Arthur Schnitzler
Flucht in die Finsternis
Arthur Schnitzler

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IX

Die Zeitungen des nächsten Tages behandelten den Fall Rolf mit auffallender Zurückhaltung: die Angelegenheit sei zwar noch nicht völlig klargestellt, von einer Flucht könne aber gewiß nicht die Rede sein, da der Aufenthalt des Advokaten nicht nur der Familie, sondern auch den Behörden keineswegs unbekannt sei. Robert schloß daraus, daß die Absicht und Möglichkeit bestehe, die Verbindlichkeiten des Abwesenden auf außergerichtlichem Wege zu lösen. Doch fühlte er sich durch diese Vermutung durchaus nicht so angenehm berührt, als natürlich gewesen wäre.

In zwiespältiger Stimmung begab er sich ins Amt, wo ihn der Sektionschef, Baron Prantner, sehr freundlich empfing und ihn mit der Mitteilung überraschte, daß Hofrat Palm aus Gesundheitsrücksichten zu Beginn des nächsten Jahres in Pension gehen dürfte. »Sie werden, lieber Herr Sektionsrat«, fügte er hinzu, »schon in nächster Zeit dem Herrn Hofrat einen Teil seiner Agenden abzunehmen haben, und Doktor Renthal, der sich während Ihrer Abwesenheit wirklich famos eingearbeitet hat, wird Sie in Ihrem Referat vorläufig weiter vertreten.« Sollte man damit gerechnet haben, dachte Robert flüchtig, daß ich nicht wiederkomme? Dann fiel ihm ein, daß Baron Prantner, der in Trauer gekleidet war, im Laufe des Sommers seine Frau verloren hatte. Obwohl Robert ihm schon von der Reise aus sein Beileid kundgegeben hatte, hielt er es doch für angebracht, auch jetzt einige Worte der Teilnahme zu äußern. Der Baron drückte ihm die Hand und sah zu Boden. Hm, dachte Robert, sollte er sie auch umgebracht haben? Das ist vielleicht viel häufiger, als man ahnt. Es wäre interessant, diesen Dingen nachzugehen. Vielleicht ahnt er das gleiche von mir und ist darum so auffallend liebenswürdig. Gibt es am Ende eine Art Freimaurerzeichen für uns Mörder? Sonderbar, er hält noch immer meine Hand fest . . .

In diesem Augenblick trat Hofrat Palm ein. Robert erwiderte den Willkommgruß des Hofrats mit Unbefangenheit, und bald war zwischen den drei Herren ein berufliches Gespräch im Gange, im Verlauf dessen Robert Gelegenheit nahm, seine Ideen zur Umgestaltung des musikalischen Unterrichtswesens vorzubringen. Man hörte ihn mit Interesse an. Nachher stattete er einigen Amtskollegen in ihren Kanzleien Besuche ab; und manche beglückwünschten ihn zu seiner Genesung in so scherzhaftem Ton, als hätten sie seine Erkrankung nie recht ernst genommen.

Zu Mittag speiste er mit dem Ministerialsekretär Wegner, der ihn mit allerlei Amtsklatsch unterhielt, nachher spielten sie nach alter Gewohnheit eine Partie Billard, und so war es schon später Nachmittag, als Robert die Treppe zur Wohnung seines Bruders hinaufschritt. Da dieser noch ordinierte, meldete er sich bei Marianne als heimgekehrt und erzählte ihr von seiner Bergwanderung mit Doktor Leinbach, wobei er dessen Ausrüstung in humoristischer Weise übertrieb und insbesondere den Inhalt des Rucksacks durch Hinzuerfindung von Konservenbüchsen und Schnapsflaschen ins Lächerliche zu rücken wußte. Mit den Knaben trieb er allerhand Kurzweil, nahm den kleineren auf den Schoß und hatte dabei das Gefühl einer Vorbedeutung, ja eines heiter-trostreichen Zukunftsbildes. Otto kam aus seiner Ordination, bewillkommte den Bruder herzlich und forderte ihn auf, falls er nichts Besseres vorhabe, ihn nach Hietzing zu begleiten. Robert nahm an, und ein paar Minuten darauf rollte der Wagen durch die abendlichen Straßen der Gartenvorstadt zu.

Robert berichtete mit einiger Beflissenheit von den guten Aussichten, die sich für ihn im Amt eröffneten; dann sprach er von seinem Semmeringer Aufenthalt und konnte hierbei nicht wohl vermeiden, seiner Begegnung mit den Damen Rolf Erwähnung zu tun. Otto brachte ihnen keine sonderliche Sympathie entgegen. Seiner Auffassung nach waren sie nicht ganz ohne Schuld an dem schlimmen Verlauf, den die Angelegenheiten des Anwalts im Laufe der letzten Zeit genommen. Und es sei nicht zu verwundern, daß die Tochter, trotz ihrer Anmut, die nun allerdings schon einigermaßen im Verblühen sei, keinen Mann gefunden habe.

Der Wagen hielt vor einem Gartentor. Ein Diener öffnete, Otto trat ein, und Robert wandelte in der stillen Gasse zwischen fast entlaubten Gärten langsam auf und ab. So sehr er sich dagegen wehren wollte, die Bemerkungen Ottos über die Familie Rolf wirkten in ihm nach. Paula, gestern noch der Inbegriff seiner neuen Lebenshoffnungen, war ihm sonderbar entrückt; als er sich ihr Bild ins Gedächtnis zurückzurufen suchte, erschien es ihm als das einer nicht mehr ganz jungen, fanierten Person, in unordentlichem Morgenanzug, deren Züge denen der armen Klavierlehrerin glichen; und er spürte einen dumpfen Groll gegen sie in sich aufsteigen. Er verübelte ihr, daß sie sich um ihren Vater nicht genug gekümmert hatte, daß sie in einen alten Musiker verliebt gewesen war, daß sie Zigaretten rauchte, und besonders, daß sie vom Semmering abgereist war, ohne ein Wort der Aufklärung für ihn zurückzulassen. Dabei war er sich völlig klar über das Ungerechte, ja, Unsinnige all dieser Beschuldigungen, die er sehr wohl als das erkannte, was sie waren, als Vorwände für das diesmal vorzeitige Erwachen eines Hasses, der sich in früheren Fällen seinen Liebesgefühlen immer erst allmählich beigesellt hatte. Was er jetzt in sich erlebte, war nur ein Beispiel mehr für das unheimliche Auf und Nieder seiner Empfindungen, die demselben Menschen gegenüber von opferbereiter Zärtlichkeit und verzehrender Leidenschaft bis zu Abneigung, Widerwillen, Grimm, Wut und Todeswünschen zu schwanken vermochten.

Und wo ist am Ende der Unterschied, fragte er sich, zwischen einem Todeswunsch und einem Mord? Gedanken vergehen, Taten sind unwiderruflich. Ist das nicht eine Tücke der Vorsehung? Die Empfindung, durch die eine Tat möglich geworden, ist längst erloschen, ist vielleicht in ihr Gegenteil umgeschlagen; und die Tat bleibt getan. Nehmen wir an, das Gift, das ich Brigitte gab, hätte nicht gewirkt. Am nächsten Morgen wäre sie wieder aufgewacht, lebte vielleicht noch heute, und kein Mensch ahnte, was geschehen, oder vielmehr, was beabsichtigt gewesen war. Ich selbst würde es nicht ahnen, denn ich hätte es ja vergessen. Ich habe es vergessen. – Hab' ich das wirklich? Nein, ich erinnere mich ja . . .

»Habe ich dich lange warten lassen?« fragte Otto, und die Gartentür fiel hinter ihm ins Schloß.

»Oh, gar nicht«, erwiderte Robert und faßte sich rasch. »Es war sehr angenehm, in der stillen Straße auf und ab zu spazieren.«

Sie stiegen ein. Otto machte Aufzeichnungen in sein Notizbuch. »Wo soll ich den Wagen halten lassen?« fragte er nebenhin seinen Bruder. – »Ganz egal. Wenn dich dein Weg vielleicht in der Nähe meines Gasthofs vorbeiführt.« – »Das läßt sich vielleicht machen. Schade übrigens, daß du deine Wohnung aufgegeben hast. Ich hab's eigentlich nicht recht begriffen.« – »Ich mußte doch wohl.« – »Du mußtest –?« – »Ich habe ja nicht gewußt, ob es mir jemals wieder möglich sein würde, in einer großen Stadt zu leben und meinen Beruf auszuüben.« – »Wie kannst du das sagen«, meinte Otto und steckte sein Notizbuch ein. – »Du scheinst dich nicht zu erinnern«, erwiderte Robert, »wie miserabel es mir gegangen ist; auch im Beginn meiner Reise bin ich noch«, er zögerte eine kurze Weile, »von allerlei dummen Ideen geplagt gewesen.«

Otto sah seinen Bruder freundlich-spöttisch von der Seite an. »Was waren denn das für Ideen, wenn man fragen darf?« – »Nicht der Rede wert . . . sie waren so dumm, wie es eben Zwangsvorstellungen zu sein pflegen.« – »Na, willst du mir nicht was davon erzählen?« sagte Otto mild. – »Also denke dir«, begann Robert etwas unsicher, »daß ich mich zum Beispiel längere Zeit hindurch nicht entschließen konnte, das Wasser zu genießen, das mir abends ins Zimmer gestellt wurde, in der Befürchtung, daß irgendwer, sei es nun jemand vom Dienstpersonal oder ein anderer Gast, dem Wasser irgendeine schädliche oder gar tötliche Substanz beigemischt haben könnte.«

»Nun, und –?«

»Das ging so weit, daß ich in manchen Nächten, wenn es mir nicht möglich war, mir ein anderes Getränk zu verschaffen, lieber den quälendsten Durst litt, als einen Tropfen zu trinken.«

»Und –?«

»Ja, was willst du noch wissen? Diese Einbildungen, oder Wahnideen, sind natürlich wieder spurlos verschwunden, wie andere vorher.«

»Selbstverständlich. Aber ich frage dich, ob du aus deinen Befürchtungen irgendwelche logische Folgerungen gezogen hast? Ob du – einmal wenigstens – das dir verdächtige Wasser hast chemisch untersuchen lassen? Ob du deinen Verdacht gelegentlich auf bestimmte Personen gerichtet und eine Anzeige erstattet hast?«

»Das allerdings nicht. Aber darauf kommt es wohl nicht an.«

»Gewiß kommt es darauf an, mein Lieber, ob eine sogenannte Zwangsvorstellung zu weiteren Konsequenzen führt, insbesondere, ob sie sich in Zwangshandlungen umsetzt oder ob sie rechtzeitig korrigiert wird. Solange man in der Lage ist, eine seelische Störung in dem Augenblick abzustellen, wo es bedenklich wäre, ihre logischen Konsequenzen zu ziehen, so lange, du entschuldigst schon, habe ich keinen rechten Respekt vor ihr. So imponieren mir auch die Wutanfälle nicht, bei denen die Vernichtungstendenz sich auf leblose oder gar möglichst wohlfeile Gegenstände beschränkt. Es mag vielleicht etwas ketzerisch klingen, aber für mich steckt in all den Verrücktheiten – um bei dem populären Ausdruck zu bleiben –, über die der Leidende immer noch eine gewisse Macht behält und die er aus praktischen Rücksichten sozusagen auf- und niederzuschrauben imstande ist, eine Neigung zur Verspieltheit, zur Unwahrheit, zur Komödianterei, kurz, ein unanständiges Bestreben, vom wirklichen Ernst des Lebens abzurücken und unbequeme Verantwortlichkeiten abzulehnen. Ein solches Bestreben hat ja natürlich, wenn du willst, auch etwas Krankhaftes, aber mit Wahnsinn hat es gewiß nicht das geringste zu tun.«

Robert schwieg eine Weile betreten, denn irgendwie berührte sich das, was Otto aussprach, mit den Gedanken, die ihm selbst neulich gekommen waren. Dann fragte er: »Und bist du auch sicher, die Grenze immer bestimmen zu können?«

»Gewiß bin ich das, sonst hätte ich meinen Beruf längst aufgegeben.«

Also er erinnert sich, dachte Robert, er will mich in Sicherheit wiegen, indem er mir zu verstehen gibt, daß ich nicht wahnsinnig bin und daher nichts von ihm zu befürchten habe. Aber woher weiß er, daß ich nicht wahnsinnig bin? Ich habe ihn ja schon wieder angelogen. Von meinen neuesten Wahnideen habe ich ihm nichts gesagt. Aber er ahnt sie vielleicht. Ich darf nicht so lange stumm bleiben. Er sieht zwar durch das Wagenfenster auf die Straße hinaus, aber mein Schweigen fällt ihm auf. Er fühlt, daß ich ihm etwas verberge. So geht es nicht weiter. Ich muß ihm die Wahrheit sagen. Wenn nicht heute, so morgen. Es muß Klarheit werden zwischen mir und ihm.

»Im übrigen«, meinte Otto, indem er sich plötzlich wieder zu seinem Bruder wandte, »wir sind da etwas weit abgekommen. Hast du mir nicht noch irgendein Leid zu klagen?«

»Wozu?« erwiderte Robert gleichfalls leichteren Tons, »da du mich ja doch für einen elenden Komödianten hältst, weil ich nicht sämtliche Hotelstubenmädchen der Schweiz wegen versuchten Giftmordes habe verhaften lassen.«

Otto ging auf den Scherz nicht ein. »Weißt du, was ich glaube«, sagte er in dem ernsthaften, etwas strengen Ton, der ihm manchmal eigen war, »daß dir nach der langen Faulenzerei die regelmäßige Arbeit sehr heilsam sein wird. Und was dein zuckendes Augenlid anbelangt, so brauchst du dir nicht die geringsten Sorgen zu machen.«

Erschrocken wandte Robert sich ihm zu. »Du hast es bemerkt?«

Otto seufzte auf. »Was magst du dir alles schon wieder eingebildet haben . . .«

»Du sagst, daß mein Augenlid zuckt. Das – das wußt' ich eigentlich gar nicht. Ich hatte den Eindruck einer – einer beginnenden Lähmung.«

»Keine Spur davon. Einbildung. Und durch deine wiederholten Versuche, die Bewegungsfähigkeit deines Lids zu prüfen, hast du dir jetzt dieses Zucken angewöhnt. Denk nicht mehr dran, so wird es von selber aufhören.«

Der Wagen hielt vor dem Hotel. »Ah, wir sind schon da«, sagte Robert. »Willst du dir nicht einmal mein Zimmer ansehen, Otto? Es ist sehr hübsch.«

»Nächstens einmal gern, heut hab' ich leider keine Zeit mehr. Morgen sieht man dich ja hoffentlich wieder. Und – ich bitte dich –, werd einmal vernünftig! Zeit wär's ja.« Und er schüttelte Robert zum Abschied herzlich die Hand.

Robert war zumute, als wäre ihm eine schwere Last von der Seele genommen worden. Ottos Worte hatten ihn für den Augenblick nicht nur von der leisen, ohnedies fast schon geschwundenen Besorgnis bezüglich seines Augenlids völlig, sondern auch von allen anderen Angstgebilden wie durch Zauberkraft befreit.


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