Ossip Schubin
Schatten
Ossip Schubin

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Die Galbrizzi.

Um meine Ohren saust und braust es, vor meinen Augen flimmert ein roter Schein, in meinem Herzen ist ein wildes Toben und Nagen und in meinem Kopf ein trauriges Gewirr! –

Ich trage die Hölle in mir, und die Leute nennen diese Hölle »Wahnsinn!« – sperren mich in eine nüchterne weiße Zelle mit Fenstern, die so hoch vom Boden entfernt sind, daß ich nicht zu ihnen hinaussehen kann, und durch die das Licht armselig zwischen eisernen Stangen hereinkriecht! – – –

Es ist alles so leer um mich herum – so leer! Meine Erinnerungen finden hier Raum, sich auszubreiten. Sie steigen aus meiner Seele und huschen durchs Zimmer – sie nehmen Form und Farbe an. Ein Mann mit einem wundersamen, todesbleichen Christuskopf und Fledermausflügeln nähert sich mir – dann eine schlanke, blasse Frau mit grünen Augen – und dort – in jenem schattendüsteren Winkel steht eine wunderbar holde Gestalt . . . eine Gestalt, die mir zulächelt und die Arme nach mir ausstreckt. – Durch das eintönig traurige Heulen und Toben, Schnauben, Krächzen und Kettenrasseln zieht sich eine süße, todestraurige Weise . . . ich horche und horche . . . dann ist es mir plötzlich, als krache etwas in meinem Kopf – als stürze mein Schädel ein – die holde Gestalt wankt . . . ein schrecklicher Geruch umgibt mich, ein Geruch von Verwesung und frischem Blut – die Gestalt ist verschwunden – das Lied verstummt! In meinen Ohren tost und braust es, und vor meinen Augen ist alles rot!

Sie sagen, ich sei irre – weil ich den Wunsch habe, mir das Leben zu nehmen, und weil ich viel intensiver sehe und fühle als die andern, dann auch, weil, wenn die Erinnerungen zu deutlich, wenn der Ekel in mir zu schwül und der Schmerz zu scharf wird, ich den Kopf gegen die Kanten meines Bettes schlage und in meine Hände beiße . . . um zu vergessen! An was? – ich weiß es nicht recht, weiß nichts mehr recht. Der rote Schein hat alles ausgelöscht! Seit einiger Zeit bin ich so matt, daß ich kaum aus meinem Bett bis zu einem Sessel kriechen – keine Brotrinde zerbeißen kann. Ich spreche nicht mehr laut zu der Frau mit den grünen Augen und antworte auf alles, was mein Arzt mich fragt: »Ja!« –

Da ich infolgedessen völlig seiner Meinung scheine, ist er mit sich übereingekommen, mich für einen sehr vernünftigen Narren zu halten; er leiht mir Bücher und hört mit aufmerksamem Lächeln zu, wenn ich ihm meine Meinung darüber vortrage. Er experimentiert an mir herum wie ein Mechaniker an einem besonders komplizierten Uhrwerk! –

Neulich brachte er mir ein paar beschriebene Blätter. Sie muteten mich seltsam an – ich las, so gut ich lesen konnte, während immer tiefere rote Schatten über das Papier huschten, und ich erinnerte mich . . . erinnerte mich . . .

Weiß nicht, warum er mich die Blätter zu lesen gezwungen hat. Um irgend eine grausame psychologische Neugier zu befriedigen vielleicht. In welcher Weise? Weiß ich auch nicht. Die Blätter habe ich selber beschrieben letzten Sommer – da sind sie!

 
F . . . bad, den 19. August 187 .

Es geht mir nicht aus dem Sinn, nein, gar nicht aus dem Sinn, das kleine Lied – ein ganz kleines Lied mit Worten, die mein Kopf nicht verstand – nur mein Herz.

Mir kam es vor, wie eine Weise, die mir die Engel gesungen im Himmel, in einer Sprache, die sie mit mir gesprochen, eh' sie mich verstießen – herunter auf die Erde.

O, wie mich das schmerzt im Herzen, im Kopf, im ganzen Leib – am allermeisten jedoch im Herzen. Das Herz schwillt in mir, und die Adern springen mir fast vor schrecklicher Sehnsucht – einer Sehnsucht, die das kleine Lied geweckt hat.

Warum kann ich's nicht vergessen! – – Aus einem offenen Fenster der Kaiserstraße drang's zu mir herüber auf Luftflügeln, die mit dem Duft erfüllt waren, der schöne und vornehme Frauen umgibt – den Duft muß ich auch gekannt haben im Himmel. Ich blieb wie versteinert und starrte in das Fenster und lauschte.

Ich setzte mich schließlich auf eine der grünen Bänke unter den sonnverbrannten Bäumen und horchte hinein, ob das Liedchen wohl wieder ertönen werde – aber umsonst! Gläser klirrten, und lautes ausgelassenes Lachen durchgellte die Luft, und Sessel knarrten, und seidene Kleider rauschten hastig, nervös und kokett. Das Lied aber blieb verstummt! –

Hie und da trat ein Mann an das Fenster und streifte die Asche seiner Cigarre in die Straße hinaus, erst ein kleiner mit verschlafenem Lächeln und jener schalen parfümierten Distinktion, die fast alle Dandies in ihrer ersten Jugend charakterisiert, eh' sie sich auch von ihrem Friseur und der Mode emancipiert haben, dann ein andrer mit einer gelben Abenteurerphysiognomie – einer jener dunklen Ehrenmänner, die ihren eigenen Namen nicht mehr genau wissen und nicht Gold, sondern nur manchmal die politischen Meinungen ihrer Freunde veruntreuen, – dann ein schlanker Jüngling mit einem Zwicker auf der gebogenen Nase und einer ängstlich höflichen Grimasse auf dem gelben Gesicht. Er hätte ebensogut ein Schnittwarencommis sein können, seiner Umgebung wegen hielt ich ihn jedoch für einen jungen Wiener Bankier. Dann sah ich eine Frau mit einem ausdruckslosen Gewohnheitslächeln, das zwei Falten in ihre gelben Wangen zog, mit hoch aufgenesteltem mattblonden Haar und scharfblickenden grünen Augen.

Die kann das süße, zärtliche Liedchen nicht gesungen haben – nein, die nicht! Dann hörte ich wieder das Rauschen eines Kleides, und der Schritt, der sich diesmal dem Fenster näherte, war leise und schleppend. Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn, ich wendete den Kopf von dem Fenster ab, sprang auf – und lief davon. –

Warum wollt' ich plötzlich nicht mehr wissen, wer das kleine Lied gesungen?

Ich brauche die Kur in F . . . bad, das heißt, ich bezahle die Kurtaxen. Das beschwichtigt das Gewissen meiner Tante, die mich als Eskorte hierher mitgeschleppt hat. Am selben Nachmittag, an dem ich das kleine Lied gehört, traf ich mit meiner lieben Anverwandten beim Thee zusammen in dem hübschen, stillen Garten des Doktor H., wo die schönsten Blumen zwischen den weißlichen Stämmen der hier landesüblichen Birken schimmern. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, ist eine noch immer schöne, etwas starke, blonde Frau mit steinernem Profil, steifem Rücken und abgezirkelter Nachlässigkeit in den Bewegungen, die ihr Verständnis für den echten bon genre ausdrücken soll. Sie hält ihre Augenlider stets schmachtend über den Augapfel gesenkt, und ihren Shawl vom Rücken herunter geschoben, verändert den Mund sehr wenig beim Reden, trägt zu weite Handschuhe, spricht vom Adel per »die Societät«, und von den Bürgerlichen per »diese Leute«.

Außer meiner Tante fand ich an dem Theetisch noch ein vierzigjähriges Fräulein mit achtzehnjähriger Laune und wahrhaft nervenstärkender Zufriedenheit – dann einen alten Junggesellen mit gefärbten Favorits und einem kurzen, als Dolman um seine Schultern drapierten Oberrock.

Das Fräulein hatte gerade eine komische Geschichte erzählt, als ich mich näherte, und der Junggeselle rief lachend: »Fräulein Rosa, Ihre Gesellschaft sollte im hiesigen Kurgebrauch vorgeschrieben sein. Sie würden mehr zur Heilung der epidemischen Melancholie beitragen, als alle eisenhaltigen Wasser.«

»Baron! Sie vergessen, daß Sie mir nicht den Hof machen,« rief das Fräulein mit einer lebhaften Geste.

Er ist Baron seit vorgestern, hat zwei Orden und schreibt ein Geschichtswerk. »Spät, spät, Graf Isolan,« rief er mir entgegen, als er mich erblickte. »Haben Sie vielleicht in der Kaiserstraße die Zeit vergessen?«

Ich starrte ihn an, ohne ihn recht zu verstehen, da fuhr er fort: »Ich habe Sie vor einer halben Stunde die Fenster der Galbrizzi anschwärmen sehen« – hier blinzelte er den Damen erst geheimnisvoll, dann wie vertraulich zu. »Es scheint, daß die Goldfiligrangräfin eine neue Eroberung gemacht hat.«

»Die kleine Galbrizzi, die belle aux cheveux d'or?« fragte meine Tante mit gedehnter Aussprache. »Sehr pikante kleine Intrigantin.«

»Intrigantin?« wiederholte der Junggeselle, kreuzte ein Bein über das andre und lehnte seinen Arm indolent über die Sessellehne. »Glauben Sie, daß sie Verstand genug hat zu einer Intrigantin, meine Gnädige?«

»Davon weiß ich nichts,« sagte meine Tante, und ich merkte ihrer steifen Haltung an, daß sie soeben jenen unsichtbaren Panzer höheren Anstandes angelegt hatte, den eine Frau ihrer Art stets umthut, sobald sie sich von einer gefallenen Mitschwester zu reden herbeiläßt, »davon weiß ich nichts, ich habe ihren persönlichen Umgang nie gesucht – ich nenne alle dergleichen Personen Intrigantinnen – es ist in anständiger Gesellschaft so schwer, diese Spezies zu titulieren.«

Ein Schauer überlief mich, und nur, damit sie nicht mehr von der Galbrizzi reden möchten, mischte ich mich ins Gespräch und sagte: »Haben Sie die sonderbare Komposition bemerkt, die der Skriwanek heute im Park spielen ließ?«

Meine Bemerkung fiel ins Wasser, niemand hatte sie beachtet, außer meiner Tante, die über meine Albernheit die Achseln zuckte.

»Was ist sie denn, diese Galbrizzi? Ist sie eine wirkliche Gräfin?« fragte Fräulein Rosa naiv.

»Kann sein,« erwiderte meine Tante mit Ueberlegenheit, »jedoch von der Gesellschaft geht niemand mit ihr um, das heißt, Sie verstehen mich – keine Dame.«

»Nun freilich, den Umgang junger Herren kontrolliert man nicht,« sagte der unternehmende Junggeselle und blinzelte mich noch einmal vielsagend an. Ich hätte ihm am liebsten sein impertinentes Monocle in die Augenhöhlen hineingestoßen.

Unterdessen fuhr meine Tante fort: »Sie ist schrecklich – wirklich genant, im selben Hause mit ihr zu wohnen. Bis in die Nacht währt das Klaviergeklimper und Gesinge in ihrem Salon – und dieses ewige lungensüchtige Gelächter und das Gläsergeklirr! – Ein Ton herrscht bei ihr! – Denken Sie nur, Fräulein, die Herren rauchen! – ich bin ausgezogen. Tiens baron, wer, glauben Sie wohl, ist jetzt der Begünstigte?«

Der Baron klopfte sich mit seinem feinen Spazierstöckchen die rechte Wade.

»Ersparen Sie mir die Antwort, meine Gnädige, es ist dies wirklich schwer zu bestimmen – wir wollen barmherzig sein gegen die Galbrizzi.« Er sagte das in einem Ton . . .!

»Herr Baron!« fuhr ich auf, schneidend, tragisch, albern, »Herr Baron, ich kann es nicht begreifen, wie Sie – ein ernster Mann, der Geschichte schreibt – sich dazu hergeben können, erbärmlichen Badeortsklatsch weiter zu befördern, um den Ruf einer armen Frau niederzumetzeln.«

»Alfons!« rief meine Tante strafend. –

Der unternehmende Junggeselle hingegen lachte laut, klopfte mir auf die Schulter und rief: »Prächtig, prächtig, mein junger Freund – Ihre Illusionen sind sehr schön, aber – nicht dauerhaft. Wenn Sie selbe behalten wollen, so müssen Sie sich in Ihr Zimmer einsperren und eine Photographie der Sixtina anschwärmen – eine Galbrizzi dürfen Sie nicht lieben.«

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang ich auf und eilte davon. Die grünen Birken streckten ihre Aeste zwischen mich und sie und rauschten mir mitleidig um die Ohren, damit ich das Zischeln nicht hören möchte – das Zischeln, das mir so wehe that!

Es mag wohl noch lange gedauert haben, ehe sie fertig wurden mit allem Bösen, das sie einander zu sagen hatten über die Galbrizzi. Gibt es doch nichts so Interessantes und Hochanregendes für anständige Frauen, als über unanständige zu reden! –

Ich eilte durch die heißen, staubigen Straßen, kopflos, ziellos, wie man es thut, um einem Gespenst oder einer Erinnerung zu entfliehen. Das kleine Lied ließ mir keine Ruhe; immer deutlicher klang es durch den schläfrig duftigen Augustnachmittag – das süße Lied, das mir so wehe that!

O, es ist nicht möglich – nicht möglich! – Was bekümmere ich mich eigentlich um die Galbrizzi? Habe ich denn ein Recht, sie zu verteidigen? Sie ist eine verblühte Kokette, die sich ihre verflogene Jugend und Schönheit künstlich ins Gesicht hinein zu pinseln versucht, die sich des Morgens im Rollstuhl fahren läßt wie eine Lungensüchtige, und des Abends in ihrem Salon tanzt wie eine Närrin, – die allein, das heißt mit einer Kammerjungfer, einem Diener und zwei Möpsen einen Badeort besucht und da außer zwei geheimnisvollen weiblichen Ruinen, die ihre aristokratischen Prätensionen auf ihre illegitime Abkunft von irgend einem Potentaten stützen, nur eine ziemlich bunte Männergesellschaft um sich versammelt.

Neulich stand sie mit zweien ihrer Verehrer vor einem Spitzenladen, und auf eine vergilbte Alençon deutend, rief sie lachend und kokett: »Celle-là vous pouvez me l'acheter si vous voulez.«

Am nächsten Tag war die Spitze verschwunden.

Sie lebt von den Geschenken ihrer Freunde! Welcher der Begünstigte ist, weiß man nicht. Einer aber muß es sein, – so behaupten die Leute, und meine Tante hält mir eine Strafpredigt über die Verworfenheit meines Geschmacks und nennt meine erste Liebe »jahrhundertgemäß«.

Meine erste Liebe! . . . .. Mir graut . . . . Es ist ja nur das Lied – das Lied, das mir meine . . . das mir die Engel vorgesungen haben im Himmel, ehe ich . . .

 
20. August 187 .

Heute früh mußte ich meine Tante zum Brunnen begleiten. Ich gab ihr pflichtschuldigst den Arm und füllte ihr Glas an der Quelle. Eine ungarische Dame, die auf sie zukam und sie mit der liebenswürdigsten Familiarität begrüßte, erlöste mich bald von diesen langweiligen Pflichten. »Zwei Damen haben einander immer so viel Klatsch zu erzählen,« sagte die Ungarin und lächelte mir mit ihren weißen Zähnen und schwarzen Augen zu. Ich entfernte mich.

Es war ein kalter Morgen. Einige der Damen trugen Pelze, alle sahen blauer und leichenähnlicher aus als gewöhnlich. Der bunte Wirbel um den Brunnen erschien mir wie ein Totentanz. Mich jammerten diese geputzten Gespenster, die gierig die mageren Hände mit den Bechern gegen den Brunnen ausstreckten, wie Bettler, die um einen Tropfen Leben flehen.

Die Blumen auf den Tischen der Blumenverkäuferinnen waren matt und geruchlos, die Luft herbstlich, voll Nebel und Spinnweben. Ein starkes Gewitter war in der Nacht niedergegangen und hatte die Atmosphäre gekühlt. Die Musikkapelle spielte traurig und langweilig – alles verstimmte mich. In trübe Betrachtungen versunken setzte ich mich auf eine Bank und ließ den Blick zerstreut über das Gedränge gleiten.

Da hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir ausrufen: »Der Skriwanek muß eine rechte Wut auf das Publikum haben, er läßt heute nichts als seine eigenen Kompositionen spielen. Schauderhaftes Gedudel!« Dann lagen zwei breite Tatzen auf meinen Schultern und eine breite gutmütige Stimme rief: »Grüß Gott, mein Alter, unterhältst du dich gut?«

Aufsehend gewahrte ich einen großen jungen Menschen mit Hamletschem Fettansatz, aber ohne Hamletsche Melancholie, in einem grauen Lodenrock, der ihm zu kurz, und einem braunen Jägerhut, der ihm zu klein war.

»Was machst du denn hier? Brauchst du vielleicht die Kur?« rief er weiter.

»Ich langweile mich,« gab ich zur Antwort.

»Wie kann man sich langweilen?« fuhr er fort. – Er ist eine Gymnasialbekanntschaft aus Steiermark, heißt Gustl Beyer, und kokettiert, nachdem er binnen drei Jahren sechs verschiedenen Professionen vergeblich ein Interesse abzugewinnen versucht hat, seit einiger Zeit mit dem einträglichen und bequemen Unternehmen einer reichen Heirat. »Wie kann man sich langweilen? Den Zustand begreife ich höchstens im Kolleg. – Sapperlot, eine hübsche Person, die Blonde dort. Kannst du mich keinen Damen vorstellen?«

»Meiner Tante,« sagte ich trocken.

»Danke! Alte Schachteln kenne ich genug,« erwiderte er. »Hast du denn keine interessanten Bekanntschaften angeknüpft? Hast du das Mädchen bemerkt, das ich soeben grüßte? Nachmittag mache ich eine Landpartie mit ihr und ihrer Tante, sie hat eine Prachtstimme, und ist schon in Graz engagiert – erst achtzehn Jahre alt.«

»Achtzehn Jahre . . . dieser Mops.«

»Warum nicht, ich bitte dich?«

»Nun, es ist möglich – aber traurig.« –

»Soll ich dich bei ihr einführen? – Du wirst gewiß sehr freundlich von ihr aufgenommen werden, wenn ich dich vorstelle, sie wird dir sogar vorsingen. Mir singt sie vor, so viel ich will, sonst niemand,« versicherte er wichtig.

Die larmoyante Skriwaneksche Musik seufzte immer melancholischer in das Blätterrauschen hinein; dazwischen hörte man das Kreischen der Rollwagen, sowie das Gehüstel und Geplauder der Kurgäste.

Dichter und dichter drängte sich der Menschenstrom. Eine rumänische Fürstin mit schwarzen Stirnlocken und einer Unterlippe à la George Sand wälzte sich vorüber, dann kam der Pole mit dem hellgrauen Menschikoff und der verliebten Katerphysiognomie, neben einer schwarzäugigen Blondine, die als seine Frau in der Badeliste eingetragen steht, gegen die er sich jedoch in so zärtlichen Aufmerksamkeiten überbietet, daß man längst begonnen hat, an der Legitimität seiner Verbindung mit ihr zu zweifeln . . . . Und dann . . . und dann . . . . Die Musik spielte leise und wehmütig wie in einem Melodram – ich sah, wie sich die Leute anstießen, wie sie zu sprechen aufhörten und zu flüstern begannen, und wie sie alle nach derselben Seite sahen und Platz machten.

Zwischen dem Gedränge hindurch fuhr in einem Rollstuhl, von einem Diener ohne Livree geschoben, eine blonde Frau in einem mit schwarzem Pelz verbrämten weißen Tuchkleide, einen schwarzen van Dyk-Hut auf dem Kopf, auf den Knieen eine Unzahl von Rosen. Sie lachte und plauderte in weichem, hübschem, nicht accentlosem Französisch und reckte dabei das Köpfchen so unbefangen rechts und links nach ihren Begleitern, als befände sie sich in ihrem eigenen Salon, anstatt auf der Straße. Ihre Bewegungen waren von einer unbeschreiblichen, nachlässigen Anmut, sowie ihre Haltung, ihr Blick, ihre Aussprache, ihr Lächeln. Trotz ihres seltsamen Anzugs machte sie nicht den Eindruck, als suche sie die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu ziehen, sondern nur, als sei es ihr einerlei, ob sie selbe errege oder nicht.

Sie war nicht jung, ihr Teint blaß und leidend, doch zart, ihr Gesicht schmal wie meine Hand, mit kleinen, mehr lieblichen als schönen Zügen, der Ausdruck von unaussprechlichem Liebreiz. –

Mir wurde zu Mut, ich weiß nicht wie – ich sah alles durch einen nach Rosen duftenden, silbernen Schleier, und wie aus weiter Ferne tönte es zu mir herüber, das kleine Lied – und diesmal wußte ich, daß sie es gesungen hatte.

Ich sprang auf, schüttelte Gustl rauh ab und folgte schwankend dem kleinen Rollwagen. Die Herren, welche die Galbrizzi begleiteten, sahen mich zurechtweisend über die Achsel an. Was kümmerte mich's. Ich horchte nur auf die Stimme der Frau im weißen Kleide, meine Seele fühlte sich wie geliebkost durch den süßen Klang.

Unweit des Brunnens hielt die kleine Prozession. Der Kammerdiener entfernte sich, um das Glas seiner Herrin zu füllen. Ein paar Rosen fielen von ihren Knieen herab. Alle ihre Verehrer stürzten herbei. Schneller als sie alle war ich und reichte ihr die Blumen. Unsre Augen begegneten einander – ich sah sie, wie ich sie hundertmal im Traume gesehen. Sie schrak zusammen, ihre kleine Hand tastete nach der meinen, sie stotterte: »merci monsieur!« – und wurde ohnmächtig! –

Die einen behaupteten, es sei die Luft – die andern, es seien die Rosen – noch andre, es sei ihr gestriges Tanzen gewesen, das ihre Ohnmacht verschuldet hätte. Alle schwatzten sie den platten Unsinn, den die Leute bei solchen Gelegenheiten immer zu Tage fördern, um sich wichtig zu machen und ihr Beileid zu bezeugen.

Ich allein schwieg, und ich allein wußte, warum sie ohnmächtig geworden war!

Sie ist ohnmächtig geworden, weil sie mich erkannt hat, und weil sie mir »mein Herr« sagen mußte – sie mir! – O mein Gott! –

Ich wollte sie in die Arme nehmen, ich wollte sie zu einer Bank tragen, um sie ins Leben zurückzurufen. Sie haben mich von ihr weggeschoben wie einen Zudringlichen, wie einen Irren. Mich! . . . Und doch war ich der einzige, der sie anzurühren ein Recht hatte! –

Gustl Beyer bringt mich zur Verzweiflung. Er hat mir's gründlich abgewöhnt, die Zufriedenheit für eine Tugend anzusehen. Nichts ist sie als eine beglückende Albernheit.

Da kommt er gerade, während ich im Schreiben bin, stellt sich hinter mich, legt mir liebevoll die Hände auf die Achseln und sagt: »Grüß Gott, Alter! Was schreibst du da – laß dich nicht stören« – und da ich das Blatt eiligst in meine Mappe stecke – »ach ein Liebesbrief – irgend eine geheime Flamme.«

Indessen streckt er sich auf zwei Sesseln aus. »Bist du ein lederner Patron!« ruft er gleichmütig, dann zieht er eine Photographie aus seinem Portefeuille und reicht mir sie.

»Wie gefällt dir das Mädchen?« fragt er.

»Sie sieht langweilig und unbedeutend aus,« erwidere ich.

»Das ist wahr. Aber man heiratet ja nicht, um sich zu unterhalten,« versichert er ernsthaft mit der Kalenderweisheit, die beschränkte Leute auszeichnet.

»Nein, große Philosophen heiraten, um einer sozialen Pflicht zu genügen. Geht's übrigens da hinaus?«

»Sie hat Geld,« meinte Gustl, sich entschuldigend.

»Du scheinst wirklich jede Hoffnung aufgegeben zu haben, Bankdirektor zu werden,« sagte ich mitleidig, auf seine vorletzte Ambition anspielend – »weißt du, daß dies die fünfte Partie ist, die du seit Neujahr einfädelst?«

»So . . . wirklich?« . . . er lachte sehr herzlich – »aber weißt du, daß du heute eine Eroberung gemacht hast?«

»Bei wem?« fragte ich sehr gleichgültig. Als er jedoch antwortete: »Bei der Galbrizzi« – fuhr ich zusammen.

»Ja, bei der Galbrizzi! Wir dinierten heute bei Wachtler und nahmen einen Tisch neben dem Galbrizziklub, weil man in der Umgebung immer etwas Neues, Interessantes wegbekommt. Galbrizziklub heißt das halbe Dutzend intimer Verehrer der Schönheit,« fuhr er fort, »heute kursierten keine pikanten Anekdoten; man erzählte nur: das erste, was sie gethan, als sie zu sich kam, sei gewesen, nach deinem Namen zu fragen und die Fremdenliste zu verlangen. – Sie soll in Amerika an der Oper gesungen haben, die Galbrizzi.«

»Wie viel Uhr ist's?« rief er plötzlich – »meine Uhr ist im Versatzamt – fünf – da muß ich eilen – à propos, möchtest du mir nicht meine Manschettenknöpfe abkaufen? Ich habe keinen Kreuzer Geld.«

»Ich schachere nicht – wenn ich dir etwas borgen kann, mit Vergnügen.«

Er steckte die Banknote, die ich ihm reichte, ein und bedankte sich mit Enthusiasmus . . . »Sie erwartet mich,« rief er, »wir wollen nach S . . . haus Kaffee trinken gehen, der Schmetten ist dort viel besser als hier, willst du nicht mit?«

An der Thür wandte er sich noch einmal um, riß seine Manschettenknöpfe aus den Knopflöchern, legte sie neben mich auf den Schreibtisch und rief: »Behalt' sie zum Andenken.«

Ich wäre sehr gerührt gewesen, hätte ich nicht gewußt, daß er sich morgen dieselben Knöpfe wieder von mir ausborgen werde.

Er sagte: »Servus!« . . . ich sagte: »Servus!« . . . und die Thüre schloß sich hinter ihm. –

Gott sei Dank! –

Sie hat nach mir gefragt . . . sie hat nach mir gefragt! . . .

O! sie ist doch gut, es weiß es vielleicht niemand außer mir und dem lieben Gott, aber sie ist doch gut! . . .

Und ich hefte meinen Blick auf die Vergangenheit, jenes verlorne Paradies, in das man wohl noch hineinsehen, das man aber nie mehr betreten darf! Durch alle meine Erinnerungen zieht sich das kleine Lied, und der Engel, der mir's vorgesungen, vor langer, langer Zeit war meine Mutter, und der Himmel, den ich beinah vergessen, war meine Kindheit!

Wie schön sie war, meine Mutter! Was sie für goldene Haare und liebe, zärtliche Augen hatte, welch weiche Hände und welch süßes, süßes Lachen! Es klang so hell, so silbern, so mutwillig wie ein Bach, der über Stock und Stein einen Bergabhang herunterspringt.

Und wie sie mich liebte, wie sie mit mir tollte und Unsinn trieb vom lichten Morgen bis in die schwarze Nacht! Und wenn ich dann müde geworden am Ende der langen Tage – Tage, die mir so ereignisvoll erschienen, wie jetzt ein ganzes Jahr – da hob sie mich auf ihr Knie und legte meinen Kopf gegen ihre Schulter und sang leise, leise – so leise und lieblich wie die Nachtigall, wenn sie des Nachts die Blumen in den Schlaf singt . . . sang das kleine Lied! – Jetzt singt sie's vor Männern, die rauchen und lachen, vor rohen, fremden Männern . . . mein Lied! –

Und dann, da meinem schlaftrunkenen Blick schon alles undeutlich geworden, selbst meine Mutter, und das kleine Lied nur noch weich und unklar meine junge Seele umflatterte, wie eine klingende Liebkosung, da legte sie mich in mein Bettchen, ein Bettchen so weiß und kühl, wie nichts andres mehr auf der Welt, lehnte ihre Wange an die meine und lispelte ein kleines, süßes Kindergebet.

Ihre Religion war nur ein poetischer Aberglaube, ohne philosophische oder moralische Bedeutung. Ich weiß es nach den religiösen Begriffen, die mir noch bis heute aus jener Zeit geblieben sind. Sie stand auf dem besten Fuß mit der Mutter Gottes, sowie mit allen Heiligen und Engeln, hing mit schwärmerischer Liebe am Heiland und zitterte vor Gott Vater in andächtigem Grauen.

An einem grünen, sonnigen Sommermorgen war's, und die Erde sah aus, als spiegle sich der Himmel in ihr – so blau war sie von Ehrenpreis und Vergißmeinnicht, da wanderte ich an der Hand meiner Mutter durch eine dichte Akazienallee in voller Blüte. Tausende zarter Falter umgaukelten uns, und die Lust umfächelte schattig kühl und betäubend duftig unsre heißen Wangen.

Wir kamen an ein Kreuz, ein morsches rotes Holzkreuz mit einem Christus aus buntem Blech.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Das ist der Heiland,« erwiderte die Mutter.

»Armer Heiland!« sagte ich mitleidig. »Warum hängt er da? Warum hat er so blutige Hände und Füße?«

»Die hat er, damit du in den Himmel kommst. Deshalb ist er gestorben!«

Ich war nicht klüger als zuvor und glotzte erst meine Mutter, dann den Heiland neugierig verwundert an, doch meiner Mutter feierlich Gesicht schüchterte mich ein, und ich fragte nicht weiter.

»Wir wollen Blumen pflücken und einen Kranz daraus winden für den Heiland,« sagte sie. – Dann plünderten wir die Wiese, die sich am Wegsaume hinstreckte, meine Mutter pflückte Blumen, und ich riß ihnen im verkehrten Eifer nur die Köpfe ab.

Während wir dann den Kranz windend auf den Stufen des Kreuzes saßen, kam eine gar seltsame Prozession die Straße entlang, mit heiserem Singen und tragischem Trompetengeschmetter, mit Pfarrer und Ministranten, Kreuzen und rauchenden Kerzen, heulenden Weibern und steifen, verlegen einherschreitenden Männern; inmitten des Zuges, auf den Schultern vier rüstiger Burschen, bewegte sich eine große gelbe Kiste.

Meine Mutter bekreuzte sich und faltete die Hände. Mir wurde seltsam zu Mute. Als der düstere Zug verschwunden war, fragte ich, was das ganze, und hauptsächlich, was die gelbe Kiste bedeute. Flüsternd antwortete die Mutter, das sei ein Sarg, darin liege ein toter Mensch, der nun begraben werde tief unter der Erde.

»Menschen können auch sterben?« rief ich ganz verwundert ob dieser Möglichkeit – von Käfern und Vögeln wußte ich's.

»Sie müssen sterben, alle Menschen müssen sterben,« sagte die Mutter und nickte ernst.

»Ich auch?« fragte ich beklommen. Da faßte sie mich unter dem Kinn und seufzte: »Du auch!« und dabei standen ihr große Thränen in den Augen, und sie sah aus, als dächte sie, das sei schade.

»Und dann werden sie nie mehr lebendig?« fragte ich trübselig.

Da nahm mich meine Mutter auf ihre Kniee und drückte mich fest an sich. »Doch!« flüsterte sie, »aber nicht hier, nicht hier; wenn sie sehr brav sind, so kommen sie in den Himmel.«

»Ach, drum ist der Heiland gestorben!« sagte ich wichtig, stolz auf mein Gedächtnis.

»Dort oben, hinter der blauen Luft,« fuhr sie fort, »dort ist eine große Stadt von Silber und Gold, und da wohnt der liebe Gott mit seinen Engeln; die sind viel schöner und besser als die Menschen, und haben im Rücken lange weiße Flügel.«

»Mama, bist du ein Engel?« flüsterte ich und tastete mit meiner kleinen Hand über ihre Schultern hinüber nach ihren Flügeln; ich dachte, sie habe die vielleicht unter ihren Kleidern versteckt! . . .

Ja, das war meine Mutter. Ja . . . und . . . sie war schön, das habe ich schon gesagt, und sie war eine arme kroatische Gräfin, deren Vater sie auf einem großen, grau verfallenen Schlosse allein gelassen, ganz allein mit ihrer fünfzehnjährigen Schönheit und Hilflosigkeit, als er sich eines Tages aus Lebensüberdruß und wegen Ehrenschulden eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte.

Mein Vater, der des Verstorbenen Rechtsanwalt gewesen, sah sie, verliebte sich und heiratete sie, vollzog damit die einzige Handlung in seinem Leben, auf die er nicht immer mit gerechtem Stolz zurückgeblickt und deren Vernünftigkeit er sich später sogar anzuzweifeln gestattet hat. Er war ein Ehrenmann und stammte aus einer ganzen Familie von Ehrenmännern.

Kein Bürger – so hieß er – war je wahnsinnig geworden, oder hatte sich das Leben genommen, oder war in einem Duell gefallen; keiner hatte je getrunken oder gespielt, keiner war Künstler gewesen, keiner hatte je Bankerott gemacht, und keiner – aus Liebe geheiratet.

Mein Vater war der erste und einzige, der sich in letzter Beziehung diesem ausgezeichneten Sittenprogramm untreu zeigte. Das Schicksal hat es ihm nie verziehen! Natürlich trat die Liebe bei ihm nur als temporärer Wahnsinn auf, und die aus ihren Gewohnheitsschienen entgleiste Vernunft fand bald ihre alten Bahnen. Von seiner Verliebtheit haftete ihm in den Zeiten, an die ich mich erinnere, nichts mehr an, als ein gewisser Stolz auf meiner Mutter alten Adel und ihre Schönheit.

Eine große Photographie von ihr hing in seiner Kanzlei, und zahllose Male habe ich ihn einem Klienten, dessen Augen sich staunend auf das Bild hefteten, mitteilen hören: »Meine Frau – Sie kennen sie vielleicht, eine geborene Gräfin Abramowitsch –« dazu machte er allezeit einen graziösen Bückling.

Er sprach nie mit ihr, außer bei den Mahlzeiten, dann immer über das Essen, war beinahe so höflich gegen sie, wie gegen unser bestes Stubenmädchen, und machte jeden Sonntag nachmittag mit ihr einen Spaziergang.

Daß sein Benehmen nach den hergebrachten Begriffen mustergültig war, brauche ich wohl nicht zu sagen, ebensowenig, wie, daß er ihr regelmäßig bei passenden Gelegenheiten schöne und besonders sehr praktische Geschenke verehrte.

Er war ein großer, blonder Mann mit einem schlaffen, von Finnen blau punktiertem Gesicht, einem Schnurrbart, auf dem man hätte Schmetterlinge spießen können, und schwachen hellgrauen Augen hinter goldgefaßter Brille. Er hielt auf seine Würde, war unberechenbar empfindlich und blieb mir immer eine fremde, unheimliche Persönlichkeit.

Das kleine Lied klingt schwächer und trauriger zu mir herüber, ein dunkler Flor zieht sich über meine Erinnerungen! –

Es war Herbst – der erste Herbst, von dem ich mir Rechenschaft gebe. Mein Vater schreibt und schreibt in seiner Kanzlei, und meine Mutter steht am Fenster und drückt ihr Näschen gegen die Scheiben platt und sieht in die schlecht gepflasterte, regenumdüsterte Straße der steirischen Landstadt, sieht ein paar Marktweiber frierend unter ihren bunten Schirmen kauern, und sieht einen großen Bernhardinerhund vereinsamt vor dem Gasthaus zu den »Drei Tauben« liegen.

Er wartet auf seinen Herrn! – einen Fremden, einen Jäger wohl! Wie soll ich mich dessen erinnern!

Immer noch steht sie am Fenster und unverwandt starrt sie den Hund an. Endlich wendet sie sich von der Straße ab. – Ihre Augen haben einen so finsteren, hungrigen und vor der Zukunft entsetzten Blick, daß mir angst wird. In dem glücklichen Kinderwahn, meine Liebkosungen könnten sie über alles trösten, springe ich ihr in die Arme und überschütte sie mit Zärtlichkeit. Sie küßt mich, aber ihre Küsse sind nicht wie sonst, sie sind heiß und wild, wie ihr Blick!

Immer schwächer klingt das kleine Lied . . . bis es in dem traurigen Herbsttosen stirbt.

Die Sonnenstrahlen sind fahl geworden, die letzten Blumen verblüht, alles ist öd' und grau!

Ich weiß nicht, wer es war, nicht wie er hieß, noch wie er aussah – nur daß ich ihn haßte, weiß ich . . . .

Meine arme Mutter wurde blässer und blässer, sie lachte wohl noch manchmal, aber wie lustiges Wasserplätschern klang es nicht mehr.

Langsam tritt sie aus meinem Leben, – nur noch zweimal taucht sie deutlich in meinen Erinnerungen auf – einmal, da sie von ihrem Spaziergang heimkehrte – ich begleitete sie längst nicht mehr – blaß, fiebernd mit träumerisch schleppendem Gang und zerstreutem Blick, wie sie, da ich ihr entgegensprang, sich abwendete – und rot wurde und mich nicht küssen wollte; – und ein zweites Mal in der Nacht, da sie an meinem Bettchen kniete und weinte!

– – – Und dann – dann ist alles verschwunden – sie, mein Glück und meine Jugend! – Ich frage nach ihr – man sagt mir, sie sei tot. Da weine ich lang und bitterlich und tröste mich endlich damit, daß sie ein Engel ist im Himmel, und jeden Abend bete ich zu ihrem Bild, das über meinem Bettchen unter dem der Mutter Gottes hängt – bete zu ihr mit der gleichen Innigkeit, wie zur Mutter Gottes selbst. –

Eines Tages nahmen sie mir das Bild weg; da aber wurde ich so zornig und schrie so laut, daß meine alte Kinderfrau es mir ganz heimlich wieder zurückbrachte, und da man sich im Grunde genommen wenig um mich bekümmerte und nicht viel in mein Zimmer kam, so blieb es hängen.

Ich wuchs auf, traurig und menschenscheu.

Mein Vater starb; aus dem kleinen, traumduseligen Städtchen übersiedelte ich in das große Wien, wo mich meines verstorbenen Vaters kinderlose Schwester bei sich aufnahm – sozusagen Beschlag auf mich legte. Ihr verwandtschaftliches Gefühl hatte etwas ungemein Nüchternes. Sie schien zu finden, Kinder gehörten in eine Familie, wie Spiegel in einen Salon. Wenn man keine hat, adoptiert man seine Neffen und Nichten . . . fremdes Blut zu adoptieren, hätte sie sich nie entschlossen. Sie war das ins Großstädtische übertragene Ebenbild meines Vaters, und blieb mir fremd, wie er mir's immer geblieben.

Ebenso wie alle meine übrigen Verwandten, erwähnte sie nie meiner Mutter, was ich mir dadurch erklärte, daß sie die Verstorbene nicht persönlich gekannt.

Noch immer ergötzte sich meine Seele mit träumerischen Erinnerungsschwelgereien. Einmal fragte ich meine Tante nach dem Grab der Verstorbenen. Da runzelte sie die Stirn, setzte sich gerader und sagte dann mit ihrer harten, gefühllosen Stimme: »Deine Mutter lebt!«

Ich fuhr zusammen, es tagte plötzlich in mir – ich wußte alles! Es wäre nicht nötig gewesen, mir ein Uebriges zu sagen – meiner Tante schien das anders. »Einmal mußtest du es doch erfahren,« sprach sie, »für alle ehrbaren Leute ist sie tot – aber sie lebt und . . .« mit grausamem Lächeln: »ich glaube, sie amüsiert sich ganz gut! . . .«

Was ich litt Tag um Tag, stumm, hoffnungslos litt – ich kann es nicht sagen! Mein ganzes Sein war wie ermattet, eine schwüle, dunkle Last lag auf mir und drückte mich nieder, ein brennender Ekel durchglühte meine Adern. Ich lachte über die Zärtlichkeit, mit der ich zwölf Jahre lang das Andenken einer Frau umklammert, die ihr kleines, hilfloses Kind so elend – so herzlos verlassen konnte, ich lachte über die Gebete, die ich mit derselben Andacht an sie und an die Mutter Gottes gerichtet; ich fürchtete mich vor der Nacht – vor dem Traum, in dem sie mir noch immer, aber mit dem von Freudendurst verzerrten Gesicht einer Bacchantin erschien!

Den Menschen wich ich aus wie der Musik – wie jedem Vergnügen! Die ganze Schöpfung schien meiner Seele verunstaltet. Je einsamer ich in mich hineinbrütete, desto häßlicher arbeitete meine Phantasie. Immer widrigere Schatten verdüsterten das Bild meiner Mutter, jedesmal, daß ich von der Schlechtigkeit einer Frau hörte, durchzuckte mich's.

Endlich konnte ich nicht mehr weiter. Da . . . Gott weiß, wie es geschah, als ich den Lauf der Pistole im Munde hielt, durchklang meine Seele plötzlich das kleine Lied; ich gedachte des Tages an dem ich meiner Mutter über die Schultern gegriffen und ihre Engelsflügel gesucht. Die Hand zuckte mir, der Schuß ging fehl, ging durch den Hals anstatt durch den Kopf. – Ich lag einen Monat zwischen Leben und Tod. – Sie ließen mich nicht sterben . . . weiß nicht warum!

In meinen Fieberträumen tobte sich meine überreizte Phantasie aus. Als ich wieder zur Vernunft erwachte, war ich sehr schwach, war ruhiger – und hatte meiner Mutter verziehen!

Ich bin nie mehr geworden, wie andre Leute sind, der Reif hat meinen Frühling verdorben, hat mich siech und traurig gemacht. Bis gestern jedoch war ich wenigstens wieder ruhig. Da hörte ich das kleine Lied . . . .

Und heute. . . . Ich habe sie gesehen, ich habe sie erkannt, und sie hat mich erkannt. Und sie ist ohnmächtig geworden, weil sie mir – »mein Herr« hat sagen müssen. Sie . . . mir . . .


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