Paul Schreckenbach
Die letzten Rudelsburger
Paul Schreckenbach

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VI.

In der fünften Nachmittagsstunde des folgenden Tages erschien der alte Thymo von dem Hogeniste auf der Burg. Er ließ sich nicht etwa in einer Sänfte tragen, auch das Fahren in einem Wagen verschmähte er, sondern der Neunzigjährige kam hoch zu Roß in den inneren Hof geritten, gefolgt von einem gleichfalls berittenen Bruder.

Er stieg mit dessen Hilfe vom Pferd und schritt dann die Treppe empor, die zu den Herrengemächern führte. »Wo ist Dein Vater? Ich muß sogleich mit ihm reden!« herrschte er Gertrudis an, die ihm in der Tür des Vorsaals entgegentrat.

»Der Vater ist verritten und kehrt erst morgen abend heim,« sagte die Jungfrau, nicht wenig erstaunt über des Greises heftiges und barsches Wesen, das er ihr gegenüber sonst nicht herauskehrte. Denn er hatte sie aus der Taufe gehoben und war ihr sehr gewogen.

Der Alte blieb stehen, schnob heftig mit den Nüstern und zog die Stirn hoch, daß seine Brauen sich sträubten. »Ist das wahr?« fragte er heftig.

Gertrudis sah ihn noch befremdeter an. «Was soll das heißen, Pate? Seid Ihr gewohnt, von mir mit Lügen bedient zu werden? Und warum sollt' ich Euch Unwahres sagen?«

«Nein, Mädchen, du lügst nicht aus dir selber. Aber Werner Kurtefrund könnte seiner Tochter streng befohlen haben, seine Gegenwart abzuleugnen, wenn ich etwa auf die Burg käme.«

Die Jungfrau schüttelte den Kopf. Der Greis war doch sonst sehr hellen und scharfen Geistes, was redete er heute für unverständliche Worte? »Ich verstehe Euch nicht,« sagte sie ziemlich ungeduldig. »Der Vater ist fort zu denen von Kevernburg und kommt vor morgen abend nicht heim.«

Der Alte brummte unverständliche Worte vor sich hin, sie klangen fast einem ellenlangen Fluche ähnlich, obwohl er sonst das reitermäßige Fluchen vermied, seitdem er ein Mönch geworden war. Dann richtete er sich auf einmal aus seiner gebückten Stellung auf, blickte sie eine Weile durchdringend an und sprach mit plötzlichem Entschluß: «Führe mich hinüber in deine Kemenate, Kind. Weicht er mir aus, so will ich mit dir reden, und du sollst ihm alles wiedersagen.«

Als er ihr drüben im Frauengemache gegenübersaß, ergriff er ihre Hand und begann in gütigem Tone, wie er mit ihr zu sprechen gewohnt war: »Du weißt, daß dein Vater Dietzes von Merkwitz Sohn im Kerker hält?«

Sie zuckte zusammen und sah ihn scheu an. »Gewiß weiß ich's,« entgegnete sie leise.

»Und dein Gesicht zeigt mir, daß du darüber denkst wie ich.«

Sie gab nicht gleich eine Antwort; dann fragte sie in demselben Tone wie vorher: »Wie denkt Ihr darüber?«

»Wie jeder Christenmensch denken muß: daß dein Vater ruchlos handelt.«

Sie sah ihn starr an, und ihre Augen wurden immer dunkler. Mit einem Male warf sie beide Arme auf den Tisch und legte ihr Haupt darauf in heißem Weinen. »Ach, Pate!« schluchzte sie, »was ist die Welt! Sünde und Unrecht überall, Neid und Haß und Streit auf allen Wegen, und der Vater – der Vater –« Sie hielt inne, als könne oder wolle sie nicht weiter reden, aber dann brach's doch wieder aus ihrem Munde hervor, heftig, stoßweiße: »Euch kann ich's ja vertrauen. Euch allein, sonst keinem Menschen: der Vater übt Gewalt, er fragt nichts mehr nach dem Rechte, sein wütender Haß gegen die Städter macht ihn blind und taub dagegen. Kein Mensch vermag etwas über ihn – es redet ihm auch keiner zu – er wird alle Welt wider sich aufbringen – es wird ein böses Ende nehmen.«

Aufrecht und steif saß der Alte während dieses ganz unerwarteten Ausbruches auf seinem Stuhle, und keine Muskel zuckte in dem harten, verwitterten Antlitz. Aber seine Augen funkelten, und als sie geendet hatte und nur noch still vor sich hin weinte, sprach er feierlich: »Gelobt sei Gott und die heilige Jungfrau, daß noch ein Mensch auf dieser Burg ist, der am Guten hängt! Um zehn Gerechter willen wollte Gott der Herr die Städte Sodom und Gomorra nicht verderben. – Vielleicht verschont er diese Stätte des Unrechts um eines reinen Weibes willen. Gesegnet seist du, Kind, du Gerechte unter den Ungerechten! Aber nun hebe dein Haupt und höre mich an, auf daß du deinem Vater künden kannst, was ich dir sage. Dein Vater war gestern in Pforte, der Merkwitz auch. Sie sollten vor mir miteinander handeln um des Gefangenen Freilassung. Der Naumburger kam später, und weil er mit mehr als fünfzig Gewappneten einherzog, so dachte dein Vater, ein Überfall sei geplant, und ritt mit seiner Schar eiligst von dannen. Vorher aber schwur er, wenn Merkwitz seinen Sohn nicht löse mit zwanzigtausend Gulden bis zu Sankt Augustins Tag, so werde er ihn lassen über die Mauer werfen.«

Die Jungfrau schrie bei diesen Worten laut auf und sank in die Knie. »Er schwur es? Entsetzlich! Er hält seine Eide, Ihr wißt's. Kann Merkwitz,« setzte sie stammelnd hinzu, »seinen Sohn lösen bis zu dieser Zeit?«

»Er kann es schwerlich, denn er sagt, das sei mehr, als er im Vermögen habe. Und brächte er's auch mit guter Freunde Beistand auf, so wäre er ein Bettler und sein Weib und seine drei Söhne mit ihm. Auch wisse er wohl, wozu der Kurtefrund das Geld nutzen wolle: zur Fehde wider seine Stadt. Dazu gebe er es nimmer her, denn er wolle seiner Stadt nicht untreu werden. So wolle er es denn darauf ankommen lassen, ob der Kurtefrund handeln werde wie ein Erzbösewicht, und wenn er's täte, so würde er das Geld lieber zur Rache verwenden.«

»Der Narr!« rief die Jungfrau verzweiflungsvoll. »Kennt er den Vater nicht? Weiß er nicht, wie er seine Eide hält? Und was träumt er von Rache? Wie will er sich rächen an dem, der auf diesem Felsen sitzt? O über den Toren! Er sollte alles tun, seinen Sohn zu lösen, ehe es zu spät ist, denn der Vater –« Sie brach ab und schluchzte von neuem wild auf.

»Dein Vater, meinst du, wird seine böse Tat vollenden, denn er hält an seinem Eide, auch wenn er im Jähzorn geschworen ist. Ich fürchte, du denkst das Richtige über ihn. Aber sagen sollst du ihm, daß der neue Bischof Johann seine Tat schwer verdammt und morgen ihn mahnen wird, abzustehen von seiner Bosheit. Sagen sollst du ihm ferner, daß heute der Stadt Naumburg eilende Boten geritten sind zu Herrn Ludwig, dem König, und Herrn Friedrich, dem Landgrafen, Und wenn der König auch weit ist, so kann er doch des Reiches Acht über ihn bringen, und Landgraf Friedrich haßt das Unrecht und die Räubereien der ritterlichen Herren und hat eine schwere Hand. Und kann er diesen Felsen nimmermehr durch Stürmen gewinnen, so kann er ihn doch durch Hunger zwingen. Das wollt' ich deinem Vater sagen, und das sage du nun ihm, denn ich betrete diese Burg nicht wieder, wenn Ritter Kurtefrund seine Sünde vollendet. Gehab dich wohl, mein Kind!«

Er legte seine harte, große Greisenhand sanft auf das Haupt der zur Erde Gesunkenen und wandte sich zum Gehen.

Gertrudis sprang auf. Ihre Augen flammten. »Dessen seid gewiß, Pate,« rief sie, »ich werde ihm alles sagen, und die Heiligen mögen mir die Kraft geben, daß ich an sein Herz rühre! Ihr aber, Pate, wollt doch nicht ohne einen Imbiß scheiden und einen Becher Wein?«

»Keinen Tropfen Weines, keinen Bissen Brotes genieße ich auf der Rudelsburg, ehe dein Vater gezeigt hat, daß er ein ehrlicher Ritter bleiben will. Lebe wohl, Kind! Die Heiligen mögen mit dir sein!«

Hoch aufgerichtet schritt der Greis aus dem Gemache, stieg die Treppen hinab und ließ sich auf sein Tier helfen. Darauf verließ er eilend die Burg. Klaus Kyburg, der gerade in der Vorburg mit einigen Knechten eine Unterhaltung über das Aufsteigen eines Gewitters führte, sah ihn herangezogen kommen und beschloß, ihm aus dem Wege zu gehen. Denn der grobe Alte war ihm widerwärtig, und er hatte keine Lust, sich einem erneuten Wortwechsel mit ihm auszusetzen. Er schwankte einen Augenblick, ob er sich in das Schenkhaus oder in das Gotteshaus zurückziehen sollte, entschied sich aber für die Kirche. Er hatte den geweihten Raum noch nicht betreten, seit er auf der Burg weilte. Die Zeit der Frühmette hatte er jedesmal verschlafen, da ihn niemand weckte, und im übrigen war sein Bedürfnis, vor den Altären zu knieen, nicht eben groß.

Es war ein dämmeriges, großes Kreuzgewölbe, das ihn aufnahm und aus dem ihm eine kühle, kellerartige Luft entgegenschlug. An sonnigen Tagen mochte es wohl heller in der Kirche sein als heute, wo im Westen eine mächtige Wolkenwand emporgestiegen war und sich eben vor die Sonne schob. Es war wenig zu erkennen in dem Halbdunkel, das den ganzen Raum erfüllte; nur auf das Bild der heiligen Elisabeth fielen noch einige Strahlen des mit den Wolken kämpfenden Sonnenlichts. Es stand auf dem Altar unter einem riesigen, vergoldeten Kreuze, eine Holzstatue in Lebensgröße, das Antlitz nicht ohne Liebreiz. Eine Krone von Perlen und unechten Steinen glänzte vom Haupte hernieder, und an dem himmelblauen Sammetgewande schimmerten Edelsteine in großer Zahl.

Kyburg betrachtete das Bild eine ziemlich lange Zeit; dann lüstete ihn, es auch einmal von der anderen Seite anzusehen, und er zwängte sich in den schmalen Raum zwischen der Kirchwand und dem Altar. Da hörte er, wie die Tür der Kirche sich öffnete, wie eine Gestalt hereinschlüpfte und den riesigen Schlüssel im Schlosse umdrehte. Er spähte hinter dem Bilde hervor und vermochte zunächst nichts zu erkennen. Erst als sie sich langsam dem Altar nahte, sah er beim Schein eines aufzuckenden Blitzes, daß es Gertrudis war. Sie wollte offenbar vor dem Altar der Heiligen beten.

Sollte er hervortreten? Sollte er bleiben? Noch ehe er sich entschieden hatte, war sie auf die Steinstufen niedergeglitten und hatte die gefalteten Hände zu dem Gnadenbilde emporgehoben. Und dann begann sie zu beten, flüsternd zuerst, dann alles um sich her vergessend mit lauter Stimme, dringend, in leidenschaftlichem Flehen. Er hatte erwartet, sie werde ihren Rosenkranz abbeten und dann wieder gehen. Aber sie sprach keine eingelernten Gebete, sondern mit innigen Worten, die aus der Tiefe ihres Herzens kamen, bestürmte sie die Heilige, die Schutzherrin ihres Hauses, und während draußen die Blitze zuckten und der Donner grollte, vernahm Klaus Kyburg die seltsamste Beichte. Nicht eigener Sünden klagte sie sich an, sie erflehte vielmehr Fürbitte für die Gewalttaten ihres Vaters und ihres Oheims. Ach, es war ihrer eine große Zahl, und mit Staunen und Schrecken erkannte der Lauschende, daß zwischen dem mächtigen Herrn der gewaltigen Feste und einem vom Stegreif lebenden Landschädiger der Unterschied nur gering war. Unter Tränen und mit oftmals von Schluchzen halb erstickter Stimme zählte sie die Frevel auf, die seit Jahren von dieser Burg ausgegangen waren, flehte die Heilige an, die Strafe des Himmels von ihrem Vater abzuwenden, bat um Kraft, ihres Vaters Herz zu rühren, daß er sich bekehre und seinen schrecklichen und sündhaften Schwur nicht halte, und zuletzt warf sie sich im Überschwang ihres Schmerzes ganz und gar auf die Erde hin, so daß die Stirn den kalten Stein berührte. So lag sie eine ganze Weile, dann erhob sie sich, wandelte langsam nach der Tür hin, schloß wieder auf und trat ins Freie, wo eben der strömende Regen aufgehört hatte und ein heller Sonnenstrahl durch das sich zerteilende Gewölk blitzte.

Kyburg blieb noch fast eine halbe Stunde lang da stehen, wo er stand. Regungslos starrte er auf die Stelle vor dem Altar, wo die Betende gelegen hatte. Was er getan, war unwürdig, das fühlte er wohl. Er hatte gelauscht, ein Weib belauscht, das in der tiefsten Not seines Herzens allein mit der Heiligen zu reden glaubte. Einem ritterlichen Manne ziemte das nicht, er hätte hervortreten müssen, als sie die ersten Worte sprach. Aber er empfand keine Reue. Was er gehört hatte aus ihrem Munde, das sollte so sicher begraben sein in seiner Brust wie in eines heiligen Bischofs Brust das begraben war, was er vernommen hatte unter dem Siegel der Beichte. Und nichts hatte ihn in seinem Leben so erschüttert, als dieser Blick in die Seele der Jungfrau, die er liebte. Mit überwältigender Kraft empfand er in dieser Stunde, daß er von der blonden Tochter des wilden Kurtefrund nicht mehr lassen könnte, daß er sich dies Weib erringen müsse oder untergehen.


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