Levin Schücking
Eine dunkle Tat
Levin Schücking

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Zweites Kapitel

In einem frischen, wiesengrünen Talgrunde, eine kleine Stunde oberhalb Diependahls, an demselben Murrbache, liegt das Rittergut Grünscheidt, das zu der Zeit, von der wir reden, etwas vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts, von einem seit einigen Jahren verwitweten Herrn und seinem einzigen Sohne bewohnt wurde. Herr von Driesch war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, klein und ziemlich starken Körperumfangs, was aber der außerordentlichen Lebendigkeit seines Geistes und aller seiner Bewegungen keinen Eintrag tat. Er hatte eine von der Erziehung seiner meisten Standesgenossen sich vorteilhaft unterscheidende Bildung erhalten; während jene, als Jagdjunker an irgendeinen kleinen Fürstenhof gegeben, durch allerlei Mühsal, schlimmer als die Prüfungen eines Johanniterordensnovizen, unter häufig beigezogener Hilfe der Hundepeitsche zum »fermen Weidgesellen« ausgebildet wurden, war Herr von Driesch als ein jüngerer Sohn zu den Jesuiten in die Schule gegeben worden und hatte von ihnen ein sehr gutes Latein und viel mehr Griechisch gelernt, als er später, nach dem Tode des älteren Bruders, zur Regierung seiner Güter anwendbar fand. Trotzdem war er bis jetzt ein Liebhaber der Humaniora geblieben und übersetzte Anakreon und Vergils Eklogen im Geschmacke der zweiten schlesischen Dichterschule; er war Mitglied des Pegnitzer Blumenordens und seinen Mitschäfern unter dem Namen »der Säuberliche« bekannt.

Im Besitze einer größeren Bildung und Wissenschaft, als die seiner meisten Standesgenossen war, mochte Herr von Driesch seiner Erhaltung auch größere Rücksichten schuldig zu sein glauben; er hatte zum Symbolum, weil ein solches jeder ausgezeichnete Mann damals führen mußte, die Eule der Minerva gewählt, die sehr tiefsinnig auf einer kahlen Leimrute saß und die Spatzen betrachtete, die festgeklebt an den kleinen Stangen flatterten. Darüber stand: »Wer sich unnütz in Gefahr begibt, kommt darin um.« Der Hofrat, Freiherr von Katterbach, der jedem Menschen etwas Schlechtes nachsagte, behauptete, daß Driesch an jedem Hasen vorbeischieße, sei lauter Sympathie. Dies war eine abscheuliche Verleumdung; es war nichts anderes, als eine sehr lebendige Phantasie, die Herrn von Driesch bei einzelnen Gelegenheiten auf Augenblicke zaghaft erscheinen ließ.

Er war ein gutmütiger Mann, solange es nicht wider seinen eigenen Vorteil lief, und liebte den Frieden und das Geld, aber von allen Dingen Zänkereien und Feindschaften am wenigsten. Ein wahres Herzeleid war ihm deshalb, daß ihm so nahe, drüben auf Diependahl, der Hofrat saß, der die Unverschämtheit hatte, seine Koppeljagd auf dem Mühlberge, einem Distrikte inmitten beider Güter, in Anspruch zu nehmen und ihm nebenbei alles mögliche Leid zu tun. – Schon die Familie von Schemmey, die vor den Katterbachs Diependahl und die andern Güter des Hofrats besessen, hatte den Prozeß über die Koppeljagdgerechtsame auf dem Mühlenberge mit den Grünscheidtern begonnen; aber sie hatte dem Rechte seinen Lauf gelassen und die Driesch waren im Besitze geblieben. Der Hofrat dagegen, obwohl er mit Driesch verwandt war und diesen nach seinem Tode zum Lehnsfolger gehabt haben würde, schritt, nach langjährigem Harren auf ein Urteil, auf dem Wege der Tat vor, ließ auf dem Mühlenberge keine Rebhuhnfeder übrig und versicherte, er werde jeden totschießen, der sich mit Hund und Flinte in seiner Hofesaat sehen lasse.

Laßt nur den ersten Jagdtag kommen, hatte Herr von Driesch schon oft mit Würde gesagt; ihr sollt sehen, wie ich mich werde zu maintenieren wissen. – Der erste Jagdtag war nun gekommen. Herr von Driesch erhob sich vor Sonnenaufgang, weckte seinen Sohn Johannes, einen vielversprechenden Jüngling von bedeutender Körperkraft, fast weißen Haaren und mit einem Gesichte, das an Ausdruck rührender Kindlichkeit mit einem weinenden Säugling wetteifern konnte, und stieg, von ihm, einem Jäger und seinen Hunden begleitet, auf den Mühlenberg.

Oben angekommen mußten Johannes und der Jäger sich auf eine Wallhecke stellen und die Jagdsignale der Grünscheidter blasen. Die Töne schmetterten hell und lustig durch die frische, duftige Morgenluft; eine Fanfare nach der anderen rollte über die tauglänzenden Gebüsche, durch die dünnen, flockigen Nebelwolken, die auf den Talgründen standen und jetzt, unter den Strahlen der aufsteigenden Sonne sich kräuselnd, leise verflatterten. Hoch in den Lüften schmetterten die Lerchen, die Hunde liefen suchend den Hang hinan und hinab, brachen schnuppernd durch den Ginster und die Brombeerranken. Dann schlugen sie plötzlich laut an und machten wütende Sätze im Kreise umher, denn der Pegnitzschäfer hatte aus lauter Vergnügen über die schöne Natur und den herrlichen Morgen seine Flinte in die Luft abgeschossen.

»Ei, ei! Ew. Gnaden!« sagte der Jäger, indem er das Horn absetzte und ein saures Gesicht machte.

»Was willst du, Anton? Blas' weiter! Immer lustig drein! Wir wollen uns maintenieren, wir wollen den jüngsten Besitz wahren! Hurra! Geblasen, Johannes!«

»Aber, Gnaden Papa, jetzt wird's Zeit; die Diependahler könnten kommen; der Rauch steht schon lange über ihrem Dach!«

»Ei was, die schlafen, die Sonne ist ja kaum auf; und laß sie kommen! Noch eins, Anton! So, immer zu! Hurra, hoho!« – Herr, von Driesch feuert den zweiten Schuß in die Luft ab; dann sprang er in die Höhe und sang, so heiter wie eine Meise im Hanfsamen, mit improvisierter Melodie seine jüngste Uebersetzung aus dem Vergil:

O Tityrus, der du im Buchenschatten ruhst, Auf magrem Haberrohr ein Liedchen pfeifen tust, Wir fliehn die Grenze jetzt und süße Vatermatten, Indes du, Tityrus, ganz faul gelehnt im Schatten, Läßt widerhallen Feld und Wald, das ist gewiß, Vom Lob der schön' und zarten Amaryllidas! – Hurra!

»So, Anton, immer lustig fort! Das ist die possessio novissima, Johannes! Merk' das, Junker! Der Teufel hole die Diependahler! 's ist doch ein wunderschöner Morgen. Da, Anton, lade die Flinte mal wieder.«

Anton zögerte mit dem Laden, da er gar nicht für angemessen fand, seinem Herrn in der abscheulichen Angewohnheit Vorschub zu leisten, das gute Pulver in die Luft ab- und so sich selber anzufeuern. – »Ew. Gnaden, Ew. Gnaden!« sagte er kopfschüttelnd, »wir können's anderswo nötig haben!«

»Um Gottes willen, Papa!« rief jetzt Johannes, indem er von der Wallhecke heruntersprang.

»Was ist's, Schlingel? Du fürchtest dich? Junker, willst du blasen!«

In diesem Augenblick knallte seitwärts ein Schuß – noch einer. – »0 Gott, die Juno, die Juno!« rief Anton, der oben stand; »Herr von Katterbach haben die Juno totgeschossen!« Er griff nach seinem Gewehr und wollte in das nahe Gebüsch eilen.

»Bleib hier, Anton, hier!« rief Herr von Driesch, der blaß geworden war und zu zittern anfing. Die Zweige des Gebüsches öffneten sich, und Türk, der andere Hund, kam heraus mit blutigem, zerschossenem Hinterlauf und hüpfte winselnd auf seinen Herrn zu. Gleich darauf wurden die tauspritzenden Aeste höher noch einmal bewegt, schlugen auseinander und heraustrat der Hofrat, Freiherr von Katterbach, mit verzerrten Mienen, ohne Mütze, die Haare wild ums Gesicht und den Kolben seines Gewehrs an die Wange schlagend; hinter ihm stand lachend der lange Philipp.

Jetzt schrie Herr von Driesch laut auf und nahm Reißaus, Johannes hinter ihm her. Ein Schuß fiel. »Fort, fort, Papa!« rief Johannes. Papa bedurfte des Sporns nicht. Ein donnerndes Hoho! schallte hinter ihm her.

»Mord, Mord!« keuchte er und lief durch frischgepflügte Ackerschollen, durch Gestrüpp und Dorn, über Gräben und Hecken in die weite Welt hinein.

Der letzte Schuß war jedoch kein Mordversuch gewesen; es war Anton, der, wütend geworden über den Schmerz seines Lieblings Türk, die gelbe Bracke des Hofrats totgeschossen hatte und dann gleichfalls davonlief, ins nächste Gebüsch hinein. Der Hofrat und Philipp folgten nun diesem in raschem Laufe. – Trotzdem gönnte Herr von Driesch sich fürs erste keine Ruhe. Johannes, der längere Beine hatte, fand endlich Spaß an dieser Jagd. – »Gnaden Papa«, sagte er:

»Wir fliehn die Grenze jetzt und süße Vatermatten.«

»Schau einmal um, schau mal um«, sagte Herr von Driesch.

Johannes schaute um. – »Ich sehe niemand, Papa!«

Herr von Driesch blieb stehen und holte Atem. »In der Tat, niemand!« sagte er dann, nachdem er sein Auge hatte über die Gegend schweifen lassen. »Sie werden meinen, wir wären nach Grünscheidt gelaufen, und uns dahin folgen wollen; sie werden uns in unserm eigenen Hause erschießen wollen. O canina rabies! Aber wart', das soll euch betrügen. Johannes, da wir nun doch einmal auf dem Wege sind, so wollen wir gleich weiter gehen bis nach Bechenburg; wir können heut' abend da sein. Dann hat der Waldteufel, der Mörder doch seinen Weg nach Grünscheidt umsonst gemacht!«

Johannes war's schon recht, und beide wanderten weiter. Nach einer Weile hub Herr von Driesch wieder an: »Johannes, ich mag Bechenburg wohl!«

»Ja, Gnaden Papa, aber die Hexe!«

»Ist immer besser als solch ein Waldteufel. Ich denke, wir wollen auf Bechenburg fürs erste wohnen bleiben, Johannes.«

»Nein, Papa, auf Bechenburg sind lauter alte Binsenstühle.«

»Verwöhnter Schlingel, sollen wir uns in Grünscheidt totschießen lassen?«

Johannes antwortete nicht; nach einer Weile Trabens sagte er: »Wenn Papa mir den falben Fritze schenkt.«

»Den falben Fritz? Daß du ihn in drei Wochen zuschanden reitest? Nichts da. Aber ein Sofa will ich dir auf Bechenburg anschaffen.«

Johannes gab seine Einwilligung anfangs nicht zu erkennen. Je weiter aber die beiden Wanderer fortschritten und je müder die Gliedmaßen des Junkers wurden, desto mehr Wert und Reiz bekam für ihn das gepolsterte Möbel, worauf das Versprechen des Vaters lautete.

Nachdem sie etwa noch zwei Stunden schweigend zurückgelegt hatten, blieb er endlich stehen, um auszuruhen und sagte dann zögernd: »Aber es muß von Roßhaaren sein, Gnaden Papa!«

»O Junkerlein, wie wird es dir ergehen!« seufzte Herr von Driesch.

Die beiden Reisenden schritten fürder. Nachdem sie in einer kleinen Stadt Mittagsruhe gehalten und sich gelabt, erhob sich ein Zank zwischen beiden, weil Johannes durchaus verlangte, daß man Extrapost nehme, wogegen Herr von Driesch einwandte, daß er erstens noch heute und zweitens ungefährdeten Leibes und heiler Gliedmaßen auf Bechenburg ankommen wolle.

»Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, Johannes«, sagte Herr von Driesch.

Wege und Posten waren damals so, daß Johannes gegen diese Argumente endlich nichts mehr anzuführen wußte. Sie kamen nun in Westfalen hinein. Das Land zeigte sich ihnen anfangs von seiner schlechten Seite; es waren stundenlange Heiden, über die sie oft, um gerader zu gehen, auf wenig betretenen Schäferpfaden wandern mußten. Der Tag war heiß, und Herr von Driesch mußte häufig stehen bleiben, um sich die Stirn abzuwischen. Endlich gegen Abend zog ein Gewitter am Horizonte auf. Herr von Driesch war durchaus kein Liebhaber dieser Naturerscheinung; Das Toben der Elemente verschwendete alle seine Großartigkeit an ihn umsonst, denn er pflegte Türen und Läden schließen zu lassen und sich in den tiefsten Keller zurückzuziehen, um ein De profundis anzustimmen, solange er Gott in den Donnern hörte. Und nun auf offener Heide! Er schritt weit, weit aus; der Sturm begann, schwere Tropfen fielen einzeln auf seine Stirn, dicke Staubwirbel wehten über die Heide. Endlich war der Saum eines Gehölzes erreicht, dessen Aeste und Stämme gepeitscht wurden, als seien es schlanke Kornhalme. Johannes stellte' sich unter einen der nächsten Wipfel, Herr von Driesch aber hielt die Nähe der hohen Bäume zu gefährlich; er schritt wieder auf die Heide hinaus und legte sich der Länge nach in ein tiefausgefahrenes Wagengleis. Die Blitze schienen ihm alle bloß nach seinem Kopfe zu zielen, so nahe zuckten sie über die Erde hin. Ein prasselnder Donnerschlag schmetterte in den andern; – »Johannes, Johannes!« rief Herr von Driesch.

»Was soll ich, Papa?«

»Gott möge ihnen vergelten, was sie heute an mir tun«, stöhnte der geängstigte Schäfer der Pegnitz, die in dem tiefen Gleis von den Regengüssen nachgebildet wurde und um ihn rauschte – »O Johannes, mein lieber Sohn Johannes!« – Johannes kam heran. – »So, Kind, du verlässest mich nicht; du sollst Vater und Mutter ehren, Johannes; komm, tritt hierhin, über mich, auf beide Ufer von diesem Gleise – mit gespreizten Beinen, so – etwas weiter die Beine auseinander, so!«

»Aber, was hilft's? Ich werde naß und Gnaden Papa auch.«

»Tut nichts, mein Sohn, bleib' nur so stehen, Kind!«

»Nein, Papa, laß mich unter den Baum zurück.«

»Bleib, sage ich oder« – fuhr Herr von Driesch zornig auf; dann bekreuzigte er sich: »Gott verzeih' mir die Sünde!«

»Aber Papa, wenn ich nur wüßte, was es bedeuten soll?«

»Sollst es erfahren, nachher; steh nur, steh!«

»Soll ich den falben Fritze haben, Papa? – Ich kann's gar nicht mehr aushalten.«

»Nimm ihn, nimm ihn, lieber Sohn, Herzensjunge, aber steh!«

Johannes stand wie der Koloß von Rhodus in verjüngtem Maßstab, die Beine über seinen Vater spreizend, der unten im Gleise lag und nur zuweilen hin und her ruckte, wenn das Wasser in gar zu starken Güssen auf ihn zubrodelte; sooft aber ein Blitz und fast im Augenblicke darauf der Donnerschlag kam, schnellte er vor Angst aus der Flut in die Höhe wie ein Fisch an warmen Sommertagen. So verging fast eine halbe Stunde, worauf die Zwischenräume zwischen Blitz und Donner länger wurden und das Rollen des letztern aus knatterndem Rasseln in ein dumpfes und fernes Getöse überging.

»Gott sei Dank!« sagte Herr von Driesch; »laß mich jetzt aufstehen, Johannes!« Er erhob sich; sein Schäfername, der Säuberliche, war im eigentlichen Wortverstande beschmutzt, und alle Versuche, ihn wieder zu Ehren zu bringen, blieben ohne Erfolg.

»Papa,« sagte Johannes und schlenkerte rechts und links seinen Hut, um das Wasser daraus zu spritzen; »weshalb habe ich so stehen müssen, Papa?«

»Das will ich dir jetzt sagen, mein Sohn. Sieh, der Blitz trifft immer die höchsten Gegenstände und fährt an ihnen herunter in die Erde hinein, wo er den Donnerkeil stecken läßt. Hätte der Blitz nun heute hier einschlagen wollen, so wäre er unfehlbar in deinen Kopf, als den höchsten Gegenstand in der Nähe, geschlagen und hätte alsdann seinen weiteren Verlauf durch deinen Leib, ferner durch eines deiner Beine genommen und das Bein hätte ihn ganz unschädlich in die Erde abgeleitet.«

»O?!« sagte Johannes voll Verwunderung über die tiefe Naturkunde seines Vaters. – »Aber, Papa, ich wäre doch totgeschlagen?«

»Lieber Sohn, du hättest das neidenswerte Los gehabt, für deinen Vater den Heldentod zu sterben; dulce est pro patre mori!«

»Aber 's nächste Mal tu' ich's nicht wieder, Gnaden Papa,« brummte Johannes.


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