Ossip Schubin
Schatten
Ossip Schubin

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Ossip Schubin

Der gefrorene See.

Es war im Paradies – das heißt dem schönsten Punkt der Schöpfung, der wie eine von einem goldenen Lichtschein umwobene Insel mitten im blauen Himmel schwebt. Das Paradies ist voll herrlicher Bäume, an denen die wundersamsten Blüten mit süßen Früchten zugleich hängen, und voll krystallheller Bächlein, die mitten durch sammetgrüne Wiesen über glitzernde Edelsteine hinlaufen. Und die Blüten werden nie welk, und die Früchte nie faul, die Bächlein nie trüb. Die Wolken reichen nie bis zum Paradies, und Tod und Schuld und Krankheit sind dort unbekannte Dinge. Ehe die Seelen der Begnadigten von der Erde bis hinauf kommen, haben sie diese häßlichen Dinge längst vergessen.

Ja, das Paradies ist wunderschön; es hat einen einzigen Fehler, daß nämlich alles schön ist darin. Das wird auf die Länge der Zeit langweilig – manchmal finden das sogar die Engel!

Da war einer unter ihnen, der reizendste von allen – blauäugig und mit krausem, braunem Haar und einem Paar großmächtiger Flügel im Rücken, einem holdseligen Mägdelein zum Verwechseln, den dünkte das ewig schöne Einerlei gar schwer. Und aus der Ferne tief unter der in blauen Lüften schwebenden Insel sah er etwas Dunkles, das von Flammen durchzogen war, und von dem er sich mächtig angezogen fühlte.

Es sei die Erde, sagte man ihm, als er danach fragte. – Immer gewaltiger erfaßte ihn die Sehnsucht nach dem geheimnisvoll Fernen, bis er den Allmächtigen anflehte, sich einmal hinüberschwingen zu dürfen, um es in der Nähe zu betrachten.

Nicht ohne Verdruß vernahm der Allmächtige die Bitte des Engels. Wohl gab er ihm nach, doch knüpfte er an die Gewährung der Bitte eine Bedingung: »Geh du, wohin dich die Sehnsucht zieht,« sagte er, »doch wisse, wenn auch nur ein einziger Flecken deine weißen Schwingen beschmutzt, so darfst du nie mehr ins Paradies zurück!«

Dem Engel kam keine Angst, freudig dankte er dem Allmächtigen für seine Gnade, dann nahm er Abschied von seinen lichtumschimmerten Geschwistern, breitete die weiten Flügel aus und sank durch den reinen Aether langsam nieder zur Erde.

Kaum hatte er diese erreicht, so fühlte er sich von neuem schmerzlichen Leben durchdrungen. Die Blumen dufteten hier stärker – den Gewässern vermochte man nicht allen auf den Grund zu sehen, und mächtige, schmerzlich süße Stimmen klagten und sangen aus ihrer Tiefe hervor. Was aber dem Engelein am seltsamsten erschien, war, daß sich auf dem Himmel graue Wolken tummelten, und daß sich neben jedem Gegenstand, der von der Sonne besonders hell beschienen ward, ein unheimlich schwarzes Etwas ausbreitete, wovor dem Engelein schauderte. Und überall gewahrte es seltsame unruhige Geschöpfe, die aussahen wie Engel, die ihre Flügel verloren hatten, und die es alle sehr eilig hatten, ohne daß – so gut es das Engelein wahrnehmen konnte – irgend viel dabei herausgekommen wäre, als daß immer der eine dem andern so viel Licht wegzunehmen, ihn so tief in das Schwarz hineinzuducken trachtete als möglich. Wer stärker war, der siegte – für einen Augenblick, und dann ging das Hin- und Hergezerr und Gefieber von neuem an. Der Engel fragte, was denn das schwarze Ding sei. Die Menschen antworteten ihm, das sei der Schatten.

Dem Engel graute vor diesem dunklen Etwas, das sich da überall zwischen das Licht hineindrängte auf der Erde, und er fragte: »Gibt es denn nirgend etwas auf der Erde, das kein Schatten verdunkelt?«

Da erwiderte man ihm fast höhnend: »Ja – es gibt das Glück!«

»Was ist das Glück?« fragte der Engel.

»Das ist schwer zu sagen,« erwiderten ihm die Menschen – »ein jeder sieht es anders.«

»Und warum,« fragte der erdenunkundige Engel weiter, »macht ihr euch denn nicht auf, das Glück zu suchen, anstatt euch nur beständig gegenseitig das Licht wegzunehmen und einander in den Schatten zu drängen?«

Die einen zuckten die Achseln und meinten: »Es ist zu weit . . .« die andern lachten spöttisch und sagten. »Es ist ein Märchen!«

Mitten zwischen den Hin- und Hereifernden saß einer, der nichts that und jedem das Licht gönnte, solange ihm nämlich selbst soviel davon blieb, als ihm zum Leben nötig war. Er saß am Wegsaum und von den andern abgewendet und ganz in die Betrachtung seiner Fußspitzen versenkt. Der Engel fragte, wer denn das sei. Da antwortete man ihm, es sei ein Philosoph, und spottend setzte man hinzu: »Der würde am besten Auskunft geben.«

Der Engel nahm alles ernst, und so wandte er sich denn an den Philosophen mit der Frage: »Warum sucht keiner von euch das Glückt«

»Es flieht die, welche ihm nacheilen,« sagte der Philosoph belehrend, dabei sah er den Engel groß an, um den Eindruck zu prüfen, den die Worte auf ihn gemacht. Der aber erwiderte nur übermütig: »Ich habe Flügel – ich hol es ein – sag mir nur, woran man es erkennt.«

»Es leuchtet, ohne zu blenden – und wärmt, ohne zu versengen!« antwortete der Philosoph.

In dem Augenblick gewahrte der Engel einen in glänzenden Farben schillernden Bogen, der sich wie eine großartige Triumphpforte über die Erde spannte.

»Ist das das Glücke« fragte er.

»Manche halten es dafür,« antwortete der Philosoph kurz und versenkte sich von neuem in die Betrachtung seiner Fußspitzen.

Wie die meisten Philosophen gab er seine Weisheit am liebsten ungebeten, hatte es aber sehr ungern, wenn man ihm mit wißbegierigen Fragen allzu nahe auf den Leib rückte.

Der Engel aber breitete seine weiten Flügel aus und schwebte, von lauem Zephyr getragen, hinüber zu dem leuchtenden Wunder. Der Weg war weit, weiter als er geglaubt, und in der That schien der farbige Bogen vor ihm zu fliehen, je mehr er sich beeilte, desto schneller. Kaum konnte der müde Schwärmer sich noch in der Luft erhalten, als plötzlich die schillernde Triumphpforte stille stand. Einen letzten Aufschwung nehmend, eilte der Engel darauf zu. Doch kaum hatte er das märchenhafte Farbengeschiller mit seinen Flügeln berührt, so teilte es sich in kalte, graue Nebel. Da übermannte den Engel eine gräßliche Mattigkeit, so daß er wie ein Toter auf die Erde herabfiel.

Er fiel aus dem Himmel auf die Erde, fiel aus reinem Aether in schwarzen, klebrigen Schlamm. Dort verlor er das Bewußtsein. Als er zu sich kam, da gedachte er sehnsüchtig seiner himmlischen Heimat und wollte ins Paradies zurück. Als er sich jedoch aufzuraffen versuchte, da versagten ihm seine Flügel den Dienst. Angstvoll sah er an sich nieder und merkte mit Entsetzen, daß häßliche schwarze Flecken sein weißes Gefieder beschmutzten. Da wußte er, daß ihm der Weg in die Heimat versperrt war, und eine schreckliche Herzenspein ergriff ihn. Ratlos rang er die Hände und schluchzte.

»Was klagst du?« fragte ihn ein Mann mit einem dicken, grauen Bart, der am Wegsaum kauerte. Er fragte es nicht mitleidig, sondern ungeduldig. Das Wehklagen des Engels rührte ihn nicht, aber es störte ihn. Er war in die Betrachtung eines Rosenkranzes vertieft mit derselben Miene, wie der Alte, den der Engel um Auskunft befragt hatte, in die Betrachtung seiner Fußspitzen.

»Bist du ein Philosoph?« fragte der Engel.

Der Mann bekreuzte sich – »Gott behüte,« rief er, »ich bin ein Mönch!«

»Dann weißt du mir vielleicht zu helfen, denn da du ein Mönch bist, weißt du in göttlichen Dingen Bescheid und wirst mich den Weg zurückfinden lehren in den Himmel!«

Aber der Mönch schüttelte den Kopf. »Man hat mir ihn einmal gezeigt,« sagte er, »aber er war sehr beschwerlich, da habe ich gefragt, ob der Himmel denn nicht auf andre Weise zu erreichen sei. Da sagte man mir, für Leute, die Flügel hätten, wären alle Hindernisse geebnet, die schwängen sich im Augenblick zu den höchsten Zielen empor, und dann riet man mir, ich solle den Rosenkranz beten, vielleicht würden mir die Flügel wachsen. Seitdem sitze ich denn hier und bete den Rosenkranz. Es muß schon lange her sein, wie lange weiß ich nicht, denn das Maß für die Zeit ist mir verloren gegangen, aber Flügel sind mir noch immer keine gewachsen!« – Dann den Engel fester ins Auge fassend, setzte er hinzu: »Aber du hast ja Flügel, was jammerst denn du?«

Der Engel blickte beschämt zu Boden. »Ich kann sie nicht gebrauchen,« murmelte er.

Der Mönch hob den Kopf. »Ah!« sagte er, immer mit derselben Gleichgültigkeit, »ich verstehe jetzt, du bist auch einer von denen, die aus dem Himmel in den Schlamm gefallen sind. Das ist schlimm!«

Der Engel blieb stumm. Nach einem Weilchen hub er von neuem an: »Und gibt es denn nichts auf der Erde, das vermöchte, meine Flügel von den Flecken zu reinigen?«

Der Mönch schüttelte den dicken, grauen Kopf. »Ich habe einmal von etwas gehört, das diese Flecken tilgt,« murmelte er hierauf, »aber ich habe vergessen, was es war – ich habe alles vergessen, was ich je gewußt – ich sitze hier und bete den Rosenkranz und warte auf meine Flügel. Mich um etwas andres zu sorgen, habe ich keine Zeit!« Und dabei versenkte er sich von neuem in die Betrachtung des Rosenkranzes, den er zwischen den Händen hielt, und war für alles, was um ihn herum vorging, blind und taub.

Der Engel aber schluchzte bitterlich. Plötzlich gewahrte er eine hohe Gestalt mit einem lieblichen bleichen, braunumlockten Gesicht. Sie sah ihm zum Verwechseln ähnlich, nur daß sie keine Flügel an den Schultern trug.

»Wer bist du?« fragte der Engel, dem alles neu war auf der Erde.

»Ich bin eine arme Sünderin,« murmelte das Mädchen demütig, »und wer bist du?« fragte es den Engel.

Der Engel klagte ihr's. »Ich bin ein Engel und habe mich auf der Erde verirrt und kann nicht mehr in den Himmel zurück, weil meine Flügel beschmutzt sind. Gibt es denn keine Tautropfen auf der Erde, keine Thräne, die rein genug wäre, den Makel von mir zu tilgen?«

Das bleiche Mädchen schüttelte traurig das Haupt und sprach: »Der Tautropfen, der aus dem holdesten Blumenkelch herausfunkelt, die Thräne, die aus dem edelsten Menschenauge quillt, sind nicht rein genug, dich zu erlösen; doch gibt es fern von hier einen See, der ist mit Gottesthränen angefüllt – den Thränen, die der Heiland seinerzeit über das große Leid der Menschheit geweint und über die Sünde, die mit diesem Leide Hand in Hand geht. Ich bin auf dem Wege dorthin. Willst du mit?«

Sie gingen miteinander – die arme Sünderin und der Engel, langsam und mühsam. Besonders den Engel, der es nicht gewohnt war, zu Fuße zu gehen, kam es hart an, bei jedem Schritt stieß er mit seinen zarten Füßchen gegen einen Stein. Immer wieder versuchte er die Flügel. Aber diese Bewegung verursachte ihm jedesmal gräßlichen Schmerz, und die Flügel fielen doch wieder an ihm nieder wie eine bleierne Last!

Sie waren nicht mehr allein, die Sünderin und der gefallene Engel, viele andre hatten sich ihnen zugesellt, alle sehnsüchtig nach demselben Ziele strebend. Manche hatten Flügel und andre nicht – aber an allen klebten dieselben häßlichen Flecken, auf deren Tilgung sie hofften.

Die Kälte wurde peinlich und das Licht blendend – die Flecken an den Gewändern und Schwingen der müden Wanderer traten immer deutlicher und greller hervor. Sie scheuten sich voreinander, keiner wagte es, den andern anzusehen. Immer schmäler wurde die weiße, kalte Straße – rechts und links gähnte ein schwarzer Abgrund, aus dem Musik hervortönte und in dessen Tiefe man wundersame Dinge zu vernehmen glaubte – und viele der Wanderer strauchelten und stürzten hinab in den Abgrund, weil sie zu schwach waren, um weiter zu gehen – und andre sprangen mit beiden Füßen hinein – die einen, weil die fernen Dinge sie lockten, und andre, weil sie es nicht aushalten konnten vor Scham inmitten der grellen Reinheit, und lieber ihre Flecken verstecken wollten in dem Abgrund, wo alles gleich dunkel war und niemand darauf achtete.

Aber viele erhielten sich aufrecht – unter andern die arme Sünderin und der Engel. Einer stützte den andern, und endlich erreichten sie den See.

Er glänzte so blau wie der Himmel, der sich über ihm wölbte. Der Engel eilte darauf zu, jauchzend – hoffnungsvoll. Wehe! Der See war gefroren!

Am Rande des Sees ausgestreckt lag ein schlafender Genius. Viele Verzweifelnde umkreisten ihn und riefen händeringend: »Wach auf – wach auf!«

Da stellte der Engel seine letzte Frage: »Wer ist der schlafende Genius?« sprach er.

»Der Genius der allbarmherzigen Liebe,« antwortete man ihm; »solange der schläft, taut der See nicht auf, und die Sünde bleibt ungesühnt, und die Tugend unfruchtbar.«

Hierauf begannen die Verzweifelten von neuem den Schlafenden zu umkreisen und ihn anzurufen, aber der Genius regte sich nicht!

Er schläft heute noch!

 

Ende.


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