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Am nächsten Morgen kündigte Doktor Leinbach durch eine vergnügte Karte seinen Besuch für denselben Tag an. Robert, der mit ruhigen Sinnen erwacht war, entschloß sich, ihm entgegenzugehen. Auf der breiten Waldstraße, im kühlen Herbstschatten der Tannen, durch die ein mattblauer Himmel schimmerte, begegneten sich die Freunde. Leinbach war touristisch ausgerüstet, mit Nagelschuhen, Kniehosen, Bergstock und Rucksack. »Was hast du Großes vor?« fragte Robert. – »Nichts weiter«, erwiderte Leinbach, »als mich in die Landschaft zu fügen und für alle Möglichkeiten gerüstet zu sein.« – »Jedenfalls«, sagte Robert, »müßtest du auf meine Gesellschaft verzichten, falls du etwa gesonnen wärst, eine Bergbesteigung zu unternehmen.«– »Ich denke nicht daran, um so weniger, als ich schon um fünf Uhr zwanzig hineinfahren muß.« – »Also wozu der Rucksack?« – »Für den Fall, daß man Lust hätte, im Freien zu essen.« – »Was hast du denn alles mit?« – »Schinken, Käse, Brot, eine Flasche Wein, einen Band Goethe und etwas Verbandzeug.« – »Das auch?« – »War noch von meiner letzten Tour her drin. Ich wollte es schon herausnehmen, aber so etwas hieße das Schicksal versuchen.« Er hing sich in Roberts Arm. »Also erzähle, was hast du die paar Tage heroben gemacht? Schönes Wetter gehabt, nicht wahr?«
Robert berichtete, daß er beinahe die ganzen Tage im Freien herumgelaufen sei, und ließ die Damen Rolf unerwähnt. Er habe sich im ganzen recht wohl gefühlt, nur ausnehmend viel geträumt, die ganzen Nächte durch, tolles Zeug wahrhaftig! Leinbach zuckte die Achseln. Was und wieviel Robert auch geträumt haben mochte, was war das gegen seine eigenen Träume? Er erlebte Jahre, Jahrzehnte im Schlaf. Einmal, noch als Gymnasiast, hatte er in einer Morgenstunde vor dem Erwachen den ganzen Dreißigjährigen Krieg durchgemacht. »Aber doch nicht sehr ausführlich?« erkundigte sich Robert lächelnd, – »sondern nur den kleinen Plötz, nehm' ich an?« – »Immerhin«, erwiderte Leinbach ernsthaft, »von sechzehnhundertachtzehn bis sechzehnhundertachtundvierzig.«
Sie schritten einen Waldpfad bergan. »In früheren Jahren«, sagte Leinbach, »pflegte meine Frau mich auf solchen Sonntagsausflügen zu begleiten. Jetzt, nach dem vierten Kind, hat sie es aufgegeben, läßt mich meine Touren allein machen und widmet sich der Häuslichkeit, – oder was sie sonst treiben mag.« Robert blieb stumm. Er fand die Bemerkung seines Freundes ebenso geschmacklos wie lächerlich, da er Frau Leinbach als ein höchst hausbackenes, braves und völlig anmutloses Wesen kannte; – wie sich Leinbach denn überhaupt gehütet hätte, ein Wesen anderer Art zur Ehe zu nehmen, da ihm seelische Unbequemlichkeiten noch weit verhaßter waren als körperliche.
Als sie dann, immer höher schreitend, unter einer wahrhaft sommerlichen Mittagssonne eine Bergwiese durchquerten, gab dies Leinbach Anlaß zu einem Vergleich mit den trügerischen Sommerstunden menschlicher Herbsttage, von denen kluge Leute sich nicht dürften betrügen lassen. » Warum trügerisch? » meinte Robert ablehnend, »wenn es wirklich warm ist in solchen Stunden . . .?! Heute könnte man sich zum Beispiel ohne die geringste Gefahr hier ins Gras legen; wie denkst du drüber?« Leinbach war einverstanden. Sie breiteten die Mäntel aus, streckten sich auf sie hin und blickten talwärts, sich der gleichen Aussicht erfreuend, die Robert tags vorher von weiter unten mit Paula genossen hatte. Ein starkes Wohlgefühl durchdrang ihn. Ich bin gesund und noch jung, sagte er sich. Was ist es nur, was mich manchmal mit so unheimlicher Gewalt überkommt? Wer weiß übrigens, ob nicht die meisten Menschen von ähnlichen Gespenstern heimgesucht werden? Andererseits gibt es vielleicht Leute, die tatsächlich irgendeinmal ein Verbrechen begangen und es völlig vergessen haben. Stand nicht neulich irgendwo zu lesen, daß in England allein jährlich gegen tausend Menschen spurlos verschwinden? Und es wäre immerhin möglich, daß unter diesen tausend manch einer umgebracht worden ist – von irgendwem, der sich später nicht mehr dessen erinnert, geradeso wie ich . . .
Oho, rief er sich selbst an und schnellte auf. Er war mit geschlossenen Augen dagelegen, und nun zitterte und schwankte die Landschaft überhell um ihn. Leinbach sah ihn mit einem sonderbar zwinkernden Blick von der Seite an. Hm, warum war der eigentlich gekommen? Sollte er nicht etwa aus ganz bestimmten Gründen heraufgeschickt worden sein? Von Otto vielleicht? Unsinn. Der hielt ihn ja im Grunde für einen Dummkopf. Und nicht ganz mit Unrecht. Für einen geistreichen Dummkopf, wie er sich neulich einmal ausgedrückt hatte. Immerhin blieb es auffallend, daß Leinbach den Blick so rasch wieder abgewandt hatte und nun scheinbar gleichgültig zum Himmel aufstarrte. Robert begann zu pfeifen, er wußte selbst nicht recht warum. War es, um Leinbach zu prüfen, um ihn zu ärgern oder um ihn hinters Licht zu führen? Plötzlich erhob er sich und schlug vor, sich auf den Rückweg zu machen. Leinbach nickte und rüstete sich etwas umständlich zum Abstieg. Da Robert ein paar Schritte vorausgeeilt war, bemerkte Leinbach trocken: »Deine Lähmung scheint ja zurückgegangen zu sein.« – Robert wandte sich hastig nach ihm um. Doch die Miene des Freundes zeigte nur den gewöhnlichen Ausdruck eines matt überlegenen Spottes. »Ich habe mir nie eine Lähmung eingebildet«, sagte Robert. »Ein Hypochonder mag ich ja sein, aber ein Idiot bin ich nicht. Übrigens habe ich mich noch nie so jung und so frisch gefühlt wie jetzt.« – »Ja«, seufzte Leinbach, »wer auch sechs Monate Urlaub nehmen könnte! Wenn unsereiner so lange seine Freiheit haben wollte, müßte er gradezu durchbrennen. Im übrigen«, setzte er anscheinend unvermittelt hinzu, »was sagst du zu der Affäre Rolf?«
»Affäre Rolf?« Robert stand das Herz still. Was hatte das zu bedeuten: Affäre Rolf? Hatte das einen Bezug auf ihn? War er in irgendeine Sache verwickelt, ohne es zu ahnen? Paula? Sie sind gestern beide abgereist. Mutter und Tochter. Es war vollkommen ausgeschlossen, daß er Paula umgebracht hatte. Fassung, Ruhe! Was war das wieder?! Er hatte doch nie jemanden umgebracht. Das stand ja fest, er wußte es – nie. »Was ist das für eine Affäre?« fragte er ruhig.
»Ach, du hast wohl heute noch keine Zeitung gelesen? Doktor Rolf ist durchgegangen. Unterschlagene Depots, Mündelgelder und dergleichen – man hat schon lang was gemunkelt.«
»So, durchgegangen? Ich habe noch nichts gelesen. Übrigens kenn' ich ihn nur ganz flüchtig. Aber seine Familie habe ich erst gestern gesprochen. Sie waren hier heroben, Frau und Tochter. Gestern abend sind sie abgereist.«
»So – die waren hier? In der Zeitung stand allerdings, sie seien von Wien abwesend . . . ja . . . Offenbar hat er die Familie heraufgeschickt, um indes in Ruhe seine Vorbereitungen treffen zu können. Er soll schon seit sechsunddreißig Stunden verschwunden sein. Schade um ihn. Er war ein sehr begabter Mensch.«
Robert konnte sich der Empfindung nicht erwehren, daß er eigentlich eine angenehme Neuigkeit erfahren hatte. Durch das Unglück, das die Familie betroffen, war er Paula nähergerückt, war in gewissem Sinne in ein geheim-verwandtschaftliches Verhältnis zu ihr geraten. Er sprach mit Leinbach über die Angelegenheit nicht weiter; doch statt erst am nächsten Morgen, wie seine Absicht gewesen, reiste er noch am selben Nachmittag mit ihm heim, zu Leinbachs großer Befriedigung, der zwar stets behauptete, für Einsamkeit zu schwärmen, aber sich ohne Gesellschaft sehr unglücklich zu fühlen pflegte.
Bei der Art seiner Beziehungen zu der Familie Rolf konnte Robert, so sehr es ihn dazu drängte, doch nicht daran denken, persönlich Erkundigungen im Hause einzuziehen. Doch verließ er noch in später Stunde seinen Gasthof, um, von unbezwinglicher Sehnsucht getrieben, an den zu seiner Verwunderung zum Teil hellerleuchteten Fenstern der Rolfschen Wohnung vorüberzuwandeln. Allmählich erst besann er sich, daß auch das außerordentliche Schicksal sich nicht sofort in einer entschiedenen Veränderung äußerer Lebensformen auszudrücken pflegt und daß Paula – selbst wenn sie in diesem Augenblick im eigentlichsten Sinn viel ärmer sein mochte als jene Klavierlehrerin, die sich nach einem dürftigen Liebesabenteuer die Reste des Abendessens mit nach Hause genommen – gewiß noch längere Zeit hindurch ein behagliches Heim bewohnen, schöne Kleider tragen und keineswegs Hunger leiden würde. Er sah Schatten sich hin und her bewegen, beobachtete dann, daß Lichter verlöschten und in einem benachbarten Raum aufflammten; später fuhr ein Wagen vor, ein vornehm aussehender Herr stieg aus, der dann im Haustor verschwand. Robert begann sein Hin- und Herwandern vor dem Hause, in das er ja doch nicht eintreten wollte, als zwecklos und lächerlich zu empfinden und machte sich auf den Heimweg.