Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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VI

»Mein Herr General! Die Bataille ist so gut wie gewonnen. Seine Majestät fertigen schon Kuriere nach Berlin ab. Lassen Sie Ihre Bataillone gegen den Kuhgrund vorgehen, damit wir den Feind aus Kunersdorf herauswerfen!«

So rief am Nachmittag des 12. August der Generalleutnant von Finck dem Generalmajor von Klitzing zu, der mit vier Bataillonen am Großen Eisbusche stand, eine Viertelstunde vor dem Dorfe Kunersdorf. Das Dorf war schon niedergebrannt, denn der Kampf währte bereits vier Stunden, aber die Trümmer und den festen Kirchhof behaupteten die Russen, hielten auch noch die Anhöhen vor dem Dorfe besetzt, und den Kuhgrund verteidigte das österreichische Regiment Baden-Baden.

»Zu Befehl!« entgegnete Klitzing, und während Finck in der Richtung des Kuhberges mit seinem Adjutanten davonsprengte, ritt er vor die Front seiner Truppen.

»Soldaten!« schrie er mit seiner mächtigen Stimme und zog den Degen. »Soldaten! Unser großer König siegt. Es lebe der König!«

Ein donnerndes, tausendstimmiges Vivatgeschrei antwortete ihm.

»Lehnwaldt und Zastrow attackieren hier links den Kuhgrund! Braun und Hausen! Hier rechts die breite Schlucht hinauf! Mit den Bajonetten zur Attacke, marsch!«

Langsam, in schnurgeraden Linien wie auf dem Paradefelde rückten die Preußen vor. Klitzing selbst war vom Pferde gestiegen und schritt seinen Leuten voran, den Degen hoch in die Höhe haltend, daß er im Sonnenlichte funkelte.

Schon war der Rand des kleinen Hügelrückens erreicht, der Kunersdorf nach Nordwesten deckt. Der Feind, der drohen stand, rührte sich nicht. Kein Schuß dröhnte, kein Ruf ward laut.

»En avant!« schrie Klitzing. »Im Sturmschritt marsch marsch!« und er stürmte selbst mit mächtigen Sätzen aufwärts.

Da erschollen droben einige kurze russische Kommandorufe und eine furchtbare Salve von Flinten- und Kartätschenkugeln schlug in die preußischen Reihen ein. Sie stutzen. Eine zweite noch schrecklichere Salve reißt fürchterliche Lücken. Hundert Schwerverwundete und Sterbende wälzen sich schreiend und ächzend in ihrem Blute. Noch einmal knattert's und pfeift's von oben – die preußischen Reihen lösen sich auf –, schnell, immer schneller stürzen die Truppen den Abhang hinunter, dem Eisbusch zu.

Der Führer Klitzing, von mehreren Kugeln durchbohrt, lehnt unten an einem Weidenstumpf. Schmerz und Verzweiflung prägen sich auf seinem Antlitz aus. »Zurück! halt!« will er rufen, aber seine Stimme erreicht nur noch die Nächsten. Da winkt er dem nächsten Offizier, der sich den Fliehenden entgegenstellt. »Kleist, formier' er das Bataillon, und vorwärts! Da drüben steht der König.« Ewald von Kleist richtet sich hoch empor. Er fühlt's, die große Stunde seines Lebens ist gekommen. Er schwingt sich wieder aufs Pferd, von dem er abgesprungen war, um sich den Flüchtlingen entgegenzustellen, und gellend und durchdringend klingt sein Ruf: »Leute halt! Stillgestanden! Da drüben kommt der König.«

Das Wort wirkt Wunder. Die Masse kommt mit einem Male zurück, steht, und da der Feind nicht nachdrängt, gelingt es, neue Sturmkolonnen zu formieren.

»Fähnrich! Her zu mir!« ruft Kleist dem Fahnenjunker zu, der schon zwei Fahnen trägt, da sein Kamerad tot auf der Erde liegt. »Und nun noch einmal: En avant! Wer ein guter Preuße ist, folgt mir. Vorwärts, mit Gott für den König!« Von neuem Mute beseelt, stürzt alles dem voranreitenden Führer nach, den sanft ansteigenden Hügel hinauf. Da, dreißig Schritte vor der feindlichen Reihe, trifft eine Kugel Kleists rechte Hand. Er nimmt den Degen in die Linke. Auch die wird durch einen Schuß in den Arm gelähmt. Mühselig faßt er noch einmal den Degen mit zwei Fingern der rechten Hand und schreit: »Vorwärts, vorwärts!« Da zerschmettert eine Kartätschenkugel das rechte Bein – er gleitet vom Pferde herab –, will sich wieder aufschwingen, die Kräfte versagen.

Auf ein Knie gestützt, hebt er sich noch von der Erde auf und schreit wieder und wieder: »Vorwärts, vorwärts!« Mit Todesverachtung stürmen die Preußen vorwärts. Die Russen weichen langsam auf Kunersdorf zurück.

Zwei Soldaten fassen den Major, tragen ihn hinter die Front und legen ihn am Eisbusche nieder.

»Geht!« ruft Kleist mit seiner letzten Kraft. »Es wird ein Sieg. Geht und verlaßt den König nicht!«

Dann sinkt er ohnmächtig zusammen.

*

Zwei Tage später saßen im Hinterzimmer eines Patrizierhauses zu Frankfurt an der Oder zwei Männer bei einem Glase Aquavit zusammen. Der eine, ein langer, steifer Herr in schwarzem Hausrock und großer Perücke, war der hochwürdige, hochgelehrte Professor Theologiä Gottlob Samuel Nicolai, der andere, ein bewegliches Männchen mit lebhaften Augen und einer hastigen, sich überstürzenden Sprechweise, war der Arzt Doktor Krünitz, der ihn zu besuchen gekommen war. Denn der Professor hatte das Unglück gehabt, die Treppe hinabzufallen. Zwar war es nur eine leichte Kontusion, die er davongetragen hatte, aber wer konnte wissen, was eventuell daraus entstand? Und in diesen hochbetrübten Zeiten hatte man doppelt die Pflicht, sich der Wissenschaft und seiner Familie zu erhalten. Das hatte der würdige Mann eben mit den breitesten Worten auseinandergesetzt, aber der Arzt war offenbar ganz wo anders mit seinen Gedanken. »Untersuchen?« sagte er. »Noch einmal untersuchen? Nonsens, mit Verlaub zu sagen.« Er stürzte das zweite Gläschen mit einem Zuge hinunter. »Halten Sie sich ruhig, dann ist morgen nichts mehr zu sehen.« Er hielt den Rohrstock mit dem großen silbernen Knopf gewichtig an seine Nase. »Da gibt's mehr zu tun, wertgeschätztester Herr Gevatter, viel mehr. Die ganze Stadt liegt ja voll von Blessierten und Sterbenden, Russen, Österreicher und Preußen, alles durcheinander. Ich bin die ganze letzte Nacht nicht aus den Kleidern gekommen. Hören Sie? Da schellt es unten. Ich möchte wetten, daß mich wieder einer sucht.«

Sporenklirrende Tritte kamen die Treppe empor. Die Magd öffnete die Tür, und ohne anzuklopfen trat ein hochgewachsener russischer Offizier ins Zimmer. Doktor und Professor schnellten von ihren Sitzen empor, denn die Russen waren ja die Herren und Sieger, hatten bei Kunersdorf nach furchtbarem blutigen Ringen den König geschlagen und geboten jetzt unumschränkt in der guten Stadt Frankfurt.

Der Russe blickte die beiden prüfend, aber nicht unfreundlich an und fragte dann auf deutsch mit schnarrender Stimme: »Er ist der Wundarzt?«

»Zu Befehl, Euer Gnaden,« erwiderte Krünitz.

Der Offizier berührte nachlässig seinen Hut. »Baron von Stackelberg aus Kurland,« sagte er. »Komm er mal mit! Er soll seine Kunst bei einem Landsmann ausüben. Ich habe gestern einen schwerverwundeten preußischen Major auf dem Schlachtfelde aufgelesen, und es liegt mir viel daran, daß er wieder gesund wird. Er ist ein großer Dichter.«

»Herrgott, Kleist!« entfuhr es dem Professor, und er blickte dem Russen schreckensbleich ins Gesicht.

»Kleist, der Dichter des ›Frühlings‹!« bestätigte der Offizier. »Kennt er ihn etwa persönlich?« »Das nicht. Aber er ist ein Freund des Herrn Lessing und meines Bruders in Berlin. Ach, Euer Gnaden, würden Sie gestatten, daß er in mein Haus gebracht wird? Ich würde ihn mit meiner Frau aufs gewissenhafteste pflegen.«

»Wenn er zu transportieren ist,« warf der Arzt ein.

»Das kann er ja konstatieren,« sagte der Russe. »Die Wunden waren wohl nicht so gefährlich, aber er ist von den Kosaken ausgeplündert worden, und hat eine ganze Nacht fast nackt am Rande eines Morastes gelegen.« Er legte dem Professor die Hand auf die Schulter und sah ihn wohlwollend an. Es wäre mir sehr lieb, wenn er zu ihm käme. Wenn er ein Freund seiner Freunde ist, so wird er ihn wohl gut verpflegen. Und es ist mir, wie gesagt, sehr viel daran gelegen, daß er nicht stirbt. Ich bin ein eifriger Freund der deutschen Literatur und schätze den Dichter des ›Frühlings‹ höher als alle, die jetzt leben.« –

So geschah es, daß der todwunde Kleist in ein befreundetes Haus kam und von Freundeshand gepflegt wurde. Er selbst freilich merkte zunächst gar nichts davon, denn er lag Tage und Nächte lang im heftigsten Wundfieber. Als er endlich daraus erwachte, war er ganz apathisch und gab auf keine Frage eine Antwort. Plötzlich richtete er sich wild empor und schrie: »Der König! Wo ist der König? Lebt er? Und wie geht es der Armee?«

»Ihr König lebt,« sagte Stackelberg, der eben ins Zimmer trat. »Er steht nur wenige Meilen von hier in Fürstenwalde.«

Kleists Züge belebten sich. »Und die Armee?«

»Geh' er einmal hinaus!« wandte sich der Russe an den Professor. Dann setzte er sich an das Bett des Kranken und ergriff seine Hand. »Herr von Kleist, was ich Ihnen jetzt sage, das sage ich auf parole d'honneur als die volle Wahrheit. Wir werden Ihren König nicht verfolgen, denn wir bedauern, gegen ihn fechten zu müssen. Auch in unseren Augen ist er der größte Mann der Zeit. General Soltikow ist sein persönlicher Verehrer, und zudem weiß er bestimmt: Kommt der Zarewitsch zur Regierung – und wie lange kann das noch dauern –, so verfault der Vernichter des Großen Friedrich in den Kasematten von Peter-Paul, oder er geht nach Sibirien. So, nun wissen Sie's und seien Sie ruhig über Ihren König. Ein Genie, wie der, geht an keiner verlorenen Schlacht zugrunde.«

Kleist sah ihn mit glänzenden Augen an. »Baron, Sie sind ein Gentilhomme vom Scheitel bis zur Sohle. Ihrem Worte glaube ich. Und nun erst haben Sie mich gerettet. Nun will ich leben.«

Die nächsten Tage war er heiter und aufgeräumt, scherzte und lachte trotz seiner Schmerzen, empfing Besuche in seinem Krankenzimmer und schmiedete Pläne, wie er Gleim und Lessing herkommen lassen könne. Alle waren voller Freude und glaubten an seine baldige Genesung, nur einer nicht, sein Arzt. Als der am Abend des dreiundzwanzigsten August den Kranken verließ, trat ihm Nicolai auf dem Vorsaal entgegen und rief vergnügt: »Nun, was sagen Sie zu unserem Patienten? Geht es ihm nicht gut?«

»Gut?« Der Arzt lachte trocken auf und polterte dann in seiner derben Weise: »Gut? Paperlapapp, mein Wertester! Der Mann hat Fieber, sehr hohes Fieber. Ich fürchte für die Nacht das Schlimmste. Wachen Sie und schicken Sie gleich zu mir, wenn ein Kollaps eintritt. Ich bliebe gern hier, kann aber nicht. Und, Wertester, quälen Sie ihn nicht etwa mit langen Gebeten. Kleist braucht das nicht. Der kommt ohnedies in den Himmel!«

*

König Friedrich ließ sich in Fürstenwalde, wo er sein Hauptquartier genommen hatte, täglich eine halbe Stunde Bachsche Musik vorspielen. Er war so niedergedrückten Gemütes, wie noch nie in seinem Leben, voller Sorge um die Zukunft des Staates und voller Trauer um die vielen Tapferen, die auf dem Schlachtfelde von Kunersdorf verblutet waren. Dabei lag eine ungeheure Arbeitslast auf ihm, denn die zersprengte Armee mußte wieder gesammelt, geordnet, zusammengeschweißt werden. So suchte er denn seine Erholung in den Tönen des gewaltigen Meisters; wenigstens vorübergehend trugen sie auf ihren Schwingen seine Seele aufwärts über alles Leid der Erde zu lichteren Höhen empor.

Auch gegen Abend des sechsundzwanzigsten August suchte er die schöne Domkirche auf, um sich so erbauen zu lassen. Drinnen präludierte schon der kunstreiche Organist, der Diener hatte die Pforte geöffnet, und der König war eben im Begriff einzutreten, als er hinter sich Hufschlag auf dem Pflaster vernahm. Er wandte sich um und sah einen Offizier mit seinem Reitknecht herankommen, beide ermattet und bestaubt.

Der Offizier sprang vom Pferde und warf dem Reitknechte die Zügel zu. Es war der tapfere Prittwitz, der als Rittmeister dem Könige bei Kunersdorf das Leben oder doch wenigstens die Freiheit gerettet hatte, indem er ihn mit vierzig Husaren aus einer erdrückenden Übermacht heraushieb. Nun war er Major und trug den Pour le merite.

Der König war sogleich umgekehrt und trat lebhaft auf ihn zu. »Na, Prittwitz, ist's geglückt? Ist Kleist ausgewechselt, und kann er transportiert werden?«

Über das gebräunte ehrliche Soldatengesicht des Majors senkte sich ein tiefer Schatten. »Majestät,« sagte er mit stockender Stimme, »Kleist ist tot. Er ist vorgestern in der Nacht ganz schnell und ruhig gestorben. Ich komme von seinem Leichenbegängnis.«

Der König sah ihn starr an und erwiderte kein Wort. Daher fuhr Prittwitz fort zu rapportieren:

»Die Russen haben ihn mit allen Honneurs begraben. Da kein preußischer Degen da war, legte ein russischer Major den seinen auf den Sarg. Er liegt neben dem Fürsten Lubomirsky.«

Der König erwiderte noch immer nichts und blickte stumm, auf seinen Krückstock gestützt, vor sich nieder. Als der Offizier ihn ansah, erschrak er über den steinernen Ausdruck, den sein Antlitz trug.

Endlich bewegte Friedrich die Lippen und murmelte vor sich hin: »Keith, Schwerin, Winterfeldt und wie viele andere! Nun auch der! Und gerade, als ich was aus ihm machen wollte. Es hätte noch so viel aus ihm werden können.«

Dann fuhr er auf: »Prittwitz, gehe er auf den Chor! Sage er dem Menschen, ich will heute keine Fugen hören. Er soll drei Verse spielen von dem Liede: Valet will ich dir geben. Dann holt er mich ab, hör' er!«

Mit müden Schritten ging der König in das Gotteshaus und setzte sich auf eine der vorderen Bänke. Bald darauf fluteten die herrlichen Klänge des alten Chorals durch den weiten, halb schon im Dämmerlicht liegenden Raum der Kirche.

Als die Melodie zu Ende war und der Organist nur noch ein leises Nachspiel folgen ließ, trat Prittwitz auf den König zu. Aber wenige Schritte vor ihm blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen, und es durchzuckte ihn wie ein Schlag. Denn er sah, was wohl noch wenige Sterbliche gesehen hatten: König Friedrich hatte sein Angesicht tief auf die Brust hinabsinken lassen und weinte. Große Tränen standen in seinen Augen und liefen über das verwitterte und vergrämte Gesicht.

Der Major war ein harter Kriegsmann, und so leicht rührte ihn nichts. Das aber überwältigte ihn ganz und gar. Er verlor alle Haltung, umfaßte einen Pfeiler, der vor ihm stand, und schluchzte dumpf auf.

Friedrich indessen hatte schon seine Fassung wiedergewonnen. Er erhob sich und stieß ihn leicht mit der Krücke seines Stockes gegen die Schulter. »Komm er, Prittwitz!« sagte er. »Das Flennen hilft uns nichts. Wir müssen leben und arbeiten, damit alle diese Braven und Treuen nicht umsonst gestorben sind.«


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