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XIII. Kapitel.
Der dritte Verhandlungstag.

Schon als Sir Algernon an diesem Morgen die Verhandlung eröffnete, bemerkten die Zuhörer, daß seit dem Schluß des gestrigen Verhandlungstages und dem Beginn des heutigen sich irgend etwas zugetragen haben müsse, was dem ganzen Fall einen anderen Anstrich zu geben geeignet sein mußte.

Sir John Ruskin hatte seinen Platz noch nicht eingenommen. Nur der zweite Staatsanwalt war anwesend, blätterte jedoch zerstreut in seinen Akten. Die beiden Verteidiger unterhielten sich lebhaft. Auf der Zeugenbank hatte Boscombe Platz genommen. Man hatte beschlossen, ihn als ersten Zeugen dieses Tages zu vernehmen. Damit gingen sowohl Verteidigung als auch Anklagebehörde von der üblichen Folge insofern ab, als die Entlastungszeugen, zu denen Boscombe unstreitig gehörte, meist erst nach den Zeugen der Staatsanwaltschaft vernommen zu werden pflegten. Die Mitteilungen, die Sir Malcolm vor Verhandlungsbeginn dem Vorsitzenden und Sir John gemacht hatte, schienen dieses Abgehen von der Gepflogenheit zu rechtfertigen, denn beide Herren hatten nach Anhörung der von dem Verteidiger vorgebrachten Gründe ihr Einverständnis zur vorherigen Vernehmung Boscombes gegeben.

Kurz nach dem Gerichtshof erschien auch Sir John und nahm nach einer Verbeugung gegen den Richtertisch seinen Platz neben dem Kollegen ein.

»Der Zeuge Dawley Boscombe!« rief der Gerichtsdiener aus, und der Detektiv trat vor die Schranken.

Sir John erhob sich:

»Mylord! Meine Herren Geschworenen! In Anbetracht der von der Verteidigung vorgebrachten Gründe hat die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis damit erklärt, die Reihe der Belastungszeugen vorläufig nicht weiter zu vernehmen, sondern einen Zeugen der Verteidigung heute als ersten auf die Zeugenbank zu rufen. Ich erkläre mich weiter damit einverstanden, daß die Verteidigung die Vernehmung dieses ihres Zeugen selbst in die Hand nimmt, behalte mir allerdings das mir zustehende Recht des Kreuzverhörs vor.«

Er setzte sich wieder, ohne auch nur einen Blick in den Zuhörerraum und auf die Geschworenenbank zu werfen, wo seine Mitteilungen eine kleine Sensation erregt hatten.

Sir Malcolm stand auf:

»Mylord! Meine Herren Geschworenen! Ich danke der Anklagebehörde für die mir gegebene Erlaubnis, heute als ersten einen Zeugen der Verteidigung zu vernehmen. Das Recht späteren Kreuzverhörs gestehe ich der Anklagebehörde ausdrücklich zu. Zeuge Dawley Boscombe! Sind Sie bereit, heute hier nach bestem Wissen und Gewissen die an Sie gerichteten Fragen zu beantworten und sie, wenn es von Ihnen verlangt wird, zu beeiden?«

»Jawohl, Sir.«

Der Vorsitzende, und mit ihm sämtliche Anwesenden, erhoben sich.

»Zeuge Boscombe: Sprechen Sie mir den Eid nach.«

Der Zeugeneid wurde geschworen.

Sir Malcolm trat neben den Zeugen.

»Wie heißen Sie?«

»Dawley William Boscombe, Sir.«

»Wie alt sind Sie?«

»Einundfünfzig Jahre.«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Nach langjähriger Tätigkeit als Kriminalbeamter bei Scotland Yard machte ich mich als Privatdetektiv selbständig.«

»Womit befassen Sie sich in dieser Ihrer neuen Tätigkeit?«

»Meist mit Nachforschungen in Zivilprozeßsachen.«

»Betätigten Sie sich nach Ausscheiden aus dem Staatsdienst auch kriminalistisch?«

»Mehrere Male.«

»Kennen Sie den am ersten Verhandlungstag vernommenen Zeugen Haley?«

»Jawohl. Er war mir als Erpresser schon bekannt, als ich noch bei Scotland Yard tätig war.«

»Kennen Sie sonst noch jemand, dessen Name in diesem Prozeß besonders hervorgetreten ist?«

»Ich kenne Graves, den Schwager des Ermordeten.«

»Persönlich?«

»Jawohl, aber auch aus seiner kriminellen Betätigung.«

»Was ist Ihnen darüber bekannt?«

»Er genoß einen wenig beneidenswerten Ruf als Raufbold, als Mann, dem es auf ein Menschenleben gar nicht ankommt, wenn es ihm bei einem seiner Pläne im Weg stehen sollte.«

»Ein Totschläger, ein gewalttätiger Mensch also?«

»So kann man ihn, ohne zu übertreiben, bezeichnen, Sir.«

»Wer sonst ist Ihnen aus diesem Prozeß von früher her bekannt?«

»Die Angeklagte.«

»Aus diesem Prozeß, oder schon von früher her?«

»Seit ihrer Verheiratung mit Lord Montauban.«

»Ist Ihnen irgend etwas Nachteiliges über die Dame bekannt geworden?«

»Nein, nie. Im Gegenteil, so oft ich ihren Namen erwähnen hörte, war es nur im besten Sinn; ich bedauerte sie des öfteren, weil sie ihre Jugend an einen Greis gefesselt hatte.«

»In welcher Beziehung hörten sie den Namen Lady Winifreds erwähnen?«

»Man bedauerte sie. Einem Toten soll man nur Gutes nachreden, aber, was ich von Lord Montauban wußte und hörte, macht es mir schwer, diese Pflicht der Pietät zu erfüllen.«

»Ist das, was Sie aus Montaubans Leben erfuhren, bewiesen, oder handelt es sich nur um Klatsch.«

»Teils ja, teils nein.«

»Erzählen Sie uns das, was Sie als erwiesen betrachten.«

»Lord Montauban war keineswegs der ehrenhafte Kaufmann, als der er in breitesten Volkskreisen galt.«

Diese Aussage erregte eine starke Sensation. Sogar der Vorsitzende blickte interessiert von der Betrachtung seiner Hände auf. Der erste Staatsanwalt wollte etwas sagen, schien es sich aber anders überlegt zu haben, denn er setzte sich wieder. Im Zuhörerraum brandete verhaltenes Flüstern.

Lächelnd wartete Sir Malcolm das Abflauen der Geräusche ab. Dann wandte er sich an den Gerichtshof:

»Mylord! Meine Herren Geschworenen! Der Zeuge wird Ihnen nun eine Schilderung zu geben versuchen, die seine Bemerkung, Lord Montauban sei nicht der ehrenhafte Kaufmann gewesen, für den er gehalten worden war, rechtfertigen wird. Es tut mir persönlich sehr leid, daß hier aus einer Verhandlung gegen Lady Montauban ein Gericht über deren verstorbenen Gatten geworden ist. Es ist aber absolut notwendig geworden, diesen Fall so weit wie möglich zu klären. Aus dieser Klärung wird sich die Schuldlosigkeit meiner Mandantin über jeden Zweifel erhaben herausstellen.«

»Ihnen ist es bewußt, Herr Zeuge,« wandte er sich nun wieder an Boscombe, »daß Sie Ihre Angaben werden beweisen müssen, nicht wahr?«

»Ich bin mir meiner Verantwortung vollkommen bewußt, Sir Malcolm. Was ich hier vorzubringen beabsichtige, ist von mir eingehendst geprüft und für richtig befunden worden.«

»Bitte, schildern Sie, und zwar so eingehend wie möglich, was Ihnen mit Beziehung auf Lord Montauban bekannt geworden ist.«

»Lord Montauban zog sich, wie Sie vielleicht wissen, von seinen offiziellen Geschäften kurz nach dem Krieg zurück. Während des Krieges widmete er sich einer ganz anderen Tätigkeit, als seine Umgebung, die ihn für einen ruhebedürftigen Herrn hielt, sich vorstellte. Schon 1915 wurde uns in Scotland Yard berichtet, daß eine Rauschgiftschmugglerbande ihr Wesen triebe und vor allen Dingen ins Feld ziehende Truppen mit den tödlichen Giften versorge. Alle Anstrengungen des Dezernats, der Bande das Handwerk zu legen, blieben erfolglos. Man konnte zwar hin und wieder kleinere Missetäter ergreifen, die das Gift an die einzelnen Verbraucher verkauft hatten, die Führer aber, die hinter ihnen standen, entkamen uns immer wieder. Erst einige Jahre nach dem Krieg, und kurze Zeit nachdem ich aus dem Dienst des Staates ausgeschieden war, faßte man einen Rädelsführer namens Grootman, einen Holländer. Der Mann wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und vor etwa einem halben Jahr aus Dartmoor entlassen. Dieser Grootman war, wie ich feststellen konnte, ein intimer Freund Lord Montaubans.«

»Soll das heißen, daß der letztere sich ebenfalls mit Rauschgifthandel die Hände schmutzig gemacht hatte?« fragte aufspringend Sir John.

»Ich werde Ihnen die Beweise für meine Behauptung liefern, Sir John«, bestätigte Boscombe.

»Mit Grootman zusammen wurden einige kleinere Hechte gefischt, die mit mehr oder minder schweren Strafen abwanderten. Ein hervorragendes Mitglied der Bande war auch ein gewisser Perth, der Schwager dieses Grootman, der von irgend jemand der Polizei ›verzinkt‹, verraten worden war. Dieser Perth wieder war ein guter Freund des vor diesem Gericht vernommenen Haley.«

Jetzt zum ersten Male mischte sich der Vorsitzende in das Verhör.

»Seit wann sind Sie im Besitz dieser Kenntnis, Mr. Boscombe?«

»Erst seit gestern abend, Mylord. Ich war zwar oberflächlich darüber unterrichtet, daß Lord Montauban sich mit dieser Rauschgiftbande identifiziert hatte – aber Beweise für diese meine Vermutungen hatte ich noch nicht.«

»Bitte, erzählen Sie weiter.«

»Grootman wurde, wie ich schon andeutete, vor wenigen Monaten aus Dartmoor entlassen. Sein Freund Perth, der nur zwei Jahre auferlegt bekommen hatte, holte ihn ab. Am selben Abend, kurz nach ihrer Ankunft in London, trafen sie mit Haley zusammen. Ein Vierter wurde zur Unterredung hinzugezogen, Mr. Graves, der Schwager Lord Montaubans.«

Es bedurfte der Androhung schärfster Maßregeln von Seiten des Vorsitzenden, um die Ruhe im Zuhörerraum wieder herzustellen. Die Bekundungen des Detektivs waren nicht nur für das Auditorium eine Ueberraschung, auch die Geschworenen, ja der Lordrichter selbst waren auf das höchste gespannt.

Die Anklagebehörde sah ihre Felle davonschwimmen.

»Sie scheinen außerordentlich gut unterrichtet zu sein, Mr. Boscombe«, meinte, sich erhebend, schneidend Sir John. »Darf man wissen, woher Sie alle diese Kenntnisse schöpfen?«

»Sie waren stadtbekannt, Sir; wenigstens in den betreffenden Kreisen sprach man offen davon.« Er verbeugte sich vor dem Gerichtshof. »Natürlich, Mylord und meine Herren Geschworenen, habe auch ich Zuträger, die mich über das, was in den Verbrecherkreisen Londons vorgeht und was mich in Verbindung mit diesem all interessierte, auf dem Laufenden hielten.«

»Fahren Sie fort, Mr. Boscombe«, meinte Sir Algernon gnädig.

»Daß die damaligen Verhandlungen irgendwie Lord Montauban betrafen, ging daraus hervor, daß Graves am nächsten Tag mit seinem Schwager eine lange Unterredung hatte, die dem ersteren einen Scheck über viertausend Pfund einbrachte. Es handelte sich um einen Barscheck auf Barclays Bank gezogen, der von Graves noch am gleichen Tag vorgelegt und einkassiert wurde. Perth schien sich durch den Verteilungsmodus, den Graves bei diesem Scheck anwandte, der sicherlich von Montauban als Schweigegeld gedacht war, benachteiligt gefühlt zu haben, denn als er wieder mit seinem Gesandten Graves zusammentraf, kam die schönste Keilerei zwischen den beiden zustande. Perth zog den kürzeren; er wurde schwer verletzt in das Krankenhaus eingeliefert. Graves aber verschwand auf einige Wochen vom Schauplatz. Als er Anfang Juni dieses Jahres wieder auftauchte, fand ihn Grootman schnell. Pack schlägt sich; es verträgt sich aber auch wieder, wenn lebenswichtige Interessen für beide Teile auf dem Spiel stehen. So war es auch hier. Grootman verzieh dem Schwager Montaubans die Unterschlagung des Schweigegeldes, denn das Hühnchen, das er mit dem Geldgeber zu rupfen beabsichtigte, schien ihm wichtiger als kleinliche Rache an seinem Komplizen Graves. Beide arbeiteten einen Plan aus, der an Raffiniertheit seinesgleichen sucht. Wie Ihnen, Mylord und meine Herren Geschworenen, bekannt sein dürfte, stand Anfang Juni der Schlußtermin im Scheidungsprozeß Montauban bevor. Mr. Macdonald, auf den ich sofort zu sprechen kommen werde, hatte sich mit Lady Montauban befreundet, die ihn schätzen gelernt hatte. Es lag in seiner schauspielerischen Natur, von kleinen Dingen, die nur ihn interessieren konnten, ein großes Aufheben zu machen. Seine Freundschaft mit Lady Montauban wurde dadurch bald zum allgemeinen Gesprächsstoff in Schauspielerkreisen und – war es anders zu erwarten? – kam auch den Herrschaften zu Ohren, die in Haley einen erstklassigen Berichterstatter im Haus Montauban zur Verfügung hatten. Auf diese Freundschaft bauten die Verschworenen. Haley wurde Spion, der jedes Zusammentreffen Lady Winifreds mit Mr. Macdonald an Lord Montauban zu berichten und aufzubauschen hatte. Bei der Besprechung eines neuen Stückes führte Mr. Macdonald vor seiner Gönnerin eine Szene auf, die wirkliche Liebesleidenschaft zum Ausdruck bringen sollte. Er warf sich, eben in Wiedergabe des Stückes, Lady Montauban zu Füßen. In diesem Augenblick erschien, sorgfältig von Haley vorbereitet und aufgestachelt durch die fortgesetzten Einflüsterungen Graves' und Haleys, Lord Montauban im Salon. Der Kniefall Macdonalds, an und für sich harmlos, bot ihm einen Grund, die Scheidungsklage gegen seine Gattin einzureichen. Am siebenzehnten Juni wurde die Ehe geschieden. Am folgenden Tag wurde Lord Montauban von seinem Schwager Graves benachrichtigt, daß Macdonald sich ihm gegenüber bereit erklärt habe, dem Lord die mit Lady Montauban angeblich geführte Korrespondenz auszuhändigen. Wie man den Schauspieler dazu bekommen hatte, zu dieser Komödie hilfreiche Hand zu leisten, weiß ich nicht. Die Wahrheit darüber wird man wohl erst erfahren, wenn es gelungen ist, Graves zu ergreifen. Wahrscheinlich hat man Macdonald, der keineswegs ein gefestigter Charakter war, Geld geboten, wenn er in dasselbe Horn wie die Verschworenen blasen und gegen Lady Montauban Zeugnis ablegen würde, das geeignet wäre, sie in den Augen der Oeffentlichkeit herabzusetzen.

»Was nun folgte«, fuhr Boscombe nach kurzer Atempause fort, »ist allen hier Anwesenden im großen und ganzen aus dieser Verhandlung bekannt. Neu ist nur, daß Perth am vierundzwanzigsten Juni, einen Tag vor der Abreise Lady Winifreds und der Ermordung ihres Gatten, aus dem Krankenhaus entlassen wurde und sich sofort zu Grootman begab. Dieser Grootman setzte sich mit Haley in Verbindung, der hinwiederum Graves benachrichtigte, daß seine beiden Freunde ihn zu sprechen wünschten. An jenem Abend des vierundzwanzigsten Juni wurde von den vier Komplizen der Plan entworfen, der meines Erachtens in eine Beseitigung Montaubans und dem Verschwinden Macdonalds ausmünden sollte und gleichzeitig den Zweck hatte, Lady Montauban zu verderben. Sie war, wie die Verschworenen wußten, immer noch die Erbin eines großen Vermögens, das ihr Gatte ihr für den Fall seines Todes zu hinterlassen beabsichtigte. Nun könnte man hier vielleicht einwerfen, daß durch die beabsichtigte Ermordung Lord Montaubans dessen Gattin erst recht in den ungetrübten Genuß der Hinterlassenschaft kommen könnte und Graves dann sowieso leer ausgehen müßte. Dem war aber nicht so. Gelang es, gegen Lady Montauban die Staatsanwaltschaft mobil zu machen und ihre Verurteilung wegen Beihilfe oder Mitwisserschaft zum Mord an ihrem Gatten zu verurteilen, dann trat automatisch ein früheres Testament des Verstorbenen wieder in Kraft. Kurz vor seiner zweiten Eheschließung hatte der Greis auf Anraten Graves' ein Testament niedergelegt, das seinem Schwager – wie dieser es erreichte, weiß ich nicht, kann mir aber denken, daß er die bewußte Klausel durch Drohungen erzielte – ein Vermögen von etwa fünfzigtausend Pfund sicherte. Dieses Testament trat, wenn eine Verurteilung Lady Montaubans ihr die Erbberechtigung absprach, wieder in Kraft. Man schlug also zwei Fliegen mit einer Klappe; man rächte sich – vor allen Dingen war es Grootman und Perth um diese Rache zu tun – an dem Komplizen, den man im Verdacht hatte, die beiden Kumpane wegen des Rauschgiftfalles ans Messer geliefert zu haben, und zweitens kam Graves, und damit seine Freunde, in den Besitz eines Vermögens, das ihnen die Neuaufnahme ihres Rauschgifthandels gestattet hätte.«

»Sie beschuldigen also den Schwager des Ermordeten, Graves, weiter den bewußten Grootman, Perth und Haley des Mordes an Montauban, wie?« fragte Sir Malcolm inmitten der Stille, die im Gerichtssaal herrschte.

»Nein, Sir, Lord Montauban wurde von einem anderen ermordet, wie aus meinen weiteren Darlegungen ersichtlich werden wird,« erwiderte der Zeuge.

Stimmengewirr brandete auf. Der Vorsitzende war selbst so in sich versunken, daß er es eine Weile bei dem Lärm bewenden hieß. Dann schafften seine scharfen Mahnungen wieder Ruhe.

Die Uhr des Saales zeigte die elfte Morgenstunde, als Boscombe fortfuhr:

»Inzwischen hatte Macdonald zu seinem Entsetzen erkennen müssen, daß er infolge des Scheidungsprozesses Montauban in London unmöglich geworden war. Das Theater, in welchem er bisher aufzutreten pflegte, schloß in wenigen Tagen ganz. Die Spielsaison war vorüber; die sonst alljährlichen Tournées in der Provinz waren noch nicht abgeschlossen. Macdonald war schon vorher gekündigt worden, hatte jedoch auf Gastspiele gerechnet. Der Scheidungsprozeß machte diese Hoffnungen zunichte. Wohin er sich eines Engagements wegen auch wendete, zeigte man ihm die kalte Schulter. Er sah seinen Ruin vor sich. Die Bühne schien ihm für immer verschlossen. Aus den amerikanischen Zeitungen, die den Prozeß Montauban ergiebig ausbeuteten, war ihm bewußt geworden, daß ihn auch die Vereinigten Staaten nicht gerade mit großer Freude an ihren Gestaden landen sehen würden. Er mußte sogar damit rechnen, daß er wegen Unmoralität die Landungserlaubnis überhaupt nicht bekommen würde. Kanada bot kein Feld für einen Schauspieler. Er sah sich also brot- und stellungslos. Das mag ihm den Kopf verdreht haben. Mit diesem Zustand hatten die vier sauberen Verschworenen gerechnet. Am 24. Juni abends suchte Graves, nachdem die Beratungen den bewußten Plan gezeitigt hatten, Macdonald in seiner Wohnung auf. Als ihm der Schauspieler seine Not klagte, wies ihn Graves darauf hin, daß er sein ganzes Elend nur einem Menschen zu verdanken hätte: Lord Montauban, der ihn durch den Scheidungsprozeß ja erst unmöglich gemacht hatte. Mylord und meine Herren Geschworenen: Sie werden wissen, wie leicht es ist, einen Verzweifelten zu einer Tat zu bewegen, die auszuführen er unter normalen Verhältnissen weit von sich gewiesen hätte. Es gelang Graves, den jungen Menschen so gegen Lord Montauban aufzuputschen, daß Macdonald versprach, unter allen Umständen eine Auseinandersetzung mit dem Lord herbeizuführen und ihn zu veranlassen, ja, wenn nötig, zu zwingen, Macdonalds Ruf vor der breiten Oeffentlichkeit wieder herzustellen. Montauban war wenige Tage nach dem Scheidungsurteil nach Schottland gereist. Macdonald versprach, ihn dort aufzusuchen und zwar, wie Graves ganz besonders riet, noch ehe Lady Montauban ihre beabsichtigte Reise nach Südamerika antrat. Aus dieser Absicht, England zu verlassen, war seitens der Dame keinerlei Hehl gemacht worden. Ich glaube sogar, die Zeitungen brachten eine entsprechende Notiz. So wußten sowohl die Verschworenen, als auch Macdonald selbst, was Lady Montauban beabsichtigte. Die ersteren konnten ihre Minen den Plänen der Dame entsprechend legen. Die Zeit drängte. Lady Montauban beabsichtigte, sich bereits in der Nacht zum 26. Juni an Bord zu begeben. Wenn man also etwas gegen sie mit Aussicht auf Erfolg unternehmen wollte, mußte dies geschehen, ehe sie abreiste und dadurch ein Alibi nachzuweisen vermochte. Macdonald versprach, noch in derselben Nacht die Reise nach Schottland anzutreten. Mit dem Zug um Mitternacht fuhr er nach Norden, traf am 25. in Edinburgh ein, wo er sich, mit dem Geld, das ihm Graves zur Verfügung gestellt hatte, ein Auto nach Holscombe Castle, dem Wohnsitz Lord Montaubans, mietete. Um zwei Uhr ließ er sich bei Montauban melden, der ihn nach der am 18. erfolgten Aussprache ohne weiteres empfing. Selbstverständlich lehnte er es ab, die von Macdonald verlangte öffentliche Ehrenerklärung abzugeben. Die beiden trennten sich gegen fünf Uhr nachmittags und zwar, wie ich erfahren konnte, nach lebhaften, beinahe in Schläge ausartenden Auseinandersetzungen. Um acht Uhr war Macdonald wieder in Edinburgh, um die Rückreise nach London anzutreten. Er aß sein Abendbrot in Waverley Bahnhofs-Hotel, wo er bis gegen zehn Uhr verblieb. Der Kellner, der ihn bediente und den ich, im Fall er hier als Zeuge vernommen werden soll, ersuchte, alle mir gemachten Bekundungen sorgfältig im Gedächtnis zu bewahren, erzählte mir, daß der Gast sehr aufgeregt gewesen und plötzlich, nachdem er schon vorher seine Rechnung beglichen hatte, unvermutet aufgesprungen und hinausgeeilt sei, ohne Hut und Mantel mitzunehmen. Diese beiden Kleidungsstücke hängen noch heute im Aufbewahrungsraum des genannten Hotels. Sie sind unstreitig als Eigentum Macdonalds nachgewiesen. Der Hut ist auf dem Schweißleder mit den Monogrammbuchstaben H. M. versehen, während der Mantel das von dem Londoner Schneider verwendete Namensetikett des Besitzers aufweist. Die Anwesenheit Macdonalds in Edinburgh, und damit die Reise zu Lord Montauban, ist also bewiesen. Von zehn Uhr abends bis ein Uhr nachts klafft in meinen Nachweisen eine Lücke. Wahrscheinlich hat Harry Macdonald plötzlich beim Essen den Entschluß gefaßt, sich nochmals zu Lord Montauban zu begeben, um ihn vielleicht doch noch zur Ehrenerklärung zu veranlassen. Wie er nach Holscombe gelangte, weiß ich nicht. Es ist mir nicht gelungen, nachzuweisen, ob er die kurze Reise per Auto oder Bahn gemacht hat. Die Dienerschaft auf Holscombe Castle berichtete meinem dorthin gesandten Gewährsmann, daß gegen ein Uhr nachts plötzlich die Wachthunde einen höllischen Lärm gemacht hätten. Der eine Diener glaubte einen Schuß gehört zu haben, war aber zu verschlafen, um der Sache große Wichtigkeit beizumessen. Montauban hatte gegen elf Uhr die Dienerschaft zu Bett geschickt, da er noch zu arbeiten habe und niemandes bedürfe. Er befand sich, als der Kammerdiener Rule seinem Herrn »Gute Nacht« wünschte, in seinem Arbeitszimmer, wo ihn ja auch der Tod ereilte.«

In das tiefe Schweigen, das den Ausführungen Boscombes gefolgt war, fiel Sir Malcolms nächste Frage:

»Aus Ihren Berichten kann man den Schluß ziehen, daß der Schauspieler Macdonald den Lord ermordet hat. Sind Sie dieser Ansicht?«

Boscombe zuckte die Achseln.

»Alle Erwägungen deuten darauf hin, Sir Malcolm.«

»Sie glauben, daß Macdonald, der wegen der Verweigerung einer Ehrenerklärung erbittert war, in der Verzweiflung den Beleidiger von einem Baum aus, der vor dem Arbeitszimmer auf Holscombe Castle steht, niedergeschossen hat, wie? Also einen Meuchelmord verübte?«

»Zu dieser Ansicht gelangte ich.«

»Das ist eine Lüge! Harry würde niemals einen Mord begangen haben! Bringt ihn hierher! Er wird alles zu erklären wissen!« Lady Montauban war aufgesprungen und stand blaß, aber gefaßt, vor ihren Richtern.

»Ihre Aussagen können Sie später machen, Mylady«, wies der Lordrichter ihre Einmischung zurück. »Ich bitte Sie, den Zeugen nicht zu unterbrechen.«

Winifred setzte sich. Aufschluchzend barg sie ihr Gesicht in den Händen.

Mitleidig ruhten die Blicke aller Anwesenden auf ihr. Die Bekundungen Boscombes sicherten ihr den Freispruch, nicht aber eine völlige Reinigung von dem Verdacht, an der Ermordung des Lords, ihres geschiedenen Gatten, beteiligt zu sein oder aber davon gewußt zu haben. Daß dieser Eindruck im Gerichtssaal auch jetzt noch vorherrschte, bewies die nächste Frage Sir Johns:

»Mir ist nicht bekannt,« sagte er, »daß die Angeklagte jemals des Mordes an Lord Montauban beschuldigt worden wäre; wohl aber glaubte man genügend Verdachtsgründe zu haben, daß sie von der bevorstehenden Beseitigung des ihr lästig gewordenen wußte oder aber selbst die Anregung dazu gegeben hatte. Die Bekundungen des Zeugen Boscombe aber haben diesen Verdacht nicht völlig zu zerstreuen vermocht, wenn ich auch zugeben will, daß er nunmehr für die Anklagebehörde schwierig zu begründen sein wird. Angesichts der veränderten Lage bitte ich daher das Hohe Gericht, der Staatsanwaltschaft durch eine vierundzwanzigstündige Vertagung Gelegenheit zu geben, zur neuen Lage Stellung zu nehmen, die Anklage entweder einzuschränken oder zu erweitern. Weiter beansprucht die Ladung der Zeugen Graves, Grootman, Perth und Haley Zeit. Die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, den Schauspieler Harry Macdonald, der dringend der Ermordung Montaubans verdächtig erscheint, zu laden.«

»Diese Ladung wird einem Toten zugestellt werden müssen«, wurde er von Sir Malcolm unterbrochen.

Die Nachricht löste allgemeine Ueberraschung und Ausrufe des Entsetzens aus.

In kurzen Worten schilderte nun der Verteidiger die Erlebnisse Boscombes und Hans-Lothars beim nächtlichen Fischzug Graves' und Wilkens'.

»Es ist mir unerfindlich,« meinte der Richter, »daß die Staatsanwaltschaft von der Auffindung des so lange gesuchten Macdonald nicht unterrichtet ist.«

»Derartige Nachrichten gelangen meist erst nach einem umständlichen Dienstweg an uns, Mylord«, verteidigte sich Sir John.

»Dann wird es Zeit, diesen alten Amtszopf abzuschneiden, Herr Staatsanwalt«, schloß der Vorsitzende die Debatte und vertagte die Verhandlung bis zum übernächsten Tag.


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