir, Marie?« sagte er jetzt mit einem tiefen Seufzer.
»Was tun!« versetzte sie mit zitternder Lippe. »Was tun ... wie können Sie noch so fragen, Franz ... Wir müssen scheiden und uns vergessen!«
Dabei barg das junge Mädchen ihr schönes Antlitz in ihren Händen und helle Zähren perlten durch ihre schmalen weißen Finger hindurch.
»Marie,« sagte Franz, indem er eine ihrer Hände von ihrem Antlitz zog und einen leisen Kuß auf die rosigen Fingerspitzen drückte, »Marie, ich bitte Sie, sprechen Sie nicht so ... Vergessen – das ist ein frevelhaftes, sündliches Wort, das gegen Ihre Pflicht ist, denn Sie haben Pflichten gegen mich, Marie, Sie sind meine Braut, und Ihre heiligste Pflicht ist, niemals von mir zu lassen!«
Marie schüttelte den Kopf.
»Es war ein kindischer Traum, dem wir uns hingaben, welche Kraft haben Sie, Franz, die Welt anders zu machen wie sie ist? Der Graf ist unser Herr, und mein Vater ist sein Beamter, der ihm gehorchen muß, will er nicht den Hungertod sterben. Wenn ich heimkehre, wird er mich an seinen Hof bringen müssen, weil der Graf es befohlen hat, daß ich eine Dienststelle dort einnehme; und wenn mein Vater nicht gehorcht, so wird er seinen Willen mit Gewalt durchsetzen. Und bin ich dort gewesen, dann ist mein guter Ruf dahin! Ein Asyl habe ich nicht, keins, keins in der Welt! So bleibt mir nichts übrig, als ohne Ziel und Hoffnung die Flucht zu ergreifen. Und Sie, Franz, was können Sie wider den Willen Ihrer Tante? Sie sind so arm wie ich, so verlassen wie ich, wenn die harte, herrschsüchtige Frau ihre Hand von Ihnen abzieht. Sie sind ihr Geschöpf; sie hat Sie erziehen, studieren, reisen lassen. Sie haben kein Recht auf ihr reiches Erbe; Ihrer Tante freier Entschluß wird es Ihnen, dem Sohne einer Halbschwester, die keine Ansprüche hatte, nur übertragen, wenn Sie ihren Willen tun. Wollen Sie sich in traurige, unermeßliche Kämpfe, in Not und Elend stürzen meinethalb?«
»Ja, Marie,« rief Franz, die Hände ballend und aufspringend, leidenschaftlich aus, »ja, das will ich; mit allen diesen bösen Mächten, mit diesen verhärteten Herzen, diesen Seelen, die der Dämon der ruchlosesten Selbstsucht treibt, will ich kämpfen. Trotz wider Trotz und Härte wider Härte. Bleiben uns nicht Wege zur Rettung? Ich will dich zu deinem Vater begleiten. Wir werden ein Mittel ausfindig machen, dich zu verbergen. Wir werden diesen Studenten dort finden, dem ich auf deine Bitte den Weg zur Flucht wies. Es waltet ein Geheimnis über den Beziehungen meiner Tante zu ihm; weißt du, welche Macht es uns verleihen wird, wenn wir uns dieses Geheimnisses bemächtigen? Es liegt ein Dunkel über der Vergangenheit meiner Tante, das ich nie habe ergründen können; es muß eine Geschichte voll Leidenschaft und vielleicht auch Schuld und strafbarer Verirrung sein. Wer weiß es, ob nicht dieser fremde Mensch, den ich zu deinem Vater gewiesen habe, den Faden dazu in der Hand hält? Es ist zwar nichts, was mich berechtigt, es zu glauben; und doch ist es möglich.«
Aber auf das junge Mädchen schienen seine Worte keinen ihre Trauer lindernden Eindruck zu machen.
Laß mich büßen,« sagte Marie nach einer Pause, »büßen, daß ich töricht war. Daß ich meine Augen verschloß wider das, was sie sehen mußten und nicht sehen wollten. Daß ich hörte, was du mir sagtest, und meinem Herzen nicht gebot, als es begann, in einer wahnsinnigen unglücklichen Leidenschaft zu schlagen. Es ist zu spät; ich kann es mir nicht aus dem Busen reißen; aber vielleicht kann ich es ersticken nach und nach; vielleicht besiegen es meine Vorsätze; vielleicht auch bricht mein Herz darüber, und darum will ich zu Gott bitten!«
»Marie,« fuhr hier Franz von Ardey fast zornig auf, »du brichst mir das Herz durch deine Reden; du bist feig, Marie; du bist kleinmütig; du betrachtest mich wie einen schmachvollen Menschen, der seine Schwüre vergessen und treulos fortwerfen kann, was einst sein Höchstes und Heiligstes war. Du hängst selbstsüchtig deinem Kummer nach, und an meinen denkst du nicht ...«
In diesem Augenblick wurde das Zwiegespräch der beiden Liebenden durch einen Ausruf der Frau Eckenscheid unterbrochen. Die würdige alte Dame hatte ihre Behauptung, daß sie es verstehe, bescheiden still zu sitzen, aufs glänzendste gerechtfertigt. Sie war nämlich, wenn es anders nicht die barste Verstellung und Heimtücke war, was jedoch bei einer so harmlosen Seele nicht im entferntesten wahrscheinlich, über ihrem großen wollenen Wams eingenickt, und in ihrem Schlummer hatte sie allerhand Töne gemurmelt und gegurgelt, die man mit dem nächtlichen Raunen und Gackern bekannter Wasservögel, wenn sie schlummern, hätte vergleichen können. In diesem Augenblicke aber wachte sie auf und rieb sich die Augen, und dann rief sie verwundert aus:
»Aber, Baron Franz, Sie bringen ja das arme Kind, die Marie, zum Weinen! Sie machen ihr das Herz schwer, Baron Franz, und das sollen Sie nicht, denn das leide ich nicht, und jetzt weise ich Ihnen, mit allem Respekt zu sagen, die Tür, daß Sie sich schlafen legen, und die Marie auch, die es nötig hat, von wegen der Reise morgen, wo noch so viel zu tun ist, und die Kragen und Röcke noch nicht einmal gebügelt sind, und es alleweile elf Uhr ist ...«
»Ich gehe schon, ich gehe schon, Frau Eckenscheid«, unterbrach Franz von Ardey die Springflut von Worten, welche ihn bedrohte; und nachdem er Marien die Hand gedrückt und nachdem Marie zu ihm aufgeblickt mit einem Blick voll unbeschreiblicher Innigkeit und Trauer, verließ er rasch das Zimmer.