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Mylord, der Vorsitzende, eröffnete die Verhandlung außerordentlich pünktlich. Mit dem letzten Schlag der neunten Morgenstunde wurde der erste Zeuge des zweiten Verhandlungstages hereingerufen. Wie Haley gehörte auch dieser Zeuge zum Personal des Montaubanschen Haushaltes. Seine Aussagen deckten sich im wesentlichen mit den Bekundungen Haleys, doch wichen sie insofern davon ab, als beim Kammerdiener des verstorbenen Lords feindselige persönliche Gefühle gegen die Angeklagte mitgespielt hatten, während der heute als Erster aussagende Diener manches gute Wort für seine einstige Herrin in die Wagschale warf. Neues brachte die Vernehmung dieses und der nachfolgenden Zeugen nicht. Der Vormittag ging mit der Ausbreitung von Hausklatsch hin, ohne daß der rätselhafte Fall der Aufklärung auch nur ein Jota näher zu bringen war. Das Interesse des dichtgedrängten Auditoriums war sichtbar im Abnehmen begriffen, und als Seine Lordschaft gegen 12.30 die Verhandlung bis zum Nachmittag aussetzte, glaubte niemand mehr an besondere Ueberraschungen. Die Meinungen über das zu erwartende Urteil waren geteilt; die einen glaubten an eine Verurteilung oder zum mindesten nur an einen Freispruch, der die Angeklagte für die Oeffentlichkeit mit dem Verbrechen weiterbelastete. Einen Freispruch also, mangels Beweisen, obwohl ein solcher in den englischen Strafgesetzen nicht vorgesehen war. Der weitaus größere Teil der Zuhörer und der breiteren Oeffentlichkeit wies jeden Gedanken an einen Schuldspruch weit von sich. Sie glaubten nicht mehr an Lady Winifreds Schuld.
Was im Geist des Vorsitzenden vorgehen mochte, ahnte niemand. Sir Algernon saß genau so gleichgültig auf seinem Platz, wie er auch während des belastenden Vorplaidoyers des Staatsanwalts dagesessen hatte. Er war im Gericht zu alt geworden, um durch irgendeine Geste oder ein Wort seine innere Ueberzeugung zu verraten. Man erwartete das Urteil am Abend des nächsten Verhandlungstages.
Der erste Zeuge des Nachmittags brachte wieder etwas Bewegung in die stagnierende Verhandlung. Der Anwalt des Verstorbenen, Mr. Sidney Rowe, leistete den Zeugeneid und nahm auf dem ihm gereichten Stuhl ebenso nonchalant Platz, als befände er sich in seinem Klub. Der erste Staatsanwalt schien von diesem Zeugen etwas Besonderes zu erwarten, denn, während er die Vormittagszeugen seinem Kollegen überlassen hatte, übernahm er bei Mr. Rowe die Verhörsleitung selbst.
»Sie waren der Anwalt des Verstorbenen, Sir?« lautete seine erste Frage.
»Ja, Sir John. Und zwar seit sich Lord Montauban von den Geschäften, denen er sein Vermögen zu verdanken hatte, völlig zurückgezogen hatte.«
»Wann war das?«
Der elegante Sechziger blätterte in einem rotgebundenen Notizbuch, das er vor sich auf das Pult gelegen hatte.
»Genau gesagt seit dem 1. November 1919, Sir John.«
»Sie genossen sein vollstes Vertrauen?«
»Soweit ich unterrichtet bin, ja.«
»Verwalteten Sie auch sein Vermögen?«
»Nur die in Grundstücken angelegten Teile, Sir John.«
»Das Barvermögen verwaltete er selbst?«
»Jawohl.«
»Als seine erste Gattin starb, machte Lord Montauban, wie wir erfahren konnten, ein neues Testament, nicht wahr? Wurden Sie mit der Ausfertigung betraut?«
»Ja. Kurz nach dem Tod der ersten Gattin sprach mein Mandant bei mir vor und ersuchte mich, ein Testament aufzusetzen, da er nun Witwer geworden sei und für den Fall seines Todes über das Vermögen so zu disponieren wünsche, daß seine Kinder zu gleichen Teilen in den Genuß desselben gelangen könnten. Das bezog sich natürlich nur auf die jüngeren Kinder. Der Aelteste, der jetzige Lord Montauban, sollte, wie gesetzlich vorgeschrieben, den Titel und das Fideikommiß, das sämtlichen Grundbesitz einschloß, erben.«
»So daß also durch die damalige Regelung alle übrigen Verwandten leer ausgegangen wären, wie?«
»Lord Montauban gab Anordnungen für einige unwichtige Legate.«
»Wem sollten sie zugute kommen?«
»Hauptsächlich Wohltätigkeitsanstalten, Hospitälern usw.«
»Der Schwager Graves wurde nicht bedacht?«
»Nein. Mr. Graves war – – hm – – damals verhindert, sich mit seinem Schwager auf guten Fuß zu stellen.«
»Er saß wohl gerade im Gefängnis, wie?«
»Diese Vermutung wurde mir durch meinen Mandanten bestätigt.«
»Hatten die Kinder von diesen testamentarischen Regelungen eine Ahnung?«
»Wohl kaum. Seine Lordschaft war kein Schwätzer, und außerdem war er in einem Alter, in dem er wohl ans Sterben nicht zu denken brauchte. Er war damals knapp siebenundfünfzig Jahre alt und kerngesund. Ich schrieb diese weise Voraussicht, ein Testament zu machen, mehr seinem kaufmännischen Geist als irgendeiner Todesahnung zu.«
»Er war wohl auch durch den Tod seiner Gattin erschreckt worden, wie?«
»Möglich, aber er äußerte sich darüber nicht.«
»Graves war also von der Erbfolge ausgeschlossen«, setzte der Oberstaatsanwalt das Verhör dieses gelehrten Zeugen fort. »Wann traf denn Montauban zum erstenmal nach jener Testamentsniederlegung mit seinem aus dem Gefängnis entlassenen Schwager Graves wieder zusammen?«
»Das weiß ich nicht, Sir John. Mein Mandant war ein reichlich verschlossener Mensch, der sogar mir, seinem Anwalt, nur das mitteilte, was er für richtig fand.«
»Sie können uns also darüber, ob vielleicht Graves mit seinem Schwager irgendeine Auseinandersetzung hatte, keine Auskunft geben?«
»Nein, ich weiß nur, daß Montauban seinen Schwager aus irgendwelchen, mir leicht erklärlichen Gründen nicht gerade liebte.«
»Sind Sie der Meinung, daß diese gespannten Beziehungen zwischen den beiden Schwägern genügten, um Graves nach dem Leben Lord Montaubans trachten zu lassen?«
Der Zeuge zuckte die Achseln.
»Mit Werturteilen wird Ihnen hier nicht gedient sein, Sir John,« erwiderte er vorsichtig, »und ein anderes vermag ich nicht abzugeben.«
Sir John Ruskin beschied sich mit dieser Antwort. Er warf einen Blick auf das vor ihm liegende Aktenstück und fuhr dann mit dem Verhör fort:
»Dieses Testament bestand unverändert bis kurz vor der zweiten Verheiratung Ihres Mandanten fort, nicht wahr?«
»Jawohl, genauer gesagt bis zum 11. Dezember des Jahres 1929.«
»Was geschah an jenem Tag?«
»Lord Montauban bat mich an jenem Morgen telefonisch, im Laufe des Abends bei ihm vorzusprechen. Ich sollte meine Notariatsstempel mitbringen, da er beabsichtige, ein neues Testament zu machen. Das alte sollte ich ihm zurückgeben, da er es vernichten wolle.«
»Nun, und weiter?«
»Ich traf gegen 20 Uhr in seiner Wohnung am Kensington Place ein. Er erwartete mich in seinem Arbeitszimmer, bot mir Rauchzeug und Getränke an und kam dann sofort auf den Zweck des Zusammentreffens zu sprechen.«
»Schildern Sie uns bitte, Mr. Rowe, den Verlauf dieser Unterredung so wortgetreu wie möglich.«
Der Zeuge warf einen Blick in seine Notizen, sprach aber dann geläufig, wie einstudiert, weiter:
»Er machte mir Mitteilung von seiner bevorstehenden Trauung mit einem Fräulein Winifred Burstall, die zwar fünfzig Jahre jünger als er wäre, sich aber einverstanden erklärt hätte, ihm seinen Lebensabend verschönern zu helfen. Ich war offen gestanden sprachlos. Als ich versuchte, ihn von seiner Absicht abzubringen, unterbrach er mich ziemlich schroff. ›Sie sind ein vertrockneter Jurist, Rowe,‹ meinte er, ›und können sich in das Gemüt eines lebenslustigen Greises wohl kaum hineinfinden. Warum soll ich mir meine letzten Lebensjahre nicht so gemütlich wie möglich machen. Im übrigen ist es ja nicht Ihre, sondern meine Haut, die zu Markt getragen werden soll.‹ Das genügte, um mich von weiteren Ratschlägen abzuhalten.«
»Ihr Mandant hatte sich also in den Gedanken, jene Miß Burstall zu heiraten, völlig, wie man zu sagen pflegt, hineingefressen, wie?«
»Vollkommen. Diese Ehe war ihm zur fixen Idee geworden.«
»Gab er sich über die Gründe, die jene Dame zur Annahme seines befremdlichen Antrages veranlaßt hatten, irgendwelchen Illusionen hin?«
»Darüber äußerte er sich mir gegenüber nicht, Sir John. Wie ich ihn aber zu kennen vermeinte, wußte er genau, daß eine Zwanzigjährige einen Siebenzigjährigen nicht seiner jugendlichen Reize wegen heiraten würde.«
Das Raunen im Zuhörerraum, das dieser Feststellung des Zeugen folgte, wurde durch eine scharfe Rüge Sir Algernons schnell zum Verstummen gebracht. Aber Rowes Aussagen hatten ihren Eindruck auf die Geschworenen nicht verfehlt. Sie flüsterten miteinander und warfen ironische und vielsagende Blicke auf die Angeklagte. Der Staatsanwalt machte sich, ehe er in seinem Verhör dieses dankbaren Zeugen fortfuhr, eifrig Notizen.
»Dann kam Lord Montauban wohl auf das anzufertigende Testament zu sprechen, wie?«
»Jawohl. Er gab in großen Umrissen einen Entwurf, wie er sich das Dokument dachte.«
»Nun? Wie wünschte er nun über sein Vermögen zu verfügen?«
»Was seinen ältesten Sohn anbetraf, blieb alles beim alten. Lord Montauban glaubte wohl selbst nicht mehr an Familiensegen. Die anderen Kinder jedoch sollten so gut wie enterbt werden. Das gesamte Barvermögen, das ziemlich bedeutend war, sollte, von einigen Legaten abgesehen, der künftigen Lady Montauban gehören.«
»Erfuhren die Enterbten je etwas von diesem neuen Testament?«
»Von mir nicht«, lautete die energisch gegebene Versicherung.
»Und von Lord Montauban?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wer sollten die gesetzlich vorgeschriebenen Zeugen werden?«
»Ein Diener namens Tim Haley und mein Privatsekretär, Mr. Doyle.«
»Wurde das Testament noch am selben Abend unterfertigt?«
»Nein. Ich hatte meinem Auftraggeber verschiedene Entwürfe gebracht. Nach etwa acht Tagen entschied er sich endlich für einen derselben und unterschrieb ihn am gleichen Tag in Gegenwart der genannten Zeugen.«
»Wäre es möglich, daß die durch dieses geänderte Testament Geschädigten durch irgendeine Indiskretion eines der Zeugen Kenntnis von seinem Inhalt bekommen haben?«
»Das weiß ich nicht. Für meinen Sekretär Doyle möchte ich aber die Hand ins Feuer legen. Er ist die Diskretion selbst.«
»Falls also etwas über den Inhalt des Testaments durchgesickert sein sollte, kann diese Tatsache nur durch eine Indiskretion des Erblassers selbst oder – – durch den Zeugen Haley erfolgt sein, wie?«
»Diesen Anschein hat es«, bekräftigte der Zeuge.
»Nach dem neuen Testament war also Lady Winifred, die heute als Angeklagte vor uns steht, so gut wie Universalerbin?
»So kann man sie wohl bezeichnen.«
»Glauben Sie, daß sie davon eine Ahnung hatte?«
»Ja. Sie wußte es. Lord Montauban teilte mir an jenem Abend mit, daß sich seine Braut diese Sicherstellung ihrer Zukunft ausbedungen habe. Sie hätte, wie er mir berichtete, gewußt, was sie von den Kindern aus erster Ehe zu erwarten hatte. Ihr ältester Stiefsohn war zur Zeit der zweiten Eheschließung ja schon doppelt so alt wie sie.«
»Sie haben uns recht wertvolle Mitteilungen gemacht, Herr Doktor«, anerkannte Sir John. »Ich bitte Sie nun, sich zum Kreuzverhör durch Sir Malcolm zur Verfügung zu stellen.«
»Ich habe an den Zeugen keine Fragen zu richten, Mylord«, erwiderte, sehr zur Ueberraschung der im Saal Anwesenden, der Verteidiger.
»Dann sind Sie entlassen«, richtete der Vorsitzende das Wort an den Zeugen. Man merkte ihm jedoch die Verwunderung an, die er angesichts des überraschenden Verzichts Sir Malcolms empfand.
Das Verhör der meist unwichtigen weiteren Zeugen schleppte sich bis zur sechsten Abendstunde hin. Als die Sitzung auf den nächsten Vormittag vertagt wurde, stand, im Gegensatz zum gestrigen Verhandlungsschluß, die Angeklagte nicht mehr in so günstigem Licht da. Sir Malcolm hatte an diesem Tag auf ein Kreuzverhör der Belastungszeugen verzichtet. Er wußte, daß das, was diese Leute auszusagen hatten, auf Wahrheit beruhte und nicht ins Wanken zu bringen war.
Der Fall Montauban stand am Abend des zweiten Verhandlungstages ungefähr wie folgt:
Die zweite Lady Montauban hatte in der angeheirateten Familie wie ein Marder im Hühnerstall gewirkt. Ein Tod des Vaters hätte also, mit Ausnahme des ältesten Sohnes, allen übrigen Kindern Nachteile gebracht. Solange Lord Montauban lebte, konnten seine Kinder immer noch auf eine Sinnesänderung rechnen. Starb er aber, bevor er sein letztes Testament änderte, dann fiel alles Bargeld, der größte Teil der Hinterlassenschaft, an die zweite Gattin des Vaters. Ein Interesse an einem raschen Tod des Erblassers hatten also, so weit man den Fall bis jetzt überblicken konnte, nur zwei Personen: Der älteste Sohn, der jetzige Titelinhaber, und Lady Winifried, die Haupterbin. Erschwerend kam hinzu, daß aller Voraussicht nach nur sie etwas vom Inhalt des geänderten Testaments wußte und – als stärkste aller Belastungen – befürchten mußte, der Gatte würde das Testament nochmals ändern, wenn er Grund zu haben glaubte, an der ehelichen Treue seiner jungen Frau zu zweifeln. Daß es zu diesem Mißtrauen gekommen war, bewies der Scheidungsprozeß. Lady Winifred war zur Zeit der Ermordung ihres geschiedenen Gatten nicht in London gewesen. Sie konnte also die Täterin nicht sein. Aber – das war die Frage, die es zu beantworten galt – wußte sie, was Lord Montauban bevorstand und hatte sie ihre Abreise gerade in Erwartung des Kommenden auf jenen Tag verlegt? Und – – wer war der wirkliche Täter? Der Lösung dieser Probleme war man in den beiden Verhandlungstagen noch mit keinem Schritt nähergekommen. Das Schicksal der Angeklagten stand auf des Messers Schneide. Würden die Indizien genügen, um einen Schuldspruch der Geschworenen zu rechtfertigen? Viel würde auf die Belehrung ankommen, die der Vorsitzende den Geschworenen vor der Beratung zuteil werden ließ. War er der Angeklagten günstig gesinnt, so war mit einem Freispruch zu rechnen; wenn nicht – – konnte ebensogut ein Todesurteil oder, zum mindesten eine langjährige Zuchthausstrafe herauskommen.
Nur die hauptsächlich Betroffene, Lady Montauban selbst, machte sich über den Ausgang der Verhandlung kein Kopfzerbrechen. Als sie am Abend des zweiten Verhandlungstages mit Hans-Lothar und dem zweiten Brautpaar, Liddy und Baron von Lersdorff im Zimmer des jungen Mädchens beisammen saßen, erwähnte sie mit keinem Wort das ungewisse, ihr bevorstehende Schicksal. –
Zur selben Stunde, als die beiden Paare in Liddys Räumen sich mit ihrer mehr oder weniger klar vorgezeichneten Zukunft beschäftigten, spielte sich in einem anderen Teil Londons eine Zusammenkunft zwischen zwei Männern ab, für die sicherlich bei der Staatsanwaltschaft, die den Fall Montauban vertrat, großes Interesse zu finden gewesen wäre.
Die beiden Männer, um die es sich handelte, saßen im Arbeitszimmer des einen der beiden, des Hausherrn.
»Sie haben meinen ausdrücklichen Wünschen zuwidergehandelt«, meinte der eine, ältere, zu seinem Besucher. »Ich hatte Ihnen befohlen, auf keinen Fall hierher zu kommen. Wissen Sie denn nicht, daß Sie damit uns beide in des Teufels Küche bringen können?«
Der andere, der uns wohlbekannte Haley, kicherte, als habe er eben einen guten Witz gehört.
»Ich hatte Ihnen etwas so Dringendes mitzuteilen, daß ich alle Vorsicht in den Wind schlug. Ja, ich wurde von der ›Schmiere‹ verfolgt, aber wahrscheinlich steht sie jetzt immer noch in der Tottenham-Court Road und wartet dort vor der 23, bis ich wieder herunterkomme. Das Haus hat einen Durchgang, der nur wenigen bekannt ist. Ich benützte ihn, um meine ›Schatten‹ abzuschütteln.«
Der Gastgeber blickte nachdenklich zu Boden. Er war ein Mann, dessen Zugehörigkeit sich in jeder seiner Bewegungen ausprägte. Er mochte ein hoher Fünfziger sein; jeder Zoll seiner straffen, schlanken Gestalt drückte verhaltene Kraft aus. Das Gesicht, glatt wie das eines Dreißigjährigen, war bartlos. Der Mund glich einer Rasierklinge, scharf und beinahe lippenlos. Die Nase sprang weit ins Gesicht vor und verlieh ihm etwas vogelartiges. Ein Kapitel für sich bildeten die Augen des Mannes. Sie waren von einem kalten, verschleierten Blau und glichen einem im Morgendunst ruhenden Gletschersee, tief und unergründlich. Ueber der hohen Stirn breitete sich das sorgfältig gescheitelte helle Haupthaar aus, das in der Wirbelnähe den Beginn einer Glatze zeigte. Die Hände waren langfingrig, gepflegt und schimmerten in Perlmutterweiß. Nun streckte er eine nervöse Hand über den Tisch.
»Sie haben gleichwohl einen Fehler gemacht, als Sie hierher kamen, Haley. In Zukunft wünsche ich, daß Sie derartige Besuche unterlassen. Wenn Sie etwas von mir wollen, wissen Sie, wie Sie mich gefahrlos erreichen können. Erzählen Sie.«
Im Benehmen des Dieners drückten sich Unverschämtheit und Frechheit, gemischt mit Respekt vor seinem Gegenüber, aus. Dann begann er zu erzählen, wie man ihm im Gerichtssaal zugesetzt hatte.
»Ich habe natürlich davon, wie wir zueinander stehen, kein Wort verraten, Sir«, setzte er abschließend hinzu. »Das einzige, was mich in diesem Fall beunruhigt, ist Boscombes Einmischung. Ich kenne ihn seit der Zeit, als er noch in Scotland Yard tätig war. Er ist wie 'ne Kneifzange, läßt nicht los, was er einmal gefaßt zu haben glaubt.«
»Auch mit ihm werden wir fertig werden«, lächelte der andere. »Was ist mit jenem jungen Deutschen, der diesen Boscombe engagiert hat?«
»Er ist Lady Winifreds neuester Schwarm, Sir, ihr getreuer Ritter.« Haley schien sich von Hans-Lothar keinerlei Gefahr zu versehen. »Er klebt ihr beinahe immer am Rockzipfel. Die beiden haben sich an Bord der ›Montana‹ kennengelernt und wohl ineinander verliebt. Als die Gnädige in Lissabon verhaftet und später nach London zurücktransportiert worden war, brach der Deutsche, der sich in Begleitung seiner Schwester auf der Reise nach Südamerika befunden hatte, die Tour ab. In London engagierte er auf Anraten Sir Malcolms, des Verteidigers, Boscombe, um die Unschuld Winifreds nachzuweisen.«
»Befürchten Sie aus dieser Zusammenarbeit irgendwelche Gefahren?«
Der Diener schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Ich weiß nicht recht, was ich davon denken soll. Boscombe hat bisher noch kein Wort von sich hören lassen. Auch als Zeuge hat er sich zu der Verhandlung gegen Lady Montauban noch nicht gemeldet. Er scheint entweder ganz erfolglos in seinen Nachforschungen gewesen zu sein, oder – er hat etwas entdeckt, was ihm noch nicht ganz spruchreif dünkt.«
»Was kann er entdeckt haben?«
»Nun, vor allen Dingen hat er Graves einen dicken Strich durch dessen Rechnung gemacht. Der Schwager Montaubans mußte schleunigst verblühen, sonst hätte man ihm einen Prozeß gemacht, der ihm den Hals kosten konnte.«
»Graves ist kein Dummkopf, Haley. Er wird schon wissen, wohin er sich zu wenden hat, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
Haley schien noch nicht überzeugt, daß es an dem wäre.
»Er hat gerade in seinen Beziehungen zu Lord Montauban nicht immer die notwendige Vorsicht gewahrt, Sir«, erwiderte er. »Wie wäre er sonst von ihm des Hauses verwiesen worden?«
»Nun, wir wollen uns Graves' wegen die Köpfe nicht zerbrechen«, schnitt der andere das Thema ab. Er blickte einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. »Ahnt jemand, womit sich Lord Montauban beschäftigte, seit er sich von seinen kaufmännischen Geschäften zurückzog?«
»Nein«, lachte Haley. »Sonst wäre wohl der Fall kaum mehr so mysteriös wie er gegenwärtig aussieht.«
»Was meinen Sie damit?« fuhr ihn sein Gegenüber an.
Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf dem glattrasierten Dienergesicht Tims aus. Er zwinkerte dem anderen zu, als wolle er sagen: Wir beide brauchen uns kein X für ein U mehr vorzumachen.
Nervös zuckte es um die messerscharfen Lippen des Hausherrn. Es schien, als wolle er heftig werden. Im letzten Augenblick unterdrückte er jedoch die beabsichtigten Bemerkungen.
»Sie sind recht schlau geworden, Haley«, beschränkte er sich, dem anderen in verhaltener Drohung zu sagen.
Haley zuckte die Achseln.
»Ich habe ja einen guten Lehrmeister, Sir.«
Er stürzte den vor ihm stehenden Kognak hinunter. Der Alkohol gab ihm den Mut, seinem Herzen weiter Luft zu machen.
»Ich brauche Geld, Sir.«
Sein Gegenüber starrte ihn an.
»Sie haben erst vor wenigen Tagen hundert Pfund bekommen«, machte er den Unverschämten aufmerksam.
»Was sind bei den heutigen teueren Preisen hundert Pfund, Sir? Das Leben ist kostspielig, und als mein Vorleben so schonungslos in der Verhandlung enthüllt wurde, hat mich mein Chef, der jetzige Lord Montauban, fristlos vor die Tür gesetzt.«
»Sie sind entlassen worden?« fragte erstaunt der andere.
»Seit heute, Sir.«
»Aber, Mann, dann haben Sie ja jeden Wert für mich verloren!«
»Im Gegenteil«, lachte Haley. »Ich bin wertvoller denn je für Sie geworden!«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun – –,« ein höhnisches Lächeln breitete sich über das glattrasierte Gesicht des Dieners, »was meinen Sie, was passieren würde, wenn ich meine Aussagen vor dem Schwurgericht vervollständigen würde und dem Herrn Staatsanwalt eine Liste der vorläufig noch im Verborgenen lebenden Freunde meines verstorbenen Herrn einhändigte?«
»Schweigen Sie, Haley! Wieviel brauchen Sie heute? Vergessen Sie aber nicht, daß ich kein Millionär bin. Die Sache Montauban hat mich schon viel Geld gekostet, und wer weiß, ob sie mir je etwas einbringen wird.«
»Hundert Pfund, Sir, würden schon wieder eine Weile langen.«
»Die Erpressertätigkeit scheint Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, mein Lieber«, erwiderte scharf der andere. »So kann das jedenfalls nicht weitergehen. Seit wir miteinander in Verbindung stehen, haben Sie von mir mehr als tausend Pfund er – –«, er hatte wohl »erpreßt« sagen wollen, unterdrückte den Ausdruck aber und gebrauchte dafür das Wort »erhalten«.
»Sie hätten mir das Geld sicher nicht gegeben, wenn Sie nicht glaubten, es hundertfach wieder zu bekommen.«
»Das mag sein, daß ich diese Hoffnung hegte und auch jetzt noch hege, aber man weiß nie, wie diese Unternehmungen auslaufen. Hier haben Sie einen Scheck.« Er zog ein Scheckbuch aus der Tasche und wollte zu schreiben beginnen, als ihn eine abwehrende Geste Haleys unterbrach: »Nein, mein Lieber, auf Schecks lasse ich mich nicht ein. Sie sind zu leicht nachzuweisen. Schließlich bin ich doch kein Neuling auf diesem Gebiet mehr und werde mich hüten, Beweismittel gegen mich selbst zu liefern. Bargeld lacht.«
»Ich habe nicht so viel im Haus«, protestierte der andere.
Der andere stand auf.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, Haley, daß Sie dieses Haus nicht mehr betreten dürfen. Ich werde Ihnen jetzt die Hälfte des Geldes geben und Ihnen den Rest morgen senden. Wenn Sie nochmals, entgegen meinem Willen, hierher kommen, sind wir geschiedene Leute.«
»Wobei Sie sicher den Schaden hätten«, höhnte Haley.
Wenige Minuten später schlich sich der Erpresser aus dem Haus; sorgfältig in die Runde blickend, glaubte er sicher sein zu können, unbeobachtet geblieben zu sein. Raschen Schrittes ging er dem unfern gelegenen Untergrundbahnhof zu, den er in wenigen Minuten erreichte. Ehe er in dem Tunnel untertauchte, warf er nochmals Blicke zurück. Die Straße lag menschenleer. Beruhigt stieg er in den bald darauf einfahrenden Zug.
Haley hatte zwar vermocht, die ihm auf die Fersen gesetzten Beamten von Scotland Yard abzuschütteln, jedoch bei Boscombe hatte er seine Rechnung ohne dessen Erfahrung gemacht. Als der Diener, von Detektiven und Boscombe persönlich verfolgt, in dem Durchgangshaus der Tottenham Court Road verschwunden war, hatte sich Boscombe in ein eben vorüberfahrendes leeres Taxiauto geworfen und dem Chauffeur befohlen, so schnell wie möglich nach der anderen Seite des Durchgangs, nach der Greek Street, zu fahren. Sein Wagen war eben um die Straßenecke geschwenkt, als er Haley aus dem Durchgang herauskommen und sich eiligst nach Norden entfernen sah. Boscombe entlohnte den Fahrer und nahm die Verfolgung, alle Vorsichtsmaßregeln beobachtend, zu Fuß auf. Am Britischen Museum vorbei, über den Bedford Place und durch die Theobalds Road ging der Weg nach der Gary's Inn Road, dem Viertel der Anwälte. Vor dem Hause Nr. 19 blickte sich Haley nochmals vorsichtig um. Boscombe hatte sich in einen Hauseingang gedrückt und entkam so den beobachtenden Blicken des mißtrauischen Dieners.
Es dauerte lange, ehe Haley wieder erschien. Boscombe glaubte schon, daß ihm sein Opfer entgangen wäre, als sich endlich die Haustür zur 19 wieder öffnete und Haley erschien. Am Untergrundbahnhof brach der Detektiv die Verfolgung ab. Er wußte, wohin Haley sich begeben würde, denn er hatte den entlassenen Diener nach dessen Abzug aus dem Haus Lord Montaubans bis zu seiner neugemieteten Wohnung verfolgt.
Eine Viertelstunde später saß Boscombe mit Hans-Lothar und Sir Malcolm beisammen. Die Konferenz der drei dauerte bis in die zweite Morgenstunde, schien aber alle Teilnehmer mit größter Befriedigung erfüllt zu haben, denn Sir Malcolm lachte, als er sich von Hans-Lothar und Boscombe verabschiedete.