Paul Schreckenbach
Der getreue Kleist
Paul Schreckenbach

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Zweites Buch

I

Im Hause des Obristen von Schulze, des Kommandeurs der Königlichen Leib-Grenadiere in Potsdam, war große Galatafel. Der junge Prinz Wilhelm zu Brandenburg-Schwedt, ein naher Verwandter des Königlichen Hauses, erwies dem verdienten Kriegsmanne die Ehre, bei ihm zu speisen.

Außer der Hausfrau, die zur Rechten des hohen Gastes saß, nahmen nur Herren an dem Mahle teil, lauter Offiziere in den Uniformen der verschiedensten Regimenter. Ein einziger trug bürgerliches Gewand, und der saß ganz unten am Tisch. Es war der Sekretär des Prinzen, ein junger Rechtsgelehrter namens Gleim, der bei seinem Herrn sehr in Gunst stand, und den man aus Rücksicht auf diesen mit eingeladen hatte. Übrigens wurde er auch von dem Hausherrn, dessen Kinder er zurzeit mit unterrichtete, freundlichen Wohlwollens gewürdigt.

Die Unterhaltung, die im Anfang steif und einsilbig verlief, wurde bald sehr lebhaft. Denn der Prinz war ein feuriger, lebendiger Herr, der selbst vorzüglich zu plaudern verstand und heitere, anregende Geselligkeit liebte. Ein weiteres tat der Champagner, die Herzen der Gäste froh zu stimmen und ihre Zungen zu lösen.

Der Prinz hatte eben eines der hohen Gläser mit einem Zuge geleert. Nun beugte er sich nach links und flüsterte dem Gastgeber vertraulich zu: »Ist es nicht charmant, lieber Schulze, daß man in Preußen wieder lustig sein darf? Denken Sie einmal nach, wie das noch vor drei Jahren war, als der hochselige König lebte. Hätten Sie damals Ihren Gästen solchen Wein verabreicht, Sie hätten riskiert, als Verschwender nach Spandau zu kommen. Ich habe, weiß Gott, Diners im Königlichen Schlosse mitgemacht, wobei es nichts gab als Pökelfleisch mit Erbsen und Sauerkohl. Dazu trank man Ducksteiner Bier aus Zinnkrügen.«

Der Obrist lächelte. »Es war eine Zeit straffer Zucht. Aber sie hat sicher auch ihr Gutes gehabt, Durchlaucht.«

»Ohne Zweifell« bestätigte der Prinz. »Der alte Herr hat viel, viel vorbereitet. Ohne das Heer und den Schatz Seiner hochseligen Majestät hätte der König nicht bei Mollwitz und Czaslau gesiegt und Schlesien konqueriert. Und dennoch – ein Vivat der neuen Zeit und ihrer Sonne, König Friedrich!«

Er hob sein von neuem gefülltes Glas und hielt es dem Obrist entgegen. »Ein Vivat Seiner Majestät und Viktoria über alle seine Feinde!« rief der und stieß mit dem Prinzen an.

»Sie sind auch der Meinung, lieber Obrist, daß uns die Dame in Wien attackieren wird, sobald sie kann?« fragte der Prinz.

»Sicherlich, Durchlaucht. Die Königin von Ungarn ist eine mutige Frau, hat mehr Valeur als die meisten Männer. Und sie kann den Verlust ihrer schönen Provinz und das Malheur der letzten Kampagne nicht überwinden. Man erzählt, sie breche in Tränen aus, wenn sie nur den Namen Schlesien höre. Da kann man leicht erraten, wohin ihre Gedanken gehen.«

Der Prinz nickte. »Wir stehen vielleicht am Vorabend einer neuen großen Kampagne.«

Während dessen war ein Diener mit einem Billett neben den Stuhl des Obristen getreten. »Dienstlich?« fragte der. »Es ist vom Diener des Herrn Leutnants von Kleist abgegeben,« war die Antwort.

»So, so!« brummte der Obrist, und eine Unmutswolke erschien auf seiner Stirn. »Er exküsiert sich doch wenigstens.«

»Ah!« rief der Prinz, »ist das der Offizier, den Sie mir heute präsentieren wollten? Na, da lesen Sie man, was mit ihm los ist.«

Der Obrist überflog das Blatt. »Ein plötzliches Malheur hat ihn aufs Krankenlager geworfen.«

Der Prinz lachte. »Na, solche Malheurs sind bei unsern Herrn Leutnants nichts Seltnes. Er wird ein Renkontre gehabt und dabei eins weggekriegt haben.«

»Wohl möglich, Durchlaucht. In den jungen Kerls ist ja der Teufel. Aber er tut mir leid, ich wollte ihn Eurer Durchlaucht rekommandieren. Schade, schade! Der Monsieur hat viel Genie, scheint mir aber ein Pechvogel zu sein.«

»Was nicht heute ist, kann ja morgen werden,« tröstete der Prinz. »Worin exzelliert er denn übrigens?«

»Er ist voller Kenntnisse, Durchlaucht, wie man sie selten findet. Er schreibt und spricht sieben Sprachen.«

Der Prinz öffnete den Mund weit vor Erstaunen. »Ein Leutnant? Incroyable! Wer hat ihm denn solche Wissenschaft beigebracht?«

»Deutsch und Französisch hat er im Elternhause gelernt, Polnisch wohl auch, denn er ist dahinten an der Grenze zu Hause. Dann haben ihn die Jesuiten erzogen und zu einem Lateiner und Griechen gemacht, Italienisch lernte er auf der Universität –«

»Da war er auch?«

»In Königsberg. Aber nur kurze Zeit. Er sollte Jus studieren, doch die Verhältnisse seines Vaters waren derangiert, und er trat deshalb als Offizier in dänische Dienste, denn er ist mit den Zeppelins und Folkersambs verwandt. Dort lernte er natürlich Dänisch.«

»Und wie kam dieses Wundertier in unsere Dienste?«

»Seine Majestät befahlen gleich nach Hochdero Regierungsantritt den Landeskindern, die fremden Kriegsdienste zu verlassen.«

»So ist er schon mehrere Jahre bei uns? Wie hat er sich denn in den Bataillen des letzten Krieges aufgeführt?«

Der Obrist wiegte bedauernd das Haupt hin und her. »Das ist es ja eben. Er ist ein Pechvogel. Er brennt vor Ruhmbegierde, aber sein Regiment ist gar nicht ins Feuer gekommen.«

»En verité, das nennt man Pech,« versetzte der Prinz. »Indessen solch ein Mensch kann dem Könige auch andere Dienste leisten als auf dem champ de bataille. Man sollte ihn einer Ambassade attachieren.«

»Daran dachte ich auch, Durchlaucht,« erwiderte der Obrist eifrig nickend. »Als Attaché bei einem Gesandten oder Residenten könnte er Erspießliches leisten. Er stellt auch was vor, ist ein schöner Mann, hochgewachsen mit intelligentem Gesicht. Es wird Eurer Durchlaucht ein leichtes sein, Seine Majestät für ihn zu interessieren.«

Der Prinz schlug den Obristen vertraulich aufs Knie. »Das ist nicht so leicht, wie Sie denken. Der König hat seinen Kopf höllisch für sich, wer ihm paßt, der paßt ihm, und wen er nicht mag, den mag er nicht. Oft entscheidet der erste Eindruck. Favorisiert er einen nicht sogleich, so favorisiert er ihn meist überhaupt nicht. Doch will ich sehen, was sich tun läßt.« Er bog sich über den Tisch weit vor und rief: »Gleim!«

Der Angeredete stand ehrerbietig auf. »Eure Durchlaucht?«

»Geh er nachher zu dem Leutnant von Kleist. – Welches Regiment, lieber Obrist?« –

»Seiner Hoheit des Prinzen Heinrich Regiment. Er wohnt im Gartenhause des Kornhändlers Burgeroth.«

»Na, da hört er's. Der Leutnant liegt krank. Wenn er wieder gesund ist, soll er sich bei mir melden.«

»Wie Eure Durchlaucht befehlen.«

»Er kann ein Stück mit mir gehen,« sagte der Leutnant von Seydlitz. »Premierleutnant von Kleist steht bei meinem Regiment, und ich bin ihm genau befreundet«. Dann raunte er, als die Unterhaltung der anderen wieder lauter wurde, dem Sekretär zu: »Entre nous – das braucht aber sein Prinz nicht zu wissen – Kleist hat ein Renkontre gehabt mit dem von Stojentin und hat einen verfluchten Stich in den Arm wegbekommen. Es ist eine verdammte Chose. Ich war vorhin bei ihm. Der arme Kerl hat das Wundfieber und ist ganz krank. Es wird ihn recht ermuntern, wenn er hört, daß Seine Durchlaucht sich für ihn interessiert.«

So kam es, daß eine Stunde später der junge Dichter und derzeitige prinzliche Sekretär Wilhelm Ludwig Gleim dem Premierleutnant Ewald von Kleist eine Visite abstattete. Der Auftrag war ihm anfangs unbehaglich, denn er erwartete in dem verwundeten Offizier einen der Säbelraßler und Raufbolde zu sehen, deren er in Berlin und Potsdam nur allzu viele kennen gelernt hatte. Aber das Häuschen, das sich der junge Premierleutnant zur Wohnstätte ausgewählt hatte, nahm den Naturschwärmer Gleim sogleich sehr für ihn ein. Es lag im Grünen, tief versteckt unter hohen Bäumen und blühendem Gesträuch, nicht weit von den Ufern der Havel, deren helles Wasser man hie und da durch die Gebüsche schimmern sah. Wunderlich, daß ein Offizier hier sein Zelt aufschlagen mochte! Sinn für die idyllische Schönheit der Natur war unter den Herren Leutnants König Friedrichs eine sehr, sehr seltene Sache.

Noch angenehmer überrascht ward Gleim, als er den selbst erblickte, dem sein Auftrag galt. Kleist saß vor seinem Gartenhause in einem großen Lehnstuhl, von einem leichten Mantel bedeckt, den verwundeten Arm in dichte Binden gehüllt tragend, und genoß offenbar den schönen Sommerabend, dessen untergehende Sonne glühendrot hinter den Bäumen versank. Er wandte dem Herantretenden freundlich sein Antlitz zu, ein Antlitz, dessen offener, männlicher und zugleich seelenvoller Ausdruck auf Gleim geradezu frappierend wirkte.

Als dieser sich vorgestellt und den Auftrag seines Prinzen ausgerichtet hatte, überflog das blasse Gesicht des Verwundeten ein Freudenschimmer. »Setzen Sie sich, mein Herr,« sagte er auf einen Rohrstuhl deutend, der in der Nähe stand. »Empfangen Sie meinen Dank und sagen Sie vor allen Dingen Seiner Durchlaucht meinen untertänigsten und ehrerbietigsten Dank für das gnädige Interesse, das er an mir zu nehmen geruht. Ich werde nicht verfehlen, auf der Stelle nach meiner Genesung mich zu melden. Vorläufig,« setzte er mit einem leichten Seufzer hinzu, »scheint es damit allerdings noch gute Wege zu haben.«

»Sie sind schwer verwundet?« fragte Gleim teilnehmend.

»Es scheint so. Eine Ader ist getroffen. Aber woher wissen Sie –?«

»Herr Leutnant von Seydlitz hielt es für gut, mich aufzuklären. Er glaubt anscheinend, ich könnte sonst Seiner Durchlaucht etwas vorschwatzen, was für seinen Freund nicht opportun wäre.«

Kleist lächelte. »Ja, offiziell darf ja von solchen Sachen nicht die Rede sein. Der König schickt jeden nach Spandau oder Küstrin, der dabei geklappt wird. Wer sich aber weigern würde, Satisfaktion zu geben oder zu fordern, der würde kassiert. Es ist eine kuriose Welt, und ich begreife nicht, warum man nicht den Mut der Wahrheit hat. Doch müssen wohl sehr importante Gründe dafür sein, wenn selbst Seine Majestät der König, der sonst die fleischgewordene Wahrhaftigkeit ist, dieses Gaukelspiel bestehen läßt. Na, jedenfalls – dem Prinzen erzählen Sie etwas von einem Unfall. Er weiß ja die Wahrheit, aber er darf sie nicht wissen.«

»Natürlich, natürlich,« beeilte sich Gleim zu erwidern.

»Es ist eine ganz verwünschte Lage, in der ich mich befinde,« begann Kleist von neuem. »Es liegt mir so viel daran, gesund zu sein – es steht so Wichtiges für mich auf dem Spiele – gerade jetzt – und nun kommt auch noch diese ehrenvolle Einladung, der ich nicht folgen kann. Und gibt es überhaupt etwas Miserableres für einen jungen Mann, als krank in einem Stuhl zu sitzen oder im Bett zu liegen? Diese elende Langeweile! Wenn nur erst der verdammte Stich wieder heil wäre!«

»Sind Sie nicht ein Freund vom Lesen?« fragte Gleim fast zaghaft; denn einem Offizier gegenüber war das eine etwas gewagte Frage. Das Bücherwesen stand im allgemeinen tief in der Achtung derer, die der Ehre gewürdigt waren, den Sponton zu tragen.

Wider Erwarten antwortete jedoch Kleist lebhaft: »Lesen? O ja, sehr gern. Aber mir fehlen die Bücher.«

»Ich würde Ihnen mit Freuden welche zur Verfügung stellen.«

»Sehr obligiert,« sagte Kleist und versuchte, sich dankend zu verbeugen. »Aber, wenn ich bitten darf, keine französischen Romane. Die mag ich nicht.«

»Also deutsche Bücher. Ich weiß nicht, woher ich die Kühnheit nehme, Sie zu fragen, Herr Premierleutnant: Sind Sie ein Liebhaber der Poesie? Die idyllische Umgebung Ihres Hauses veranlaßt mich wohl dazu.«

Kleists Antlitz überflog ein schwermütiges Lächeln. »Ich bin ein Landkind und kann die ländliche Schönheit der Natur nicht vergessen,« erwiderte er. »Ich bin aufgewachsen auf einem Schlosse in Pommern. Das ist nun nach dem Tode meines Vaters in andere Hände übergegangen, aber ich habe daselbst noch ein Gut, Ruschitz, und es ist mein sehnlicher Wunsch, einst, wenn ich alt bin, dort in Ruhe meinen Kohl zu pflegen und auf meiner Scholle zu sterben. Einstweilen behelfe ich mich mit dem bißchen Natur hier, so gut ich kann. Wenn ich vom Dienste komme, macht mir's Freude, hier in den Havelgebüschen die Nachtigallen schlagen zu hören.«

»Sie werden viel von dieser Stimmung wiederfinden in dem ›Frühling‹ des Herrn Uz, den ich mir erlauben werde, Ihnen zuzusenden. Wie wäre es außerdem mit dem ›Tempel der wahren Dichtkunst‹ von Pyra? Diesen Verfasser habe ich das Vergnügen persönlich zu kennen.«

»Sie sind sehr freundlich, mein Herr,« versetzte Kleist, etwas belustigt von dem Eifer des fremden jungen Mannes, der ihm aber wohl gefiel. »Ich kenne von dem allen nichts, aber es wird mir eine Freude sein, es auf Ihre Empfehlung hin kennen zu lernen.«

»Noch heute abend sende ich Ihnen die Bücher,« sagte Gleim, sich erhebend. »Und Sie gestatten wohl, daß ich in einigen Tagen mich persönlich erkundige, ob sie Ihren Beifall gefunden haben.«

»Bitte sehr darum. Ich werde Ihrem Besuch mit dem größten Vergnügen entgegensehen. Leider kann ich Sie nicht zur Tür geleiten. Hier haben Sie meine linke Hand. Die rechte liegt in der vermaledeiten Binde.« –

Gleim entfernte sich und schritt in tiefen Gedanken seiner entfernt liegenden Wohnung zu. Er entsann sich kaum, daß ein Mensch je auf ihn einen so anziehenden Eindruck gemacht habe wie dieser Offizier, der wohl nur wenig älter sein mußte als er selbst. Gesicht, Stimme, Haltung des jungen Edelmannes – alles hatte etwas ungemein Sympathisches für ihn, er fühlte sich geradezu magnetisch von ihm angezogen.

So ließ er kaum zwei Tage verstreichen, bis er seinen Besuch wiederholte. Er fand den Verwundeten diesmal nicht im Freien, sondern in dem kleinen Mansardenzimmer seines Hauses. Sowie er seiner ansichtig wurde, erkannte er, daß sein Befinden sich verschlimmert haben müsse, denn das Gesicht war erschreckend bleich, und die großen Augen, die tief in den Höhlen lagen, glänzten fieberisch.

Der Kranke streckte ihm von seinem Lager aus die Hand entgegen. »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Monsieur Gleim. Aber, mein Himmel, was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Ich bin erschrocken, Herr von Kleist, Sie liegend und so elend zu finden.«

»So? Sieht man mir das an?«

»Leider sehr.«

Kleist sank auf sein Kissen zurück und seufzte. »Ja, es ist eine miserable Lage, in der ich mich befinde. Und daß es gerade jetzt sein muß, gerade jetzt! Ich werde Ihrem Prinzen rekommandiert, er läßt mich rufen, ich kann nicht erscheinen. Ich werde in Berlin erwartet, in wichtiger, allerwichtigster Angelegenheit, ich liege hier und kann mich kaum rühren. Es ist um desperat zu werden!«

»Wenn ich Ihnen irgendwie dienen, irgendwie nützen kann, so befehlen Sie ganz über mich.«

Kleist heftete seinen Blick fest auf das Gesicht seines Besuchers und lächelte freundlich. »Sie sind offenbar ein guter, edler Mensch,« sagte er. »Aber Sie können mir leider nicht helfen. In Berlin hält sich zu dieser Zeit eine Dame auf, die mir sehr teuer ist. Mit solchen Angelegenheiten behelligt man keinen Dritten. Sie verstehen. – Nein,« setzte er, abermals tief aufseufzend, hinzu, »ich muß mich in Geduld fassen, bis es Gott gefällt, mich wieder herzustellen. Also lassen wir das. Reden wir von anderem. Ich fühle mich gedrungen, Ihnen herzlich zu danken, Monsieur Gleim, für die Bücher, die Sie mir gütigst zugesendet haben. Sie haben mir nicht nur über die Langeweile hinweggeholfen, sie waren mir viel mehr. Sie haben auf mich gewirkt – ja, ich kann wohl sagen, wie eine Offenbarung.

»Wieso das?« fragte Gleim eifrig und rückte näher.

»Seit Jahren ärgert mich,« fuhr Kleist fort, »daß man dem Deutschen alle Fähigkeit zur Dichtkunst abspricht. Man nennt unsere Sprache eine grobe, polternde, unbeholfene Sprache, in der man keinen Gedanken mit Grazie ausdrücken könne. Unser erhabener Monarch hegt ja selbst dieses Vorurteil. Wenn aber mehr solcher Dichter auftreten werden wie dieser Herr Pyra und Herr Uz, dann wird das bald kein Mensch mehr sagen. Denn hier ist Grazie, Feinheit, Anmut – was Sie wollen. Das hat mich ungemein gefreut, und wenn Sie mehr von diesen oder ähnlichen Autoren besitzen, so lassen Sie mir's ja zukommen.«

Gleim hatte mit glänzenden Augen zugehört. »Ist es nicht wunderbar?« rief er, als der Kranke geendet. »Bei Ihrem ersten Anblick sagte mir eine innere Stimme: Das ist ein Mann, der die Sprache der Musen leiden kann! Ich habe mich nicht getäuscht.«

»Nein,« erwiderte Kleist. »Sie haben darin richtig kalkuliert. Ich habe von jeher, schon seit meinen Knabenjahren, eine eigentümliche Zuneigung zur Poesie. Aber nun sagen Sie einmal: Sie sind, wenn ich mich recht Ihrer Worte erinnere, mit einem dieser Dichter persönlich bekannt?«

»Mit Pyra. Ich gehörte in Halle zu seinem poetischen Kränzchen.«

»Der Tausend! So dichten Sie auch?«

Gleim lächelte fast verschämt. »Es werden demnächst anakreontische Gedichte von mir in Druck erscheinen.«

»Das ist ja höchst interessant. Darf man vielleicht vorher Einblick in das Manuskript nehmen?«

»Ihnen möchte ich's nicht abschlagen,« erwiderte Gleim. »Ich habe hier in meiner Brieftasche ein paar scherzhafte Lieder. Ich bin leider kein exzellenter Rezitator, aber, wenn Sie vorliebnehmen wollen, will ich sie Ihnen gern vorlesen.«

»Ich bitte darum. Es wird mich aufs höchste interessieren.«

Gleim nahm verschiedene Blätter hervor, rückte sich zurecht und las, nachdem er sich mehrmals geräuspert hatte, ein Lied, das anhub: »In dem Garten, den ich liebe« und den Titel: Der Vermittler trug.

»Das ist famos!« rief Kleist, als der Vorleser das Blatt sinken ließ. »Sie sind ja wirklich ein Poet, Monsieur! Ja, wahrhaftig, auch Sie haben Humor und Grazie. Haben Sie noch mehr dergleichen?«

»Hören Sie noch dies,« versetzte Gleim, nicht wenig erfreut und geschmeichelt, und er las das Gedicht: »Tod, kannst du dich auch verlieben.«

Als er geendet hatte, lachte der Verwundete laut auf. Er hatte offenbar während des Zuhörens ganz vergessen, daß er verwundet war, denn er machte eine heftige Bewegung und brachte dadurch den verbundenen Arm in eine unrechte Lage, so daß er plötzlich einen scharfen Schmerz empfand und einen Schrei ausstieß.

Gleim ließ seine Blätter zur Erde fallen und sprang bestürzt auf. »Mein Gott, was ist Ihnen?«

»Donnerwetter,« stöhnte Kleist. »Ich weiß nicht, was das ist. Ich glaube, die Ader ist aufgesprungen. Das Blut kommt schon gesickert. Rufen Sie meinen Diener Jacques, er soll sogleich zum Wundarzt.«

Gleim rannte an die Treppe und schrie aus Leibeskräften, aber niemand erschien.

»Nun ist der Esel fort, gerade wenn er gebraucht wird. Dieses Bedientenpack! Es ist doch kein Verlaß auf die Rackers!« schimpfte Kleist.

»Ich gehe selbst. In ein paar Minuten bin ich wieder da!« rief Gleim, ergriff seinen Hut und sprang die Treppe hinunter.

Als er etwa zehn Minuten später mit dem Feldscher wiederkehrte, fanden sie den Kranken halb ohnmächtig in einer Blutlache liegend. Der erschrockene Jünger Äskulaps entfernte, so eilig er vermochte, den Verband und atmete dann sichtbar erleichtert auf. »Die Blutung steht,« erklärte er. »Die Chose hat nicht viel zu bedeuten, denn der Herr Premierleutnant haben eine kräftige Natur. Es ist sogar gut, daß es so gekommen ist, denn, Gott straf mich, hier wäre der kalte Brand hinzugetreten, wenn der Verband nicht abgenommen wäre. Die Spuren davon sind schon da.«

»Also Glück im Unglück«, sagte Kleist, der wieder bei voller Besinnung war. »Muß ich ins Lazarett?«

»Gott bewahre. Ruhe und ein paar Tage gute Pflege, da hilft sich die Natur schon von selbst.«

»Ja, gute Pflege! Hat sich was!« seufzte Kleist. »Mein Diener ist ein Schaf, gutmütig, aber dumm. Wachen kann er auch nicht eine Stunde.«

»Ich bleibe bei Ihnen,« rief Gleim. »Es trifft sich gut. Mein Prinz ist nach Berlin gefahren und kehrt erst übermorgen zurück. Bis dahin stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

»Aber mein Herr, wie komme ich zu dieser Freundlichkeit?« murmelte Kleist, der wieder schwächer wurde.

»Es ist mir eine Freude. Wir senden durch Ihren Diener ein paar Zeilen an den Haushofmeister des Prinzen, damit er weiß, wo ich bin, und ich bleibe gleich hier.«

So geschah es denn auch, obwohl der Verwundete noch mehrmals widersprach. Gleim blieb die Nacht in der Klause des Offiziers, den er vier Tage vorher nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte. Er rückte ihm die Kissen zurecht, gab ihm zu trinken, wenn er in der Fieberhitze danach verlangte, und wich kaum eine Minute von seinem Lager.

Auch den ganzen folgenden Tag leistete er ihm Gesellschaft, las ihm vor und unterhielt sich mit ihm über alle möglichen Dinge, wobei sich meist ein wunderbares Zusammenstimmen der Gedanken und Meinungen ergab.

Am dritten Morgen ward ihm ein Billett seines Prinzen gebracht, das seine schleunige Abfahrt nach Berlin forderte. »Ich verlasse Sie ja leider noch schwach, aber Gott sei Dank, doch ganz auf dem Wege der Rekonvaleszens,« sagte er. »In wenigen Tagen kommen wir zurück, da hoffe ich Sie wohlauf zu finden.«

»Mein Herr Gleim,« entgegnete Kleist mit einiger Feierlichkeit und richtete sich auf. »Sie haben mir einen großen, vielleicht unschätzbaren Dienst erwiesen. Und ich habe Sie in diesen Tagen kennen gelernt. Sie sind nicht nur ein Mann von Geist, Sie sind, was viel mehr ist, ein Mann von Herz. Ich habe seit meiner Jugend keinen Menschen ›Freund‹ genannt. Sie aber möchte ich so nennen. Wollen Sie?«

»Mit tausend Freuden!« rief Gleim und ergriff mit Tränen in den Augen die Hand des Verwundeten. »Es gibt Sympathien der Seelen! Wahrhaftig! Zu Ihnen hat mich gleich beim ersten Anblick mein ganzes Herz hingezogen!«

»So gehen Sie jetzt mit Gott, mein lieber Freund, und kommen Sie recht bald zu mir zurück. Ich werde die Stunden bis zu Ihrer Rückkehr zählen.«


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