Ossip Schubin
Schatten
Ossip Schubin

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Ossip Schubin

Nepenthes.

Drückende, brütende, atemlose Schwüle! Ueber dem Himmel grauer Wolkendunst! –

Am fernen Horizont eine elende Hütte neben einem Holunderbusch, und vor ihr mit riesengroßen, blutroten Blüten am Ufer eines trüben Tümpels emporragend, eine Mohnstaude!

Es ist ein Tag, an dem sich die ganze Natur vergeblich nach einem kühlenden Lufthauch sehnt, und ein wundes Herz nach Thränen!

Keine Bewegung in der Luft – überall tote, stumpfe Stille! – Nur in den Blüten des Mohns ein leises Flüstern! –

Die Blüten erzählen eine Geschichte!

In alten Zeiten war's – damals als die Engel noch mit den heidnischen Göttern kämpften um die Herrschaft über die Welt.

Da lebte ein Mägdlein, das war rein wie frischgefallener Schnee und lieblich wie Sonnenschein. Dem begegnete Amor auf seiner leichtsinnigen Wanderschaft, schmeichelte sich zärtlich überredend bei ihm ein – und als es sich hingebend an ihn schmiegen wollte, da biß er das Mägdlein mutwillig in sein weiches, junges Herz und flog fort.

Tödlich getroffen sank das Mägdlein zu Boden! –

Da flatterte ein Engel aus dem Himmel nieder, um die Wunde zu heilen, die der Gott geschlagen, aber die Wunde war zu tief. –

Aus dem zerrissenen Herzen drangen drei Blutstropfen – und aus denselben erwuchsen große, rote Blüten. Der Engel berührte diese mit dem Finger und sprach: »Mögest du blühen, großen Schmerzen zur Linderung, müden Herzen zum Trost! Allem Leiden, das keine Heilung mehr finden kann auf Erden, soll eine große Gnade zu teil werden durch dich – die Vergessenheit!«

Kaum hatte der Engel die Worte gesprochen, so verschwand er!

Das traurige Mägdlein aber schlief! –


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