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Am nächsten, einem klaren Spätherbstmorgen, fuhr er auf den Semmering. Erst als er dort sein Zimmer bezogen hatte, von dem er über die Tannenwipfel die Aussicht zu dem mit neuem, klirrblankem Schnee bedeckten Felsenkamm der Rax hatte, verständigte er durch heitere Karten seinen Bruder, den Doktor Leinbach und, ohne recht zu wissen warum, auch den Doktor Kahnberg, daß er sich von der langen Ruhe der letzten Monate ein paar Tage hier zu erholen gesonnen sei. Stundenlang, immer allein, von herber Bergluft angeweht, wanderte er durch kühle Wälder, über besonnte Wiesen hin, mit Bewußtsein nur dem Genuß der Luft und des Lichtes hingegeben, und wehrte alles Grübeln so weit von sich ab, daß ihm auch die fortdauernde unerhebliche Schwäche seines linken Augenlids keinerlei Sorge mehr zu bereiten vermochte. Am zweiten Tag seines Aufenthalts erbat er von seinem Amtsvorstand, Sektionschef Baron Prantner, eine kurze Verlängerung seines Urlaubs, und die zustimmende, in liebenswürdigem Ton gehaltene Antwort trug weiter dazu bei, Roberts gute Laune zu erhöhen.
Es war in der dritten Nacht, als ein starker Wind über die Berge ging und Robert, der keinen Schlaf fand, sich im Dunkel neuerdings die Einzelheiten seines Abschieds von Alberta ins Gedächtnis zurückzurufen suchte. Seine Unfähigkeit, sich über den Zusammenhang der Ereignisse klar zu werden, quälte ihn immer mehr. Er erinnerte sich gewisser Auftritte aus der früheren Zeit seines Verhältnisses mit Alberta, in denen eifersüchtiger Zorn ihm beinahe die Sinne umnebelt und er sich nur mit Aufbietung aller Kräfte vor einem tätlichen Angriff zurückgehalten hatte. Da nun diesmal das, was seinem furchtbar aufsteigenden Groll tatsächlich gefolgt sein mochte, völlig aus seiner Erinnerung geschwunden war, so gab es durchaus keinen Beweis, daß er das, wozu Absicht und Wunsch ihn mehr als einmal gedrängt, nicht endlich wirklich getan und die Geliebte ermordet hatte. Daß im Hotel dem Verschwinden Albertens keine Bedeutung beigelegt worden war, ließ sich ohne Schwierigkeit erklären. Er selbst hatte vielleicht erzählt, daß sie vor ihm abgereist war, den Ort angegeben, wohin man ihr das Gepäck nachschicken sollte, und mit der Raffiniertheit eines geborenen Verbrechers noch anderes dazu getan, um die Spuren seiner Tat bis zur Unmöglichkeit der Entdeckung zu verwischen. All dies war denkbar, ja, mehr als das, wahrscheinlich. Denn wie anders war die unfaßbare Lücke seines Gedächtnisses zu begreifen, die sich von jener abendlichen Scheidestunde bis zu seiner Abreise am nächsten Morgen erstreckte, als aus dem unbewußten und bisher wohlgeglückten Bemühen, das Ungeheure zu vergessen, dessen Erinnerung zu ertragen er nicht stark genug gewesen wäre.
Und plötzlich, mit stillstehendem Herzen, richtete er sich im Bett auf. Drängte sich ihm die Vermutung immer gebieterischer auf, daß Alberta von seiner Hand den Tod gefunden, so war sie vielleicht nicht die einzige gewesen, die dieses Schicksal erlitten hatte. Vor mehr als zehn Jahren war seine junge Frau völlig unerwartet dahingeschieden. Eines Morgens war er in ihr Schlafzimmer getreten, um vor dem Gang ins Amt ihr den gewohnten Kuß auf die Stirn zu drücken; da hatte er sie tot im Bett gefunden; und er erinnerte sich heute mit Grauen, daß er damals, im ersten Augenblick wenigstens, keine sonderliche Erschütterung, ja kaum ein heftiges Erstaunen verspürt hatte. Der Arzt hatte den Tod der jungen Frau wohl als ein an sich seltenes Vorkommnis, aber doch mit Rücksicht auf ihre für so junge Jahre nicht unerhebliche Üppigkeit und auf gewisse, von Zeit zu Zeit auftretende Herzbeschwerden keineswegs als rätselhaft hingenommen; und da im übrigen nicht der geringste Verdacht auf Selbstmord oder gar auf ein Verbrechen vorlag, so war der Leichnam ohne weitere Untersuchung ins Grab gesenkt worden.
Die Ehe hatte innerhalb ihrer ganzen dreijährigen Dauer durchaus als glücklich gegolten, und Robert hatte das liebevolle, sanfte, etwas bequeme Geschöpf stets, nicht nur vor den Leuten, sondern auch daheim, wenn nicht mit Zärtlichkeit, doch mit ritterlicher Galanterie behandelt. Nur er selbst wußte, wie schwer er von allem Anbeginn grade unter der Sanftmut und Gutherzigkeit seiner Frau gelitten hatte; wie ihre zuweilen törichten Bemerkungen, wie ihr Schweigen, wie ihre Art, mit gerundeten Lippen seine Küsse hinzunehmen und zu erwarten, wie schon die einfache Tatsache ihres Vorhandenseins ihn oft mit einer hilflosen, mühselig verhehlten, bösen Ungeduld erfüllt hatte. Doch das Schlimmste für ihn war ihr Klavierspiel gewesen. Ohne zureichende Begabung, aber mit der ihr eigenen Beharrlichkeit hatte sie die Gewohnheit ihrer Mädchenjahre beibehalten, täglich eine Stunde lang zu üben; und ihre Art, Mozartsche und Beethovensche Sonaten mit kindischen, dicken Fingern herunterzuspielen, hatte den Gatten, während er nach dem Abendessen rauchend und lesend im Nebenzimmer saß, manchmal in einen Zustand wahrer Verzweiflung versetzt. Wie oft, wenn aufflammende Begier nach anderen Frauen ihn zu neuen Abenteuern lockte, hatte er sich gegen den stillen Zwang, den Brigittens rührende Anhänglichkeit auf ihn ausübte, vergeblich aufgelehnt; mit welcher Inbrunst hatte er sich nach seinem pflichtenlosen Junggesellenleben zurückgesehnt, dessen holde Freiheit er einer zwar milden, aber unentrinnbaren Sklaverei aufgeopfert hatte. Und wenn diese Sehnsucht, diese Ungeduld so übermächtig in ihm angewachsen war, wie er sie heute, jetzt, in untrüglicher Erinnerung neu zu empfinden vermeinte, wo war der Beweis, daß Ungeduld und Sehnsucht nicht in irgendeinem Augenblick Wille, daß der Wille nicht endlich Tat geworden war? Wo der Beweis, daß Brigitte wirklich einem Herzschlag erlegen, daß sie nicht vielmehr an einem tückisch ihr eingegebenen Gift verschieden war? Wie er sich ein solches Gift verschafft, wie er es ihr beigebracht, ob er es ihr abends in einen Trank gemischt, ob er sie gezwungen hatte, es einzuschlürfen – von all dem konnte er sich freilich heute keine Rechenschaft mehr geben; aber da es sich nun einmal herausgestellt hatte, daß sein Dasein eine ganze Anzahl solcher völlig ins Dunkel der Vergessenheit gerückter Stunden in sich faßte, warum sollte er den Mord an Brigitten nicht ebenso verübt haben wie den an Alberta? – Den an Alberta –? Was hatte denn Alberta damit zu tun?
Er streckte die Hand nach der Lampe neben seinem Bett aus und schaltete ein. Ebenso rasch, wie sie ihn in der Finsternis überfallen, zerflatterten im hellgewordenen Raum die Schreckgedanken in nichts. Er atmete auf. Was für eine Tollheit, dachte er, mir einzubilden, daß ich Brigitte vergiftet habe. Das gute, sanfte, heute noch geliebte Geschöpf. Erzählte ich, dachte er weiter, meinem Freunde Leinbach von den Gespenstern dieser Nacht, was fände er mir zu erwidern? Vor allem wohl, daß er für seinen Teil von den meisten verstorbenen Menschen seiner Bekanntschaft sich zuweilen einbilde, sie umgebracht zu haben, – ferner, daß es am Ende keinen besonderen Unterschied bedeute, philosophisch betrachtet, ob man jemanden wirklich töte oder ihm nur den Tod wünsche; – endlich, daß wir eigentlich alle mehr oder weniger Mordgesellen seien; und daß er von seinem Standpunkt es mir auch gar nicht übelnähme, wenn ich sowohl Alberta als auch Brigitte wirklich umgebracht hätte. Kenne ich dich, Freund Leinbach? Aber du sollst keine Gelegenheit haben, deinen Witz an mir zu probieren. Es ist immerhin sicherer, von solchen Einbildungen auch seinen nächsten Freunden nichts zu verraten. Ich werde auch Otto nichts davon sagen. Nein, nein, so leicht soll es euch nicht gemacht werden.
Während die Lampe weiter brannte, kam allmählich der Schlaf über ihn. –