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I. Kapitel.
An Bord der »Montana«.

Langsam und zögernd verhallte das Trompetensignal, das die Passagiere der »Montana« zum ersten gemeinschaftlichen Mahl gerufen. Man hatte am Nachmittag den Hamburger Hafen verlassen, und die elegante Bordgesellschaft versammelte sich nun im Speisesaal des modernsten aller deutschen Südamerikadampfer.

Der Saal glich einer Blumenausstellung, zu der die Toiletten der Fahrgäste weiblichen Geschlechts den passenden Rahmen lieferten. Wie Sterne um die Sonne, so umstanden zahlreiche Passagiere den gegenwärtigen Mittelpunkt des Salons, den Obersteward, der wie ein Diplomat seines schwierigen Amtes der Platzverteilung waltete. Die meisten Wünsche seiner Pflegebefohlenen richteten sich auf einen Platz an der Kapitänstafel, dem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Mahlzeiten. Höflich bog der »chef de salle« alle Einwendungen ab, tröstete besonders diejenigen, die sich benachteiligt glaubten und konnte endlich mit Selbstbewußtsein ein Abflauen des auf ihn einbrausenden Sturmes feststellen. Nur selten wurde die Beschwerdeinstanz, der Zahlmeister, gegen die Entscheidungen des Oberstewards in Anspruch genommen. Wo es doch der Fall war, wurde Oberzahlmeister Kern schnell mit den Protestierenden fertig.

In einiger Entfernung vom Kapitänstisch, in einem Winkel, der von Palmenkübeln umgeben war, hatten eine Dame und zwei Herren Platz genommen. Sie waren beinahe die einzigen gewesen, die keinerlei Plazierungswünsche geäußert hatten. Sie hatten den Obersteward in Ruhe gelassen und sich selbst ihre allerdings minder begehrten Plätze ausgesucht. Aeußerlich jedoch stachen sie von der Eleganz der übrigen Passagiere nicht im geringsten ab.

Die Dame mochte kaum zwanzig Jahre zählen, trug eine hauchdünne schwarze Abendtoilette und so gut wie gar keinen Schmuck. Nur um ihren blendendweißen, edelgeformten Hals schlang sich eine mattschimmernde Perlenkette. In dichten Wellen legten sich um die hohe, weiße Stirn rotblonde Haare. Ein Paar abgründige, im Reflex der elektrischen Birnen tiefschwarz erscheinende blaue Augen blickten in diesem Augenblick belustigt auf die tafelnden, noch immer von der Auseinandersetzung um die günstigsten Sitzplätze erregten Passagiere. Die wohlgepflegten Hände hatte das junge Mädchen vor sich auf den Tisch gestützt.

Der gegenübersitzende junge Mann verriet durch seine Aehnlichkeit mit der jungen Dame ohne weiteres die zwischen ihnen bestehende Verwandtschaft. Genau wie bei ihr lockten sich auch auf seinem Haupt dichte, rotblonde Haarwellen; seine Augen waren ebenso tief und träumerisch und glichen wie die ihrigen einem ruhenden Alpensee. Er mochte drei bis vier Jahre älter als seine Doppelgängerin sein.

»Hier herrscht ein Sprachendurcheinander wie beim Turmbau zu Babel. Kommt es dir nicht auch so vor, Hans-Lothar?« wandte sich das Mädchen an ihr Gegenüber. »Es muß doch hunderte Sprachen auf der Erde geben. Hier versteht ja einer den andern nicht. Schade, daß man es noch nicht zu einer wirklichen, allgemeinverständlichen Sprache gebracht hat.«

»Nun, und das Esperanto?« erwiderte der Angesprochene.

»Kann wohl vorläufig noch als Spielerei betrachtet werden«, entgegnete die junge Dame. »Das ist zu bedauern, denn eine gemeinsame Sprache würde sicherlich viele Reibungsflächen zwischen den Völkern ausmerzen.«

»Seit wann bist du unter die Pazifisten gegangen, Liddy?« lachte der junge Mann. »Im übrigen hast du recht, Schwesterchen. Es wäre wirklich höchste Zeit, endlich einmal eine Sprache zu finden, die keinem zu Gunst und niemand zu Leid den Anfang zur allgemeinen Völkerverständigung machte. Allerdings«, wandte er sich an den dritten, bisher schweigsam gebliebenen Tischgast, »würde dadurch Ihr Beruf, Herr von Lersdorff, überflüssig werden.«

Der Gehänselte lächelte. Er schien den Hieb nicht sehr tragisch zu nehmen.

»Ich bin über das Stadium hinaus, wo mich die mehr oder minder gut gelungenen Witze über die Diplomaten aufregen. Jeder tut in seinem Beruf was er kann. Was würde die Welt wohl ohne die Diplomatie anfangen?« setzte er lachend hinzu.

»Nun,« rügte scherzend das junge Mädchen, »hast du dem Stier das rote Tuch vorgehalten, Hans-Lothar. Gefährlich ist's, den Leu zu wecken. Lassen Sie sich die Hänseleien meines Bruders nicht nahe gehen, Herr von Lersdorff. Ich kann Ihnen, wenn ich diesem sprachlichen Tohuwabohu hier zuhöre, die Schwierigkeiten Ihres Berufes nachfühlen. Es muß doch für Sie schwer sein, sich von einem Tag zum andern in vollständig verschieden geartete Lebensverhältnisse hineinversetzt zu sehen.«

»Besten Dank, gnädiges Fräulein«, verbeugte sich der Baron gegen das junge Mädchen. »Endlich höre ich doch auch einmal aus schönem Mund ein Lob meiner Talente. Sie haben aber recht. Es ist zu bedauern, daß man vorläufig immer noch keine Möglichkeit gefunden hat, eine allen Völkern gleich geläufige Verständigungsmöglichkeit zu geben.«

In diesem Augenblick trat der Obersteward an den Tisch heran, um sich nach etwaigen Wünschen dieser drei Passagiere zu erkundigen.

»Wir sind mit unseren Plätzen sehr zufrieden, Herr Bauer«, lobte das junge Mädchen. »Wie aber kommt es, daß unser Tisch nur mit drei Personen besetzt wurde. Haben Sie so viel Platz, daß Sie sich den Luxus erlauben dürfen, uns diesen netten Tisch ganz allein zu überlassen?«

Der Beamte verbeugte sich.

»Im Gegenteil, gnädiges Fräulein. Unser Schiff ist völlig ausverkauft.«

»Nun, warum dann also der leere vierte Stuhl hier?«

»Er wird besetzt werden, gnädiges Fräulein«, gab der andere mit geheimnisvollem Lächeln Auskunft. »Allerdings erst von morgen abend ab, in Southampton«, setzte er hinzu.

Die Heimlichtuerei fiel nun auch den beiden Herren auf, die bisher geschwiegen hatten.

»Sie machen ja ein Gesicht wie ein Fakir, Bauer«, meinte Hans-Lothar. »Was und wer verbirgt sich hinter dem geheimnisvollen künftigen Tischgenossen?«

»Morgen abend kommt Lady Montauban an Bord!«

Die drei starrten einander fragend an, als sie die Botschaft des Obersteward vernahmen. Es war ihnen anzusehen, daß sie aus dem genannten Namen nichts zu machen wußten.

»Lady Montauban?« erklang es gleichzeitig von ihren Lippen.

»Jawohl, Lady Montauban, deren Scheidungsprozeß vor einigen Wochen ungeheures Aufsehen erregte, genau so, wie es vor einigen Jahren bei ihrer Eheschließung der Fall war.«

Auch jetzt noch war es Liddy und Hans-Lothar von Weiße anzumerken, daß sie sich um diesen Fall bisher wenig gekümmert hatten. Anders verhielt es sich bei Baron Gerhard von Lersdorff. Er, der mit allen gesellschaftlichen Ereignissen vertraut war, erinnerte sich dunkel an diese Geschichte.

»Sprechen Sie von jener – hm Warenhausverkäuferin, die vor einigen Jahren den um beinahe fünfzig Jahre älteren Baumwollkönig Lord Montauban heiratete?«

Der Obersteward nickte.

»Von derselben, Herr Baron«, bestätigte er dem ihm wohlbekannten Diplomaten.

Liddy brannte vor Neugierde, die Geschichte zu hören, wollte sich jedoch vor dem Obersteward keine Blöße geben. Der Mann erkannte auch schnell genug, daß sein längeres Verweilen an diesem Tisch auffallen würde und setzte mit einer tiefen Abschiedsverbeugung seinen Gang durch den Salon fort. Kaum war er außer Hörweite, als sich Liddy schon an Baron von Lersdorff wandte:

»Erzählen Sie, Herr von Lersdorff. Wie verhält sich diese Sache mit – wie hieß sie doch? – ach so, Lady Montauban?«

Der Gefragte zögerte. Paßte diese Geschichte dazu, vor einem jungen Mädchen aufgefrischt zu werden. Liddy bemerkte das Zaudern.

»Los, sprechen Sie! Ich bin doch schließlich kein kleines Kind mehr. Und so schlimm wird es ja wohl auch nicht sein, sonst hätte der Obersteward bestimmt nicht die Dame ausgerechnet an unserem Tisch untergebracht.«

»Man vermag ihr nichts bestimmtes vorzuwerfen, es sei denn diese absurde Heirat mit Lord Montauban, einem Greis von einigen siebzig Lebensjahren.«

»Wie alt ist denn diese mutige Lady?« fragte Hans-Lothar, bei dem erst jetzt einiges Interesse für die besprochene Dame zu erwachen schien.

»Warten Sie, Hans-Lothar«, erwiderte von Lersdorff. »Das kann ich Ihnen ziemlich genau sagen. Ich war damals, im Jahre 1930, Attaché bei der Londoner Botschaft. In dieser Eigenschaft und durch meinen Verkehr in der englischen Gesellschaft erfuhr ich einiges über die Ereignisse, die diese Heirat zu einer Sensation machten. Ich glaube mich sogar dunkel an eine Begegnung mit der Dame erinnern zu können, und zwar während eines Empfangs in unserer Botschaft.«

»Sie muß ihre Reize haben, wenn es ihr gelungen war, einen im biblischen Alter stehenden Greis zu fesseln«, meinte Hans-Lothar.

»Sie war die Schönheit der damaligen Saison«, bestätigte der Diplomat. »Lord Montauban erhielt, glaube ich, seinen Titel im oder vor dem Krieg. Wofür kann ich Ihnen leider nicht sagen. Er war bereits seit mehreren Jahren Witwer, als er sich von seinen Geschäften zurückzog, um die Leitung seiner Unternehmungen teilweise dem ältesten Sohn zu übergeben. Außer diesem künftigen Titelerben waren noch vier weitere Kinder vorhanden: Zwei Söhne, davon der jüngere verheiratet, und zwei ebenfalls verheiratete Töchter. Der Erstgeborene muß, als sein Vater sich nochmals verheiratete, schon hoch in den dreißig gewesen sein. Die Mutter der Kinder stammte ebenfalls aus kleinen Verhältnissen, hatte sich aber, zugleich mit ihrem Gatten, die ihrem Vermögen zukommende gesellschaftliche Stellung erkämpft. Sie war in der Gesellschaft beliebt, weil sie niemals vergaß, was sie früher gewesen war. Man scheint sie als das betrachtet zu haben, was sie darzustellen sich bemühte: Ein Ueberbleibsel aus victorianischer Zeit. Am Anfang schien Lord Montauban, wie man mir berichtete, durch den Tod der Gattin hart getroffen. Er zog sich eine Zeitlang ganz zurück und lebte wie ein Einsiedler. Um so größer war das Erstaunen seiner Freunde und Bekannten, als man von seiner beabsichtigten zweiten Heirat erfuhr. Zu den von Lord Montauban kontrollierten Unternehmungen war ein großes Warenhaus gekommen, dessen Aktien in ihrer Mehrzahl sich in Händen Mylords befanden. Bei einer Aufsichtsratssitzung, die im Direktionssaal des Warenhauses stattfand, wurde eine junge Sekretärin hinzugezogen. Diese Dame wurde die spätere Lady Montauban. Ihre Schönheit muß auf den Greis einen mächtigen Eindruck gemacht haben, denn bereits nach drei Tagen machte er ihr den ersten Heiratsantrag, der ebenso prompt abgelehnt wurde. Dieses Hin und Her wiederholte sich einige Monate. Endlich gelang es Montauban, das Jawort des Mädchens zu erhalten. Die Hochzeit fand in London statt. Da man, wohl nicht mit Unrecht, in gesellschaftlichen Kreisen der Meinung war, daß ein Greis und die Jugend nicht zusammenpaßten, fehlte es weder an Warnungen Lord Montauban gegenüber, noch an Vorstellungen bei der jungen Braut. Aber sie halfen weder bei dem einen noch bei der anderen. Zur Trauung war halb London eingeladen, aber – kaum zwanzig Personen erschienen. Der Boykott der jungen Frau setzte schon am Hochzeitstag ein. Man verübelte ihr, daß sie sich dem alten Mann verkaufte.«

»Ich finde das unrecht«, bemerkte Liddy. »Man wußte ja gar nicht, welcher Grund die junge Dame zur Annahme des Antrages veranlaßt hatte.«

»Man kannte, wie Sie sagen, den Grund nicht, ahnte aber, oder glaubte wenigstens vermuten zu können, warum das Mädchen sich einem lebenslustigen Greis anvertraute, der beinahe ihr Großvater sein konnte«, gab von Lersdorff zurück.

»Und was geschah weiter?« erkundigte sich Hans-Lothar neugierig.

»Es kam, wie es kommen mußte. Schon am Tag nach der Rückkehr von der dreiwöchentlichen Hochzeitsreise sickerte das Gerücht durch, daß es zwischen den Neuvermählten zu recht unerquicklichen Auseinandersetzungen gekommen sei. Lady Montauban hatte vor der Hochzeitsreise einen jungen englischen Schauspieler, Harry Macdonald, kennen gelernt und sich später des öfteren mit ihm sehen lassen. Das genügte, um dem Gatten eine Flut anonymer Briefe ins Haus zu bringen, in denen Vermutungen Ausdruck gegeben wurde, die weder der Dame noch ihrem Gatten selbst große Freude bereiteten.«

»Hatte man denn für diese schwerwiegenden Anschuldigungen irgendwelche Beweise?« erkundigte sich Hans-Lothar, der interessiert den Ausführungen des Barons gefolgt war.

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls hieß es plötzlich, daß sich die Kinder des Lords ins Zeug gemischt und von ihm eine Scheidungsklage gefordert hätten. Ihr Vater, so behaupteten sie, habe sich, als er diese Heirat in die Wege leitete, nicht im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte befunden. Natürlich fielen Söhne und Töchter mit ihrem Verlangen ab.«

»Nach meinem Dafürhalten mit Recht«, urteilte Liddy.

»Ich verließ dann London und habe später nur noch einmal diese Angelegenheit erwähnen hören. Man erzählte sich, daß sich die beiden Gatten getrennt hätten. Lord Montauban habe endlich doch die Scheidungsklage gegen seine Gattin eingereicht.«

»Die Ehe ist also, wie man den Berichten des Oberstewards entnehmen kann, inzwischen geschieden worden«, schloß Hans-Lothar.

»Diesen Anschein hat es«, bestätigte von Lersdorff. »Die Frage, die wir uns jetzt zu beantworten haben, ist die: Wie verhalten wir uns der Dame gegenüber, wenn sie hier am Tisch ihren Platz einnimmt?«

»Was geht uns ihre Ehetragödie an?« fragte Hans-Lothar. »Solange Lady Montauban uns nicht lästig fällt oder sie sich nichts zu schulden kommen läßt, sind wir gehalten, sie höflich und zuvorkommend zu behandeln.«

»Du hast recht, Brüderchen«, stimmte ihm die Schwester zu. »Das ist stets die Methode der Herren der Schöpfung, über uns Frauen den Stab zu brechen, gleichgültig wer der schuldige Teil auch sein mag.«

»Ich habe ja gar nichts dergleichen getan, Fräulein Liddy«, verwahrte sich lächelnd der Diplomat. »Allerdings weiß ich nicht, ob die Lady für ein junges Mädchen der Gesellschaft der geeignete Verkehr ist, auch wenn sich dieser auf gemeinsame Mahlzeiten beschränkt.«

»Das zu entscheiden, Herr Baron«, nahm Liddy den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, »müssen Sie schon mir überlassen.«

»Ich halte es von Lord Montauban für eine Unverschämtheit, seine Blicke auf ein Mädchen zu richten, das an die fünfzig Jahre jünger ist als er«, begann nun Hans-Lothar seine Meinung zu äußern. »Ich kann mir nicht denken, daß sie den Antrag aus unwiderstehlicher Zuneigung zu dem alten Mann angenommen hat. Infolgedessen werden wohl materielle Gründe mitgespielt haben. Sie sagen, das Mädchen sei Sekretärin gewesen, wie? Nun gut, wahrscheinlich suchte es durch diese ihr sicherlich widerstrebende Ehe sowohl die eigenen, wie auch die Verhältnisse der Eltern und Geschwister zu verbessern. Diese Tatsache scheint mir eher für ihr gutes Herz, als für Geldgier oder den Ehrgeiz, eine Rolle zu spielen, zu sprechen.«

»Es mögen Gründe mitgespielt haben, die wir alle nicht durchschauen können«, urteilte Liddy. »Bestehen bleibt aber die von dir, Hans-Lothar, betonte Tatsache, daß ein Greis sich nicht mit einem jungen Mädchen vermählen soll. Gut, ein gewisser Altersunterschied darf meinetwegen bestehen, fünf, acht, zehn Jahre. Was darüber hinaus geht, kann man kaum mehr als zulässig ansehen.«

von Lersdorff fühlte sich von der Last seiner vierzig Jahre erdrückt.

»So müßte ich denn«, sagte er klagend, »auf das Glück, ein junges Mädchen an mich zu binden, Ihrer Ansicht nach verzichten, wie?«

Sie starrte ihn an.

»Gehen Sie denn auch auf Freiersfüßen, Herr Baron?«

Er schwieg, um ihr nicht zu verraten, wie es in seinem Herzen aussah. Was sie aber in seinen Augen las, schien ihr genügend reinen Wein einzuschenken. Sie errötete und wandte sich verlegen ab.

Baron Gerhard von Lersdorff war ein langjähriger Freund des Vaters der jungen Leute, Geheimrat von Weiße, Besitzer großer Stahlwerke. Seit vielen Jahren verkehrte der Diplomat im Haus des Großindustriellen, hatte die Kinder heranwachsen und Liddy sich zu einer entzückenden jungen Dame entwickeln sehen. Nach seiner Dienstleistung im Auswärtigen Amt, während der er mit Geheimrat von Weiße anläßlich einer handelspolitischen Sitzung bekannt geworden war, wurde er als junger Attaché nacheinander verschiedenen Gesandtschaften und Botschaften zugeteilt, bis er endlich eine erste verantwortliche Stellung bei der Londoner Botschaft einnehmen durfte. Vor kurzem war er zum Gesandten bei einer südamerikanischen Republik ernannt worden. Auf seiner Ausreise begleiteten ihn die Geschwister von Weiße. Der Geheimrat hatte sich schon lange mit der Absicht getragen, seine beiden Kinder die Welt sehen zu lassen. Der Ortswechsel, den von Lersdorff infolge seiner Versetzung und Beförderung vornehmen mußte, dünkte dem alten Herrn die beste Gelegenheit, seine Kinder unter der unfühlbaren Aufsicht des Gesandten flügge werden zu lassen. So kam es, daß Hans-Lothar und Liddy von Weiße sich mit Baron von Lersdorff an Bord der »Montana« einschifften. Die Schönheit des jungen Mädchens hatte auf Baron von Lersdorff größten Eindruck gemacht. Er war auf dem besten Weg, sich in Liddy zu verlieben. Hin und wieder glaubte er, daß sie ihn nicht gerade mit ungünstigen Augen betrachtete; dann aber, wie eben gerade jetzt, machte sie Bemerkungen, die ihn beinahe hoffnungslos stimmten. Er war neunzehn Jahre älter als Liddy. Als äußersten Altersunterschied hatte sie zehn Jahre bezeichnet. Würde sie sich zu einer anderen Ansicht bekehren, wenn der Baron einmal den Zeitpunkt für gekommen erachtete, die schicksalsvolle Frage an sie zu richten? Im übrigen beschränkte sich der Verkehr zwischen ihm und Liddy auf periodische Kämpfe. Baron von Lersdorff fühlte sich nicht nur für das junge Mädchen dem Vater gegenüber verantwortlich, sondern betrachtete, in seiner aufkeimenden Liebe für sie, jeden, der sich Liddy näherte, als persönlichen Widersacher. Das gab Reibungsflächen, aus denen oft genug Funken sprühten. Mit Hans-Lothar verstand sich von Lersdorff bedeutend besser, da er gern auf dessen oftmals verschrobene Ideen einging.

»Solange es Reiche und Arme geben wird, solange wird es Männer und Frauen geben, die sich um Goldes willen verkaufen«, schloß von Lersdorff die persönlich werdende Unterhaltung.

Kurz darauf verließen die drei den Speisesaal; Liddy, um sich noch einige Minuten an Deck zu ergehen, die Herren, um im Rauchsalon die Nachtisch-Zigarre zu rauchen.


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