Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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I.

Ein weiß getünchtes Mansardenzimmer, vor dessen niedrigen Fenstern die billigen Gardinen unter dem draußen heftig wehenden Novembersturm leise hin und her schwanken; abgetretene Dielen, in der Nähe des Ofens ein altes schwarzes Ledersofa, an der andern Wand eine schöne alte Rokokokommode mit einem Spiegel darüber; inmitten ein tannener Tisch mit Büchern und Papieren bedeckt und davor ein Mann eifrig arbeitend.

Nichts unterbricht die Stille im Zimmer, der Wind draußen läßt sie hervortreten, nichts stört den Arbeitenden.

Die weißen Bogen füllen sich rasch; er schiebt sie zur Seite und greift nach neuen. Sein hübsches junges, südlich gebräuntes Gesicht, edel in Form und Ausdruck, glüht, die dunklen tiefen Augen glühen ebenfalls – er ist mit Leib und Seele bei seiner Arbeit.

Über die weiße Stirn wirft der grüne Lampenschirm einen leichten Schatten, der bis auf die fein gezeichneten Augenbrauen fällt, aber die Partie, die das Licht hell bescheint, ist voll Frische und Leben.

Irgendwo im Nebenzimmer schlägt eine Uhr acht, aber Viktor Alten ist so vertieft in seine Arbeit, daß er nicht darauf achtet. Nun knarrt die Treppe draußen, nur durch wenige schmale Dielen von seinem Zimmer getrennt, so daß man drinnen jeden Laut vernimmt, ein kurzes Klopfen, auf das er nicht einmal antwortet, und der Kommende tritt ein.

»Laß dich nicht stören,« sagt er bei dem stummen, grüßenden Nicken, mit dem der andere ihn empfängt, ohne aufzusehen, »ich warte!«

Er setzt sich, auf das alte Ledersofa, legt seinen großen weichen Filzhut neben sich und öffnet den Paletot; so sitzt er unbeweglich, wohl eine Viertelstunde.

»Fertig!« ruft Viktor endlich, die Feder hinwerfend. Er springt auf und reckt die Arme in die Luft, während er sich noch ganz erhitzt von der Arbeit nach dem Freunde umsieht. »Ich kann mit meinem Tagewerk zufrieden sein, das letzte Kapitel geschrieben, den Schluß meines neuen Romans!«

»Ich gratuliere dir.«

»Ja, das kannst du auch!« Gregor trat vor ihn und sah ihm mit eigentümlichem Lächeln in das Gesicht, es lag ein leicht sarkastischer Ausdruck in der Art, wie er seinen häßlichen Mund verzog.

»Ich habe dir hier etwas mitgebracht!« sagte er.

Er zog einige Zeitungen aus der Brustasche und zeigte auf die blau angestrichenen Stellen unter »Literatur«. »Realitäten!, Roman von Viktor Alten« las man da.

Der junge Schriftsteller war ein wenig blaß geworden, als er sich wieder auf den eben verlassenen Stuhl zurücksetzte und die Blätter nahm. Der andere sah ihm über die Schulter.

Es waren glänzende Kritiken, Worte des Lobes und der Anerkennung von ernsten Männern an das junge aufstrebende, bisher noch ganz unbekannte Talent gerichtet. Für ihn! Für ihn allein! – Ihn schwindelte – er seufzte tief auf. –

Seine erste große Arbeit gewürdigt, anerkannt! In diesem Augenblick war er vollkommen glücklich, so glücklich, wie es nur wenigen Menschen vergönnt ist im Leben zu sein, und dann eben auch nur einmal.

Plötzlich sprang er auf. Der Jubel, der ihn erfüllte, war so mächtig, daß er ihm fast die Brust zersprengte. »Gregor!« rief er laut und schloß den Freund, der so viel älter an Jahren war wie er, der fleckige Röcke trug und stets ein skeptisches, kritisches Lächeln auf den dünnen Lippen hatte, stürmisch in seine Arme. »Hast du es gelesen? Alles?«

»Natürlich!« sagte Gregor grämlich und hielt in der Umarmung so still, wie etwa ein Delinquent, dem man die Schlinge um den Hals legt. »Die Folge dieser Weihrauchwolken wird sein, daß du nun eitel, mit einem Wort so unausstehlich wirst, daß man dir meilenweit aus dem Wege geht. – Hol der Teufel solche Lobhudelei!«

»Gönne es mir doch!« sagte Viktor leise nach einer kleinen Pause.

»Gott im Himmel, hältst du mich etwa für neidisch?«

Die langen Arme auf dem Rücken verschränkt, schlurfte Gregor mit gesenktem Kopf durch das Zimmer.

»Daß du ein Narr wärst und dich um Lob und Tadel anderer kümmertest,« fuhr er fort und schüttelte den Kopf. »Geh deinen Weg, wie er dir paßt, nimm vom Leben, was du begehrst, suche deinen Vorteil, so lange du es kannst, das ist mein Alpha und Omega für dich!«

»Ich weiß, Gregor, daß du dich mit mir freust, daß du stolz auf mich bist,« sagte Viktor mit hellem Auflachen. »Bei dir heißt es auch: ›richtet euch nach meinen Taten aber nicht nach meinen Worten!‹ Du großer Realist du!«

»Großes Kind!« sagte Gregor spöttisch.

Viktor nickte, während Gregor auf ein leises Klopfen ein lautes Herein rief.

Über die Schwelle trat ein junges Mädchen; sie schloß die Tür, deren Klinke sie festhielt nicht ganz hinter sich, so daß das rötliche Helldunkel sie von rückwärts umfloß.

»Was wollen die Herren zum Abendbrot?« fragte sie, sich nachlässig gegen die Tür lehnend, »es ist Zeit!«

»Machen Sie erst einmal die Tür zu und kommen Sie näher, Martha!« sagte Gregor. »Gehen Sie, so sieht ein Mensch aus, den man einen Dichter nennt,« er legte seine Hand auf Viktors Schulter.

»Was soll das heißen?« fragte sie lachend von einem zum andern blickend.

Mit halb unbewußtem Stolz nahm Viktor die Zeitungen auf, die noch unordentlich auf seinem Schreibtisch lagen.

»Man hat mein Buch gelobt, sehr gelobt!« sagte er, und Glücksrausch stieg ihm aufs neue zu Kopf.

Ohne weiteres griff sie zu und begann zu lesen. Ihr blonder Kopf mit dem mattflimmernden, glänzenden Haar streifte fast die Lampe, das schöne Gesicht rötete sich, die Äugen leuchteten unter den langen Wimpern, die einen feinen Schatten auf die rundlichen glatten Wangen warfen.

Viktor sah Marthas Erregung, die seinige wuchs.

»O!« sagte sie endlich mit tiefem Aufatmen, stützte den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand, während sie ihn mit dem großäugigen Kindergesicht bewundernd anblickte. »Darf ich das alles der Lene erzählen?«

»Der Lene und aller Welt, die es sonst noch hören will, Martha,« sagte Gregor, seinen Spaziergang wieder aufnehmend. »Nur die Masse macht den Ruhm; und wenn dabei auch manchmal wunderliche Dinge zutage kommen, sie ist stets im Recht, weil sie in der Mehrheit ist und deshalb die Macht hat. – Es ist ein schönes Ding um die Macht – leider!«

Viktor stand dem Mädchen gegenüber, ihre Augen hingen noch immer aneinander, die ihren bewundernd, fast respektvoll, die seinen leuchtend, durchglüht von Seligkeit. Auf einmal streckte er ihr die Hand entgegen.

»Sie freuen sich mit mir, Martha, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich,« antwortete sie schnell und strich eine eigensinnige Locke hinter das Ohr, »aber gedacht hätte ich das nie von Ihnen.«

Er lachte laut auf.

»Ich auch nicht« gestand er ehrlich.

»Ein zweifelhaftes Talent, das sich selbst nichts zutraut,« fuhr Gregor dazwischen, »und was Sie anbelangt, Martha, so ist es das Vorrecht großer Geister von denen, die ihnen Tee kochen und Butterbrote streichen mit einer gewissen heimlichen Verneinung angesehen zu werden; das ist nicht anders in der Welt!«

»Himmel, das Abendbrot!« rief das Mädchen aufspringend. Sie eilte hinaus.

»Wie hübsch Martha geworden ist, hast du es bemerkt?« fragte Viktor, sich mit dem Rücken an den Tisch lehnend und Gregors fortgesetzter Promenade mit den Augen folgend.

»Gedenkst du mit dieser Bemerkung etwa deine Dankbarkeitsschuld für ihre Begeisterung abzutragen; sie hört es leider nicht!« meinte Gregor mit grimmigem Lächeln.

»Das fällt mir natürlich nicht ein. Ich sprach aus, was ich sah,« versetzte Viktor ärgerlich. »Übrigens hat mich ihre Teilnahme gefreut.«

»Die ungleich größer gewesen wäre, wenn es sich um einen neuen Hut oder solch ein Stück Möbel gehandelt hätte. Bah! –«

Alten schüttelte den Kopf:

»Laß mir die Frauen in Frieden! Und vor allen Dingen unsere kleine Martha, du Skeptiker!«

»Kleine Martha!« grinste Gregor. »Hast du nicht gesehen, wie sie dir fast an das Kinn reicht? Und das Kleid, das sie trägt, kaum mehr imstande ist, seine Dienste zu tun? Bist du denn blind gewesen?«

»Möglich!« sagte Viktor nachdenklich. »Ich hatte bisher genug mit meinen Phantasiegeschöpfen zu tun, weißt du!« »Bis du fast selber ein Phantasiegeschöpf geworden bist! Sei froh! Das ewig Weibliche zieht öfter hinab als hinauf.«

Mit einer mißmutigen Gebärde fuhr sich Viktor durch das Haar.

»Daß du es immer wieder versuchst, mich zu dem zu machen, was du einen ›Klugen‹ nennst! Gib die Mühe auf, Hugo, es lohnt nicht! Ich glaube an die Welt. Der Mensch ist von Hause aus gut; ein gutes Wort vermag mehr als Härte und Strenge.«

»Schwärmer!« spottete Gregor, das Haar über den kahlen Scheitel streichend. »Sieh mich an! So wie du dachte auch ich einst, aber das Leben lehrte mich bald etwas anderes. Ein nichtswürdiges Dasein, zu dem wir verdammt werden ohne unseren Willen, mit der einzigen Gnade nur, es in unserer Hand zu haben, wenn wie des Possenspiels satt sind.«

»Das Leben ist schön!«

Viktor breitete beide Arme gegen die Stubendecke. Ihm war das Herz so voll! Wo er auch hinsah, schien ihm das Glück zu winken, ein unnennbares, unfaßbares Glück.

»Gregor! Ich möchte keinen Tag, keine Stunde, die mir auf Erden geschenkt sein soll, missen.«

»Wohl dir, wenn du immer so denken wirst! Aber frage einmal bei Frau von Nordheim an.«

Dann ließ er ihn stehen und klopfte geschwind an die Verbindungstür.

»Wie geht's, Frau von Nordheim,« rief er durch die Spalte hinüber.

»Wie soll's gehen! Leisten Sie einer blinden, alten Frau etwas Gesellschaft,« klang es von drüben zurück. »Der Tag ist lang, lieber Gregor.«

»Ich komme gleich!«

»Also nachher,« sagte er, Viktor bei der Schulter fassend und ein wenig hin und her schüttelnd. »Ich hoffe, meine Aufforderung kam Ihnen nicht ungelegen,« sagte die alte Dame. »Sie debattierten drinnen so laut.« Ihr Gesicht war hart und streng, etwas von dem versteinten Schmerzenszug einer Niobe lag darin.

Gregor zuckte die Achseln.

»Das alte Lied! Viktor sieht in diesem Leben das Höchste, Vollkommenste und wird nicht eher ruhen, bis er sich den Kopf einrennt. Übrigens hat er heut seinen ersten Erfolg, er ist ein großes Talent!« Und nun erzählte er ausführlich.

Aus seiner scharfen, wenig modulationsfähigen Stimme klang dabei so viel Freude und Zärtlichkeit für seinen jungen Freund, so viel Stolz, daß über das vornehme alte Gesicht der Greisin ein seltenes Lächeln flog.

»Besser wäre es freilich, man hätte ihn verrissen,« schloß er. »Ich bitte Sie, ein Mensch wie er, jung, unerfahren, begeistert, voll reger Phantasie, dem sollte man Anerkennung nicht zu wohlfeil geben, das verwirrt nur den Sinn.«

Frau von Nordheim lächelte noch immer.

»lind wie oft haben Sie es mir zum Vorwurf gemacht, daß ich in bezug auf Martha ebenso denke wie Sie.«

»Das ist etwas anderes,« fuhr er auf, »Martha ist ein Mädchen...«

»Desto schlimmer!«

»Hm – ja!« meinte Gregor und strich über die grauen Haarsträhnen, »möglich! Jedenfalls ist Martha sehr hübsch geworden.«

»Leider, Gregor! Wäre sie das nicht, nicht auch sonst das echte Kind ihrer Mutter – ich könnte meine Augen in Frieden schließen. So aber bange ich vor der Stunde, obgleich sie mir Erlösung bringt,« sagte sie schroff.

Er trommelte mit den Fingern auf dem abgeschabten Knie seines Beinkleides einen Geschwindmarsch, während er die alte Frau beim Lampenlicht aufmerksam betrachtete; sie kam ihm verfallen vor, Sorge befiel ihn plötzlich. Was sollte dann werden! Aus Martha sowohl, als auch aus ihrem friedlichen, freundschaftlichen Zusammenleben, an das er sich so sehr gewöhnt hatte.

»Sie dürfen nicht sterben,« sagte er kurz und rauh. Wie kam auch die alte blinde Baronin, die noch dazu halb gelähmt war, seit er sie kannte und trotzdem niemals mit einem Wort den Tod erwähnt hatte, auf einmal zu dieser Idee? – »Sie sind noch nötig auf Erden!«

»Machen wir uns das nicht weis, lieber Freund,« sagte sie und faßte mit ihrer Hand seinen Arm. »Wir sind nie nötig! Können überhaupt nichts tun, als geduldig ausharren, damit ist unsere Macht erschöpft. Und wenn ich Martha einem Abgrund zutreiben sehen würde, glauben Sie, ich könnte selbst mit der eisernsten Strenge auch nur das Geringste ausrichten? Das Blut ihrer Mutter ist mächtiger als ich.«

»Das Blut ihrer Mutter?« fragte Gregor betroffen.

»Sie war eine Schauspielerin,« sagte sie kurz nach einigem Zögern – »und wenn ich Ihnen heute von meinen Lebensbeziehungen sprechen möchte, Gregor, so halten Sie es nicht für geschwätzig, sondern aus dem Bewußtsein entspringend, daß mir nicht mehr lange Zeit zum Sprechen bleibt. Sterben müssen wir alle!«

»Ich höre!« sagte er fast respektvoll.

»Sie war also eine Schauspielerin,« begann die alte Frau tief aufseufzend in der kurzen, barocken Art, die ihr eigen, und die jedes Wort zu einer Härte machte. »Schön! – sehr schön –! Mein Sohn hielt sie für eine große Künstlerin und nannte mich – ›voreingenommen‹, weil ich an ihrem Talent zweifelte. – Eberhard liebte sie – mehr, viel mehr als mich! – Es war eine blinde Leidenschaft, die ihn ganz unterjochte! Und ihr lag doch die Liederlichkeit im Blut; sie schändete unsern alten ehrenhaften Namen – durch Jahrhunderte hindurch ehrenhaft – täglich – stündlich – und mein Sohn merkte es nicht! Wer sollte es ihm anders sagen als ich? – Die Antwort war, daß beide heimlich flohen! – Begreifen Sie nur, Gregor – er verließ seine Mutter, die für ihn gesorgt hatte auf Kosten des eigenen Lebensglücks – heimlich – um dieser Dirne willen! – Den Rest meines kleinen Vermögens nahmen sie mit und ließen mir statt dessen das Kind, die Martha –.«

In Gedanken verloren hatte Frau von Nordheim das Kinn auf die Brust sinken lassen. Aus ihren verfallenen Zügen sprachen Kummer und Sorgen, aber es lag trotzdem ein Zug von Reinheit und Seelenfrieden in dem welken Gesicht, der deutlich zeigte, daß sie die Leidenschaft niemals kennengelernt hatte.

»Ich erzog Martha«, fuhr sie endlich leiser fort, »so gut ich konnte, freilich, zur Liebe kann man sein Herz nicht zwingen, und ich liebe die Tochter meiner bittersten Feindin nicht – ich konnte es nicht!«

Nun rang sie plötzlich angstvoll die Hände.

»Was soll aus ihr werden, wenn ich tot bin?« fragte sie gebrochenen Tones. »Sie ist eine Nordheim, den Namen kann ich ihr nicht nehmen. Wie aber darf ich in Frieden ruhen, wenn durch sie noch mehr Schande auf ihn gehäuft wird. Wie soll ich es verantworten, daß ich die unseligen Keime ihres Charakters nicht besser ausgerottet habe? Und doch, Gregor – all unsere Erziehung ist fruchtlos der Natur gegenüber! Was im Menschen liegt, tritt zutage, sobald der gegebene Augenblick da ist. Ich habe mit all meiner Strenge bei Martha kein Jota ausgerichtet. Führen Sie sie in Versuchung, und sie wird unterliegen, um genau das zu werden, was ihre Mutter war.«

»Seien Sie nicht ungerecht,« mahnte Gregor betroffen, »Martha ist jung, Jugend will ihr Recht. Sie ist hübsch, ein braver Mann wird sie an sein Herz nehmen und sie sorglich hüten, so daß Ihre Angst unbegründet ist.«

Sie wandte ihm rasch das Gesicht mit den erloschenen Augen zu. »Wäre das der Fall, auf meine Knie wollte ich fallen und ihm und Gott danken! Jeder Bettler wäre mir willkommen, wenn nur einmal der verfluchte Name ›Nordheim‹ aus der Welt geschafft wird!«

Sie sah in dem schwachen Lampenlicht, mit dem gelblichen hageren Gesicht, wie eine Fanatikerin aus, die bereit ist, für ihren Glauben in den Tod zu stürzen.

»Wenn ich tot sein werde,« fuhr sie fort, »ist Martha frei, und dann wird es sich zeigen, ob ich recht habe mit dem, was ich fürchte! Ihre Neigungen ziehen sie nach unten, keine einzige empor! Lene Dallmann und ihre Mutter, die Aufwärterin, sind ihre liebste Gesellschaft, sie verstehen einander in ihren Wünschen und Interessen, wir hingegen so wenig, als sprächen wir verschiedene Sprachen!«

»Warum dulden Sie denn diesen Verkehr?« fragte Gregor.

»Warum?« wiederholte sie leise, den Kopf schüttelnd. »Lieber Freund, Armut nivelliert, das ist nicht anders. Der Geldbeutel allein hat das Wort bei Leuten, die auf der Bildungsstufe der Dallmanns stehen. Bin ich reich, so beknixen sie mich, und käme ich aus dem Sumpf; bin ich arm, heiße ich ihresgleichen. Außerdem sind es ja ganz brave Leute, diese Dallmanns, und die Kinder gingen zusammen zur Schule.«

In diesem Augenblick öffnete Martha die Tür.

»Das Abendessen ist da, Herr Gregor!«

Er stand auf.

»Gute Nacht, verehrte Frau, und keine trüben Gedanken mehr, hören Sie?«

Sie reichte ihm die Hand.

»Gute Nacht, lieber Freund, Dank für Ihren Besuch!« Hugo Gregor zog die welken Finger an seine Lippen. Er hatte es noch nie getan und errötete fast selber darüber, aber über Frau von Nordheim lag heute abend eine solche Würde.

»Und was Martha anbelangt – ich bin auch noch da!« sagte er leichthin, während er der Tür zuging.

Es hatte ihm schon den ganzen Abend auf der Seele gelegen, ihr diese Versicherung zu geben, von der er wußte, daß sie ihr Herz erleichtern würde, aber sobald es sich darum handelte, hilfsbereit zu sein, war er schüchtern wie ein Knabe.

»Nur keinen Dank!« schrie er grimmig, wenn es aufkam, daß er wieder einmal im stillen etwas Gutes getan hatte. »Nur keine Redensarten!« – Und deshalb konnte auch Frau von Nordheim getrost ihr Haupt zur Ruhe legen; so lange Gregor lebte, war Martha nicht schutzlos.

Das Mädchen stand dicht an der Verbindungstür, die Arme auf dem Rücken verschränkt und sah dem Näherkommenden halb lachend, halb schmollend entgegen.

»Großmutter hat mich wieder schlechtgemacht?« flüsterte sie fragend. »Glauben Sie denn alles, Herr Gregor?«

Er sah sie prüfend an – unwillkürlich prüfend. Ihr reizendes, rosiges Kindergesicht sprach ihm nur von Anmut und Jugend, von keinem einzigen Fehler. Gewiß war Frau von Nordheim nicht ganz gerecht gegen ihre Enkelin!

»Denn sehen Sie, lieber Herr Gregor,« fuhr sie ganz rot im Gesicht fort, »Großmutter möchte am liebsten, daß ich nicht einmal freies Atmen hätte! Sie mißgönnt mir alles – sie haßt mich – und doch muß ich die ganzen Tage hindurch arbeiten, damit wir nur leben können. Das ist unrecht! Lenes Mutter ist mit allem zufrieden, was ihre Tochter tut, ich aber höre nie ein freundliches Wort. Nicht einmal das Nötigste gibt sie mir!« Er strich über den schönen blonden Kopf, die tiefblauen, kindlichen Augen standen voller Tränen.

»Seien Sie deshalb nicht verzagt, kleine Seele,« versuchte er sie zu trösten, während sie durch die kalte Küche über den Flur zu Alten zurückwanderten. »Ihre Großmutter ist eine schwergeprüfte Frau, man muß nachsichtig sein.«

Ungeduldig hob sie die Schultern, dann zog ein Ausdruck von Resignation über das bildschöne Gesicht.

»Was soll ich auch machen!«

Ein Weilchen starrte sie auf die mißfarbenen, ausgetretenen Dielen, über die sie gingen, plötzlich hob sie den Kopf.

»Wird Herr Alten nun reich werden?« fragte sie.

»Reich?« wiederholte er verwundert. »Wie kommen Sie darauf, Martha?«

»Weil Geld die Hauptsache im Leben ist,« sagte sie bestimmt. »Ohne Geld ist es ein ganz armseliges, erbärmliches Dasein.«

»Und Geld wünschen Sie Viktor Alten?« fragte er mit einem Lächeln. »Wie uneigennützig Sie sind, Kleine.«

Martha sah an ihm vorbei, während die Zähne an den roten Lippen nagten.

»Warum nicht auch für ihn,« bestätigte sie endlich etwas kleinlaut. »Freilich noch lieber für mich. Ach! ich möchte reich sein, Herr Gregor!«

»So! so!« neckte er sie, durch ihren inbrünstigen Ton amüsiert. »Nun, Martha, was nicht ist, kann ja noch werden! Viktor wird zweifellos soviel Geld verdienen, daß er Ihnen einmal Ihre ganze Wohnung mit Goldstücken auspflastern kann, ich gewinne das große Los für Sie – wenn es dann nicht reicht, dann weiß ich nicht!«

»Ach!« sagte sie, »Sie behandeln mich immer noch wie ein Kind! Ich bin kein Kind mehr!«

Sie ließ seinen Arm los, trat an den Herd und stieß in die Asche, daß die Funken noch einmal aufloderten; sie war so zornig, daß ihr wieder die Tränen in die Augen traten. Jeder sah in ihr das Kind, und sie fühlte doch deutlich, daß jene Zeit längst hinter ihr lag. In ihrem Herzen wuchsen Wünsche, Hoffnungen und Träume, die nichts mehr mit der Kindheit gemein hatten. Wenn Gregor nur wüßte, wie die Leute auf der Straße ihr nachsahen, mit welchen Komplimenten man sie in den Läden fütterte, in denen sie ihren geringen Bedarf entnahm!

»Wie lange du geblieben bist!« rief Viktor dem Eintretenden entgegen. »Oder hatte dir Frau von Nordheim etwas Besonderes zu sagen?«

»Wir sprachen über Martha.«

»Über Martha?« Viktors Züge nahmen einen interessierten Ausdruck an. »Was denn, wenn es kein Geheimnis ist?«

»Verlangst du etwa, daß ich dir alles wiederhole?« fuhr Gregor auf. »Kümmere du dich um deine Ideale und laß uns andern armseligen Menschen die Sorge für die Alltäglichkeit.« –

In dieser Nacht träumte Viktor Alten zum erstenmal von Martha von Nordheim. Sie erschien in ihrer Jugendschöne bald da, bald dort, ihn neckend, haschend, bis er endlich den Weg verloren hatte und mit einem lauten Aufschrei in eine bodenlose Tiefe stürzte. –

In der kurzen Mußezeit, die er sich zwischen dem Abschluß seiner letzten Arbeit und dem Beginn einer neuen gönnte, beschäftigte sich seine Phantasie mehr als sonst mit Martha. Martha war plötzlich ein Mittelpunkt geworden, um den sich sein Denken, sein Empfinden drehte. Aber nicht jene Martha, die er in ihrer äußeren Schönheit täglich vor Augen hatte, die Enkelin seiner Zimmerwirtin, sondern das Wesen, das er in ihr zu sehen glaubte.

Viktor errötete, sobald er Martha begegnete, sein Herz schlug, wenn der Zeitpunkt kam, an dem sie ihre täglichen Obliegenheiten für ihn besorgte, er war wie im Fieber, wenn er sie nah wußte und trübselig gestimmt, hörte er ihr Lachen und Flüstern mit Lene Dallmann.

Gregor natürlich wußte schon nach vierundzwanzig Stunden, wie es um seinen jungen Freund stand. Er erschrak nicht wenig. Zwei Jahre lang hatten sie friedlich und fröhlich zusammen gelebt, keinem war es eingefallen die Dinge und ihre Beziehungen zueinander anders als mit den nüchternen Augen der Gewohnheit anzusehen, und nun plötzlich kam dieser Unglücksmensch darauf, sich wie ein Blödsinniger in Martha zu verlieben!

Gregor war trotz seiner fleckigen Röcke viel zu sehr Lebemann – wenigstens in der Theorie – um nicht selbst der erste zu sein, der seinem jungen Freunde eine rechtschaffene Jugendeselei gönnte, aber daß es gerade Martha war, verstimmte ihn. Erstens betrachtete er das Mädchen als unter ihrem gemeinsamen Schutz stehend, also zu gut zum Scherz, und an Ernst durfte doch Viktor mit seinen fünfundzwanzig Jahren und dem ersten knospenden Lorberblatt auf der Stirn nicht denken; zweitens aber dachte er an Frau von Nordheims Worte und fand es gewagt, Viktor ungewarnt neben Martha weiter leben zu lassen.

Je länger Gregor beobachtete, je unwirscher wurde er gegen Alten, und nur Marthas gänzliche Ahnungslosigkeit gab ihm eine schwache Beruhigung. Aber wie lange würde das dauern?


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