Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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XXV.

Grabesstill war es im Wohnzimmer der verunglückten Schauspielerin, obgleich zwei Menschen sich dort in der Nachtwache teilten.

In sich zusammengesunken lehnte Gregor in der Sofaecke, den Kopf in die Hand gestützt. Unruhig, voll bitterer Anklagen gegen das Schicksal, saß Viktor in der anderen Ecke des Zimmers. Zuweilen klang aus dem Nebenzimmer das Stöhnen der Verwundeten, dann sträubte der Papagei auf seiner Stange das Gefieder und krächzte ein wenig im Schlaf. Er träumte wohl, seine schöne Herrin necke ihn, wie so oft in Wirklichkeit, und dann seufzte Viktor, und Gregor sank noch um eine Linie tiefer in sich zusammen.

Auch er haderte mit dem Schicksal, der alte Mann, aber anders wie Viktor. Er zürnte der Natur, die Meisterwerke schuf und sie in unbegreiflicher Laune selbst zerstörte, während sie das unbeachtet weiter leben ließ, an dem sie nach jeder Richtung hin, sich karg erwiesen hatte. Warum konnte er nicht mit Martha tauschen? Was lag an ihm, wenn er den Rest seines Lebens hätte entstellt herum laufen müssen. Wen würde es kümmern? Ihn sicher am wenigsten!

Aber wie würde es Martha ertragen? – Der Gedanke lag ihm wie Bergeslast auf der Brust.

Aus der Kneipe, in der er seine einsamen Abende zuzubringen pflegte, hatte der Ruf: »Feuer im Theater!« ihn aufgejagt. Wie ein Wahnsinniger war er zum dramatischen Theater gestürzt, und gerade zurecht gekommen, um die erste majestätische Feuersäule zum nachtdunklen Himmel aufsteigen zu sehen.

»Martha!« – war sein einziger, klarer Gedanke. – Er wollte vorwärts, die Postenkette der Schutzleute hielt ihn zurück; er schrie auf, als jemand sagte: »Die Norden ist verunglückt!« – Und dann sah er plötzlich, durch die halbe Blindheit, in der er sich befand, einen Mann aus der Türe der Schauspieler wanken, mit einer Last auf der Schulter, von der ein langes, hellseidenes Gewand herabflog. Mit schlotternden Knien stürzte er auf Alten zu. So groß war seine Erregung, daß er gar nicht zum Bewußtsein des Wunderlichen kam, das darin lag.

»Einen Wagen!« stammelte Viktor schwankend.

Und dann saßen sie sich gegenüber, die Bewußtlose haltend; und alles, was jemals zwischen ihnen gewesen, war plötzlich ausgewischt. Das alte Gefühl der Zusammengehörigkeit verband sie wieder, als wären sie nicht einen Tag getrennt gewesen.

Der Arzt hatte Marthas Zustand nicht für lebensgefährlich gehalten, nur daß die eine Hälfte des Gesichts zeitlebens entstellt bleiben würde, das hatte er gleich gesagt, und beide hatten in dem Augenblick dasselbe Empfinden: »Viel besser sie wäre tot!« –

War doch für sie ihr weiteres Leben auf Schönheit aufgebaut. Sie war eitel, genußsüchtig, oberflächlich, die Heiterkeit ihres Naturells milderte das alles; Aber diese Heiterkeit entsprang nur dem Bewußtsein ihrer Schönheit! Was blieb ihr nun? – Viktor stand auf und trat leise an Gregors Seite.

»Wie wird sie es ertragen?« flüsterte er.

Gregor senkte das Haupt. »Ich weiß es nicht!« –

»Grete muß es ihr allmählich sagen, sie findet bessere Worte als wir.«

»Habt noch ein wenig Geduld – nicht gleich – laßt sie erst gesund werden,« stöhnte Gregor und wischte sich die feuchte Stirn.

»Sie wird nicht verlassen sein, Gregor, noch ist sie meine Frau, – noch habe ich die Pflicht, für sie zu sorgen, und bei Gott, ich denke dieser Pflicht gerecht zu werden, so lange ich lebe.«

»Du?« – fragte Gregor schroff. »Du bist mit der Kommerzienrätin verlobt! Almosen nimmt Martha nicht, so lange ich lebe.«

»Das ist zu Ende,« sagte Viktor ruhig. »Rose Marie gab mir mein Wort zurück. Martha bleibt meine Frau, ich ihr – Mann.«

»Bin ich wahnsinnig geworden oder nicht?« Gregor strich über sein Haupt. »Du! – du! – Viktor Alten! – Du stehst hier und kannst solchen Unsinn reden? Was willst du mit einer Frau, die nicht glänzen kann, die arm ist. Laß sie mir!«

»So gering hast du mich eingeschätzt?« sagte Viktor mit einem bitteren Lächeln.

»Noch viel geringer! Du hattest keine Ehrfurcht vor deiner Kunst; du hast den Tanz um das goldene Kalb mitgemacht. Du strecktest die Hand nach dem Eigentum deines Freundes aus, das selbst dem Wilden heilig ist! Und du verlangst, daß ich dem Dichter von: ›Im Zeichen der Zeit‹ ein Opfer zutraue, das in tausend Verzichtleistungen gewohnter Annehmlichkeiten besteht, im Ertragen täglicher Misère, täglicher Klagen ...« Da legte sich eine weiche Mädchenhand auf die Schulter des Sprechenden.

»Sie haben unrecht, Herr Gregor, – er wäre ein guter, edler Mensch!« sagte Gretes sanfte Stimme. »Der Lohn, den er fände, wäre freilich gering, wenn er ihn nicht in sich selber trägt. Aber das wird er sicher. Über alles im Leben steht die Pflicht.« –

Sie reichte Viktor die Hand, während die andere auf Gregors Schulter ruhen blieb, – so war sie ein lebendiges Glied in der zerrissenen Kette alter Freundschaft.

»Und Sie verlangen, daß ich das alles auf Treu und Glauben hinnehme?« fragte Gregor grimmig mit einem Seitenblick in Gretes bewegtes Gesicht. »Laßt sie mir! Bei mir soll kein böses Wort sie treffen, kein rauher Lufthauch; arbeiten will ich für sie bis ...« Sein Kopf sank auf die Brust, ein tränenloses Schluchzen stieg darin auf und schüttelte ihn.

Und würde Martha sich mit dem begnügen wollen, begnügen können, was er ihr bot? Es war so wenig, und sie hatte damals auch nur flüchtig empfunden, daß er seit Jahren ihr sein Dasein geweiht hatte. Hatte er ein Recht, sie für sich zu begehren, da Alten bereit war, ihr wieder eine Stelle an seiner Seite einzuräumen? Nein, das hatte er nicht! – Aber ihm graute vor dem Augenblick, wo sie erfahren mußte, was das Schicksal ihr genommen. Die anderen hatten Teilnahme, Mitgefühl für sie, er allein empfand anderes. – Und wenn er an die Zukunft dachte, so sah er das grauenvolle, entsetzliche Nichts, das ihrer wartete, angefüllt mit verzehrenden Wünschen, brennenden Klagen, jammervollem Entsetzen – und sonst nichts – nichts. – –

Tage verbrachte Martha in einem lethargischen, fast bewußtlosen Zustand. Grete wachte an ihrem Bett. Dann endlich kam der Augenblick, der sie dem Leben, der völligen Besinnung wiedergab. Sie schlug das unverletzte Auge auf und sah überrascht in Gretes Gesicht. Allmählich erwachte auch ihre Erinnerung.

»Bin ich verletzt?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Ach, es war so furchtbar – Flammen überall – Flammen und Rauch! – Hat es mir geschadet, Grete?«

Sie hob die verbundenen Hände etwas auf, und ihr Gesicht nahm einen starren Ausdruck an.

»Wird es Narben geben?« fragte sie. »Hat der Doktor gesagt, daß es Narben geben wird?« – Dann griff sie plötzlich nach dem Gesicht. »Mein Gott, auch hier?« – Sie betastete die Bandagen bis zum Schmerzgefühl. »Grete – wissen Sie, ob es schlimm ist? – Haben Sie es gesehen?« –

Angst durchklang die Worte, eine Angst, die gewaltiger war als jeder physische Schmerz. Ihr entsetztes Gesicht, von dem nur die eine Hälfte unverletzt und unverbunden, war ein deutlicher Spiegel von dem, was sie durchgrauste.

»Sie werden bald ganz gesund sein, Martha,« sagte Grete und strich mütterlich-zärtlich über das kurzgeschnittene, blonde Haar, »aber Sie müssen auch tun, was wir von Ihnen verlangen. – Ganz ruhig sein und sich keinem quälenden Gedanken hingeben.« »Aber wenn ich Narben behielte, – rote, häßliche Narben! Ich habe einmal eine solche Frau gesehen – ein Schrecken für jeden – lieber tot!«

Angstgefoltert hing ihr Auge an Gretes Zügen.

»Wozu solche Schreckgespenster heraufbeschwören,« sagte sie mißbilligend. »Sehen Sie, da ist gleich jemand, der Ihnen solche Sachen verbieten wird.«

Gregors kahles Haupt lugte vorsichtig durch die Türspalte, auf Gretes Wink kam er näher; Martha lächelte ihm entgegen.

»Sehen Sie mich nicht an,« sagte sie. »Ich sehe so häßlich aus mit diesen Verbänden! Wenn nur erst alles gut wäre, oder –« sie richtete sich plötzlich kraftvoller auf als man ihr zugetraut und griff mit der schmerzenden Hand nach seinem Arm. – »Gregor, sagen Sie mir die Wahrheit! Bin ich entstellt? – – Nur das nicht!« –

Mit einem Stöhnen sank sie in die Kissen zurück; aus den Augen des alten Mannes hatte es ihr so seltsam entgegengeleuchtet.

»Ruhig, seien Sie nur ruhig, Martha!« sagte er, unbeholfen ihre Hand streichelnd. »Sie werden gesund – das ist die Hauptsache.«

Sie achtete nicht mehr auf seine Trostesworte. Alten war eingetreten.

»Du, hier?« fragte sie erstaunt. »Bin ich denn so krank gewesen? Ach ja – ich erinnere mich – ich wußte nicht mehr, wo ich war – Herbert stieß mich zurück, um sich zu retten, – o, der Kampf war furchtbar unter den Versatzstücken, die mir den Weg sperrten – ich habe ihn gebissen, glaube ich – aber wer kam dann, durch den Rauch? Wer hat mich gerettet?«

»Er!« sagte Gregor. Sein Leben hätte er hingegeben, wenn er in diesem Augenblick zu sagen vermocht: »Ich!« – Nichts hatte er Alten beneidet, weder Ruhm, noch Gold, noch Liebe, in dieser Minute beneidete er ihn. »Du!?« – Zweifel, Erstaunen, Schreck klang aus dem einen kleinen Wort, nichts anderes.

Viktor trat dicht an das Bett und sah in ihr blasses Gesicht.

»Glaubst du, ich hätte dich in Lebensgefahr wissen und darin umkommen lassen können?« fragte er.

Sie schüttelte schweigend den Kopf und schloß nachdenklich das Auge, offenbar dachte sie nach. – Grete winkte, daß man die Kranke allein ließe.

»Also auch hier der Lump, der Herbert,« sagte Viktor zähneknirschend draußen zu Gregor. »Mir ahnte es! Wie kam sonst Martha allein wieder auf die Bühne, nachdem alle sich gerettet hatten? Also auch hier das Recht des Stärkeren gegen den Schwächeren. Gibt es denn kein Gesetz – keinen Gerichtshof, der das nach Verdienst straft? – Wo in der Welt ist ausgleichende Gerechtigkeit, Gregor?«

»Nirgends!« sagte der alte Philosoph ruhig. –

Marthas Kräfte nahmen zu, sie besaß eine gesunde Natur, aber mit jeder Stunde wuchs ihre Unruhe, ihre Angst, daß man sie täusche, daß ihre Wunden gefährlicher seien, als man sagte, daß sich doch am Ende die Spuren nicht ganz vertilgen ließen ...

Grete hatte einen schweren Stand. Martha bat, beschwor und quälte sie ohne Aufhören um die Wahrheit, und doch hätte sie nicht die Kraft gehabt, die Wahrheit zu ertragen. Aus diesem Zustande erwuchs schließlich eine hochgradige Nervenerregung.

Es war gerade, als wolle sie nicht eher gesund werden, bis sie nicht die Gewißheit hatte, in unverletzter Schönheit von ihrem Krankenbett aufzustehen, und Gretes Worte nützten ebensowenig als jeder andere Trost.

Mit Schrecken wurde das junge Mädchen sich über diesen zuerst so bestrickenden Frauencharakter klar. Eitelkeit füllte ihn ganz aus, und seine Vorzüge waren nur die schimmernd gleißenden Reflexe der Fehler. Von Tag zu Tag wuchs in Grete die Sorge um Viktors Zukunft an der Seite dieser Frau, und wenn sie auch mit ganzer Seele auf seiner Seite stand, so weit es sich um sein Pflichtgefühl handelte, ihr Herz wurde schwer, wenn sie bedachte, was die Ausführung ihn kosten würde.

»Warum sehen Sie mich so traurig an, Gretchen?« hatte er sie eines Spätnachmittags gefragt, während Martha schlief und er ihr gegenüber am Fenster stand.

Sie seufzte beklommen.

»Ich dachte an die Zukunft – und wie alles so anders wird, als wir noch vor kurzem geglaubt.«

Er strich über die Stirn, an seiner Hand flammte das rote Feuermal; sie sah es starr an.

»Es kann nicht immer Frühling und Sommer bleiben, wir müssen auch den Herbst hinnehmen, Gretchen.« –

Ja, die Zukunft bedeutete für ihn wirklich den Herbst. – Seine krankhafte Leidenschaft für Martha war erloschen. So wie es wirklich war, lag das Leben jetzt vor ihm, und die alte, ahnungsvolle Unzufriedenheit war stärker denn je. Nur das Bewußtsein, daß er entschlossen war, seine Pflicht zu tun, söhnte ihn etwas mit sich und dem Dasein aus. –

Und nun kam ein Tag, an dem die Sonne warm und schön in das Krankenzimmer schien, und Marthas Auge mit neu erwachtem Lebensmut den tanzenden Sonnenstäubchen folgte. – Noch trug sie die Verbände, aber nur, um die grausamen Entstellungen ihr nicht eher zu zeigen, als bis sie ruhiger geworden war.

Der Arzt hatte gestern gute Hoffnung gegeben, und so zuversichtlich getan, daß auch sie unwillkürlich davon erfaßt wurde. Grete war zu Rose Marie gegangen.

Während sie dalag, spann sie Träume für ihre Zukunft. Herbert war ihr verleidet, ja sie empfand bei dem Gedanken an ihn fast etwas wie Furcht; nun konnte er ihr nirgends hinderlich sein, an welches Theater sie auch zu gehen versuchte. Freilich, am besten war es schon, sie verließ die Stadt, in K. hatte es sich doch auch leben lassen, hier fesselte sie doch nicht die Spur eines wärmeren Empfindens, das sie zum Bleiben hätte veranlassen können. Da hob sie plötzlich lauschend den Kopf; nebenan in ihrem Wohnzimmer sprach man ja – und wahrhaftig, das war Herberts Stimme! – Was wollte er? Weshalb kam er? – Instinktiv drückte sie die verbundene Seite ihres Gesichts in die Kissen und schloß die Augen. Sie hörte ganz deutlich. – Es war Herbert und der Arzt. – Jedes Wort verstand sie, obwohl beide die Stimmen tunlichst dämpften. Als wäre es die Posaune des jüngsten Gerichts, so tönte es in ihren Ohren.

»Gut, daß ich Sie heute treffe, Doktor,« sagte Herberts wohllautende Stimme. »Ich muß ganz klaren Wein über den Zustand der Norden haben. – Also niemals – in keinem Fall mehr die Möglichkeit vorhanden, daß sie wieder auftreten kann?«

»Absolut unmöglich!«

»Ja, aber mein Himmel, Brandwunden heilen doch schließlich aus, – und dann unter der Schminke! Sie verstehen – ich möchte sie nicht gern brotlos machen, da das Unglück in meinem Theater geschehen ist.«

»Aber wissen Sie denn gar nicht, Direktor, daß die eine Gesichtshälfte völlig zerstört ist? Es ist die furchtbarste Entstellung die Sie sich denken können. Schrecklich für die arme Frau!«

»Nun, dann ist meine Mission hier zu Ende! – Ob ich sie sehen will? – Nein, danke! – Ich wüßte wirklich nicht, was ich ihr sagen sollte. Arme Frau! Es kann ihr eben niemand helfen. – Schade, – sie war so schön!« –

Bewegungslos, stumm und starr, unter dem Banne des Grauenhaften das sie gehört, lag Martha noch immer still als die Stimmen längst verstummt waren. Mit beiden Füßen sprang sie plötzlich aus dem Bett und stürzte in das Wohnzimmer vor den Spiegel; dort riß sie die Binden von Gesicht und Händen. Ein schrecklicher Anblick bot sich ihr, ein Anblick so grausenerregend, daß im ersten Augenblick sich kein Laut über die fahlen Lippen drängte.

Ja, – ihre Schönheit war auf ewig vernichtet! –

Und nun erst – nun schrie sie auf! Schrill und schneidend klang der Wehlaut von ihren Lippen, als sie auf den Teppich hinsinkend, mit der Stirn gegen den Boden schlug. Aber keine mitleidige Ohnmacht war es, die ihre Sinne für einen Augenblick mit dem Schleier der Vergessenheit deckte, nur stumme, starre, maßlose Verzweiflung lag wie ein Bann auf ihr, eine Verzweiflung so furchtbar, daß sie jeden Gedanken, jedes Empfinden auslöschte.

Sie hatte das Gefühl, als stehe sie am Rande eines bodenlosen Abgrundes, in dem es nichts gab als Öde, Kälte und Leere, ein grauenhaftes Nichts. – Das war ihre Zukunft! – Da klang die Tür, Grete kam zurück.

»Martha!« rief sie erschrocken.

Und bei diesem ersten Laut einer menschlichen Stimme durchbrach die Verzweiflung den Bann des Schweigens. Aufschreiend sprang Martha empor. Mit beiden Händen packte sie die Spitzen des Nachthemdes auf der Brust und riß sie in Fetzen; Schauer schüttelten sie.

»Warum ließet ihr mich nicht sterben!? –«

Und dann stürzte sie der entsetzten Grete zu Füßen, umklammerte ihre Knie und rief in Tönen des schrecklichsten Jammers:

»Es ist unmöglich, daß ihr mich so zugrunde gehen laßt; in vollster Jugend, in vollster Kraft! Holt einen anderen Arzt, bietet ihm alles, damit ich wieder werde, was ich gewesen bin, schön! – Schön! – Seid barmherzig! –Ich kann so ja nicht weiter leben – und ich lebe doch so gern. – Die Wissenschaft kann doch nicht machtlos sein, ich habe den Mut, jeden Schmerz zu ertragen – ich werde euch helfen – aber rettet mich! Rettet mich vor dem Wahnsinn!« –

Eisig rann das Bewußtsein der Machtlosigkeit durch Gretes Herz. Sie kauerte neben Martha, hielt sie mit beiden Armen umfangen. Unaufhörlich strömten Marthas Tränen und brannten wie Feuer auf der verwundeten Wange; aber sie hörte kein Wort. – Trost? Wo gab es Trost für sie! – Was blieb ihr, nachdem ihr die Schönheit genommen? –

Mit Bitten und sanftem Zureden gelang es Grete endlich, die Kranke in ihr Bett zurückzubringen. Der erste Paroxismus der Verzweiflung war vorüber, aber nur weil ihre Kraft erlahmt war. Völlig apathisch lag sie da, als Grete Viktor und Gregor entgegenging, um ihnen das Geschehene mitzuteilen.

»Laßt mich zu ihr!« rief der alte Mann mit stockendem Herzschlag und trat eilig über die Schwelle.

Mit einem Schrei fuhr Martha in ihren Kissen auf.

»Nichts! – Nichts! – Komme niemand herein! Niemand! Keiner soll mich sehen – jetzt – wo man sich vor mir entsetzen wird! ...«

»Glauben Sie das wirklich, Martha?« fragte er fast barsch, als er neben ihrem Bette stand. »Wissen Sie nicht, daß wir Sie lieb haben, ob schön oder häßlich!«

»Nein!« jammerte sie trostlos, »an mir ist nichts zu lieben außer meiner Schönheit, und ich will nicht leben ohne die. Wollen Sie mich etwa Tag für Tag, mit diesen entstellenden Narben ansehen, Gregor? Wollen Sie mich in Armut und Elend versinken sehen? Wenn Sie das ertragen können – ich kann es nicht!« schrie sie wieder in ihrer alten, wilden Leidenschaftlichkeit.

»Martha,« sagte Viktor und setzte sich neben sie auf den Stuhl, der zu ihren Füßen stand. »Sei nicht so verzweifelt. Armut und Elend sollen dir fern bleiben so lange ich lebe. Im Glück konnten sich unsere Wege trennen, im Unglück gehören wir zusammen. Reich mir die Hand zum Zeichen eines neuen, besseren Bundes, als wir ihn vor sechs Jahren eingingen.«

Sie starrte ihm mit wilder Verzweiflung in das Gesicht; daß Gregor davon geschlichen war, sah sie nicht.

»Weißt du, was ich jetzt bin?« fragte sie heiser. Dann einem plötzlichen Impulse nachgebend, riß sie den Verband ab und zeigte ihr Gesicht. »Sieh mich an!«

Ein Schauer überlief ihn. Ach, er wußte längst, daß seine Liebe zu ihr, die in den Sinnen wurzelte, in den Flammen ihren Tod gefunden, daß ein Blick auf ihr verwüstetes Gesicht sie ihm jäh aus dem Herzen gerissen hatte. Aber er beherrschte sich mit aller Kraft.

»Wir werden es ertragen lernen, weil wir es zusammen tragen, Martha!« sagte er.

»Niemals! Nie!« – Sie stieß seine Hand zurück, die sich ihr entgegengestreckt hatte. »Ich will keine Almosen – ich will nichts mehr! – Glaubst du, ein Leben an deiner Seite könnte mich locken, nachdem ich es einmal gekostet? Damals schon warst du ungerecht, als ich noch so jung und schön war – jetzt – wie würde es jetzt erst sein! – Glaubst du wirklich, ich könnte ein Hinleben ohne Zweck und Ziel ertragen, und dazu noch dankbar sein für jeden Bissen, mit dem ich meinen Hunger stille? Glaubst du, ich könnte deine mitleidigen Blicke aushalten, die mir täglich das Opfer zeigten, das du brächtest? – O, warum ließest du mich nicht sterben? Wie barmherzig wäre das gewesen!«

»Martha!« fiel Grete ihr fast streng in die Rede. »Wie ungerecht und unnötig grausam sind Sie gegen sich selbst und – uns.«

Da warf die unselige Frau beide Arme in die Luft und rang die armen, kranken Hände. »Versteht mich denn niemand! – Niemand!« schrie sie außer sich vor Qual.

Wieder schlich es leise näher, drängte sich vor Viktor, der noch immer neben ihrem Bett saß, und Gregors hängende Gestalt beugte sich über die Stöhnende.

»Ich, Martha!« sagte er, und liebkosend glitten seine zitternden Finger über ihren blonden Kopf.

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seinen fleckigen Rock. Das wilde, leidenschaftliche Schluchzen mäßigte sich allmählich und ging in leises Wimmern über.

– »Sie wird sich mit der Zeit darein finden,« sagte Grete zuversichtlich, als die drei Pfleger am späten Abend noch zusammen saßen. »Ich will sie Tag für Tag darauf hinweisen, daß es noch andere Dinge gibt, die das Leben lebenswert machen.«

»Was ich tun kann, um ihr Los zu erleichtern, soll geschehen,« gelobte auch Viktor. Nur Gregor schwieg, er starrte in das Lampenlicht und sah alt, verfallen und runzlig aus.

Nebenan lag Martha in tiefer Betäubung. Der Arzt hatte eine Morphiumeinspritzung gemacht. Morphiumpulver standen auf dem Nachttisch, um dem ermatteten Körper wenigstens für kurze Zeit Ruhe zu verschaffen, unter roter Kuppel brannte das Nachtlicht.

Mitternacht war es, als sie plötzlich ganz wach und klar aus ihren Kissen auffuhr, mit der vollen Erinnerung an die schreckliche Gewißheit, die ihr der vergangene Tag gebracht hatte. Totenstill und einsam war es um sie. Zitternd und schwankend erhob sich Martha und warf einen Blick in das Nebenzimmer. Richtig, da lag Grete, friedlich schlafend, wie sie es vermutet hatte. Ein mattes rosa Licht schimmerte über ihre weiße Stirn aus der halb offenen Tür, und ihre Züge schienen im Schlaf verschönt und verklärt. Mit bitterstem Neid blickte Martha in dieses Mädchengesicht; noch vor kurzem hätte sie es lachend abgewiesen, sich mit ihm in Konkurrenz zu stellen; jetzt aber hatte Grete ein Recht, sich dagegen zu wehren.

Von dem Übermaß ihres Empfindens und der Kälte geschüttelt, ging sie endlich wieder in das Bett zurück. Aber da baute es sich vor ihr auf, riesengroß, entsetzlich, das Blut zu Eis erstarrend, – der Gedanke an ihr zukünftiges Leben. Sei es einsam, sei es als Viktors Frau. – Hintereinander würden ihre Tage fortschleichen ohne Hoffnung, ohne Zweck, ohne Ziel, ohne Freude! Einer wie der andere! Man würde sie ob ihres Unglücks bedauern – das war alles! – Aber sie würde sich dann stets erinnern müssen an das, was gewesen, an die Zeit ihres Glanzes, ihrer Schönheit, an die Zeit, wo der Traum ihrer Jugend sich verwirklicht hatte! – Wahrlich, die Hölle konnte nicht schlimmer sein! –

Mit zitternder Hand griff sie nach einem Spiegel und sah lange hinein, die Unterlippe zwischen den Zähnen – stumm! – Nein – keine Hoffnung! Keine! – Und dabei diese Lebensleidenschaft in den Adern, dies wilde Verlangen nach Freude und Glanz! ..... – – – – – Die purpurne Nachtlampe erlosch, das erste graue Morgendämmern des Wintertages brach durch die Scheiben, auf der Straße wurde es lebendig. – Aus einem schweren Traum fuhr Grete empor und schlich herzklopfend an Marthas Lager. Auf dem Boden davor schimmerte es weiß wie verstreute Schneehäufchen. – Im Bett, die gesunde Seite des Gesichtes nach oben gekehrt, lag Martha, um die Lippen ein geheimnisvolles Lächeln, kalt – tot! Schön wie im Leben! –


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