Arthur Schnitzler
Flucht in die Finsternis
Arthur Schnitzler

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IV

Bald darauf trat er aus dem Tor des Gasthofs, behagte sich in der Vorstellung, als Fremder in den Straßen einer unbekannten Stadt umherzuspazieren, und nahm mit Absicht sein Mittagessen in einem Gasthaus, in das er früher niemals eingetreten war. Dann begab er sich auf die Suche nach einer Wohnung, lief stundenlang in verschiedenen Häusern treppauf, treppab, besichtigte Dutzende von leeren und von bewohnten Räumen, störte irgendwo eine junge Dame beim Klavierspiel, unterbrach anderswo einen Lehrer beim Unterricht zweier Knaben, unterhandelte mit zuvorkommenden, gleichgültigen und mürrischen Vermietern und Hausbesorgern und konnte sich bei all dem niemals vorstellen, daß sein ganzes Unternehmen ernst gemeint sei und zu einem bestimmten Ziel führen sollte. Einmal geriet er in eine Straße, wo Erinnerungen einer längstvergangenen Zeit ihn umschwebten; hinter jenem Eckfenster im zweiten Stock hatte er vor vielen Jahren glückliche oder doch zum mindesten angenehme Stunden verlebt; und nicht eben schmerzlich, sondern eher wie einer kleinen Unannehmlichkeit wurde er sich des Umstandes bewußt, daß er heute so einsam in der Welt stand wie kaum je zu vor. Flüchtig zog ihm wieder Alberta durch den Sinn; gleich darauf aber, farbig und scharf umrissen, tauchte sehr lebendig das Bild des Fräulein Rolf vor ihm auf, der er sich durch den Abschiedsblick von gestern näher verbunden fühlte. Er versuchte sich ihren Vornamen ins Gedächtnis zu rufen, was ihm vorerst nicht gelang. Übrigens wußte er wenig von ihr und ihrer Familie; es war ihm kaum mehr bekannt, als daß Mutter und Tochter sowohl daheim als auf Reisen meist ohne den Vater zu sehen waren, der, ein gesuchter, fast berühmter Advokat, wegen seiner unglücklichen Neigung zum Börsenspiel doch eines zwiespältigen Rufes genoß. Hiermit mochte es auch zusammenhängen, daß die einzige Tochter, die gewiß schon in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stand, bisher unvermählt geblieben war; und dunkel glaubte sich Robert eines Gerüchtes zu erinnern, das sie mit einem berühmten, seither verstorbenen Musiker verlobt gesagt hatte. Während er so über sie nachdachte, wurde ihm ihre Gestalt immer rührender und erschien ihm wie von Geheimnissen umflossen.

Am Abend besuchte Robert ein Vorstadttheater. In behaglicher, etwas müder und traumhafter Stimmung folgte er dem heiteren, musikalischen Spiel und war kindlich erfreut, als ihm der erste Komiker mitten in einem Couplet von der Bühne herab vertraulich zunickte. Nach dem Theater nahm er den Weg in ein Kaffeehaus der inneren Stadt, wo sich seit Jahren allabendlich ein kleiner Kreis von Bekannten zu versammeln pflegte, mit denen Robert von der Reise aus, wenigstens anfangs, auf Ansichtskarten flüchtige Grüße getauscht hatte. Als er eintrat, sah er in der gewohnten Ecke Herrn August Langer sitzen, Vetter seiner verstorbenen Frau, einen liebenswürdigen, älteren Herrn, höheren Bankbeamten, der durch Tracht und Haltung seine vielbemerkte Ähnlichkeit mit einem in Sportkreisen sehr populären Aristokraten zu unterstreichen suchte. Schon von weitem, aber ohne sich zu erheben und ohne die Zeitung aus der Hand zu legen, winkte Langer dem Eintretenden zu, drückte ihm dann freundlich die Hand und stellte sofort mit Befriedigung dessen vorzügliches Aussehen fest. Rudolf Kunrich trat heran, ein kleiner Hofschauspieler, und stimmte Herrn Langer zu. Beide, sowohl Kunrich als auch Langer, erschienen Robert in den sechs Monaten seines Fernseins um viele Jahre gealtert. Der Eintritt Leinbachs, der als Familienvater und vielbeschäftigter Arzt hier nur ein seltener Gast war, bedeutete für Robert eine angenehme Überraschung. Leinbach, den Freund erblickend, nahm ihn sofort für sich allein in Anspruch, stellte die üblichen Fragen, wie man sie an einen von langer Reise Heimgekehrten zu richten pflegt, und fragte ihn endlich, ob er schon wieder ins Amt gehe.

Robert äußerte Zweifel, ob er einer Wiederaufnahme seiner Berufstätigkeit schon gewachsen sei.

Doktor Leinbach lächelte nur.

Robert beharrte: »Du vergißt, wie sehr ich mit meinen Nerven herunter war im Frühling, bevor ihr mich auf Reisen geschickt habt.«

Leinbach zuckte die Achseln: »Mein lieber Freund, wenn einer in der glücklichen Lage ist, sich wegschicken zu lassen – so schicken wir ihn natürlich weg. Andererseits gibt es viele Leute, denen es einfach nur an Zeit mangelt, verrückt zu werden.«

»Verrückt«, wiederholte Robert bei sich, warum sagt er gleich »verrückt«? Wenn ich nun die Geschichte mit meinem Augenlid vorbrächte? Es wäre vielleicht der richtige Moment. Und vorsichtig begann er: »Ich hatte übrigens die Absicht, dich morgen in deiner Ordinationsstunde heimzusuchen.«

»Ordinationsstunde – ?! Da gehören zwei dazu, mein Lieber. Da müßte ich dich vor allem als Patienten ansehen.«

»Mir fällt nämlich seit einiger Zeit auf«, sagte Robert unbeirrt, »daß – mein linker Arm beträchtlich schwächer ist als mein rechter.« Der Einfall war ihm im gleichen Augenblick gekommen. »Ja, lach nur, es ist doch so.« Er hob langsam seinen linken Arm und ließ ungeschickt die Finger spielen.

»Na«, meinte Leinbach übertrieben heiter, »pack doch einmal mein Handgelenk mit deinem gelähmten linken Arm!«

Robert tat so, und Leinbach ließ ein scherzhaftes »Au« hören. »Und doch«, sagte Robert, »versichere ich dir: heute früh war mir, als könnte ich den Arm überhaupt nicht rühren; ja, die ganze linke Seite war irgendwie in dieses eigentümliche Gefühl miteinbezogen. Ich verspürte auch eine sonderbare Müdigkeit der linken Gesichtshälfte, und« – er wagte sich immer weiter vor – »das linke Auge konnte ich kaum öffnen.« Zugleich, da er den Blick Leinbachs doch mit einer gewissen ärztlichen Schärfe auf sich gerichtet sah, riß er beide Augen weit auf, um sich ja nicht zu verraten.

»Unsinn«, sagte Leinbach, »eine Seite ist bekanntlich immer schwächer als die andere. Die sogenannte Symmetrie der beiden Körperhälften ist überhaupt eine Fabel, das weißt du doch. Übrigens – wo bist du nur zuletzt gewesen? Am Meer, im Süden, nicht wahr? – Das war vielleicht nicht ganz das Richtige, besonders als Abschluß. Ich an deiner Stelle würde doch, bevor ich mein Amt antrete, ein paar Tage Gebirgsluft schnappen.«

»Du glaubst –?«

»Nicht etwa, daß ich es für notwendig hielte – keine Spur. Aber wenn man's tun kann . . .« Er seufzte. »Von mir aus magst du natürlich ruhig in Wien bleiben.«

Der Dichter Kahnberg trat an den Tisch, begrüßte Robert zu dessen Verwunderung wie einen sehnlichst erwarteten Freund, zog ihn mit sich an einen Nebentisch, erzählte ihm die Fortsetzung einer Herzensgeschichte, von deren Beginn Robert seiner Erinnerung nach niemals das geringste erfahren hatte, und erkundigte sich, ob ein Buch, das er an ihn vor etlichen Monaten abgesandt, richtig angelangt sei. Robert besann sich, daß ihn das Werk, ein Drama in Versen, mit einer sehr warmen Widmung von der Hand des Dichters, erreicht und daß er es auch gelesen hatte. Doch vermochte er sich des Inhalts durchaus nicht zu erinnern. Er war eben in Verlegenheit, wie er sich verspätet bedanken und was er über das Buch sagen sollte, als die Herren insgesamt aufbrachen, um den Abend in einer Bar zu beenden. Robert schloß sich gerne an, und bald saßen sie alle in einem niederen, menschenerfüllten, überhellen Raum an kleinen Tischen und lauschten dem Klavierspieler, der Opernarien, Tänze, Lieder, aufs feinste harmonisiert, mit zwanglosen Übergängen unermüdlich vortrug.

Robert besonders hörte mit einer Art von fachmännischem Vergnügen zu, da sein eigenes Talent demjenigen dieses Nachtpianisten, der tagsüber als Sparkassenbeamter sein Brot verdiente, einigermaßen verwandt war. Doktor Leinbach versuchte sein persönliches Verhältnis zur Musik philosophisch klarzulegen. Er sprach dieser Kunst einen sozusagen amoralischen Charakter zu, indem er für seinen Teil unter dem Einfluß schöner Klänge sich stets geneigt fühle, sich von sämtlichen Fehlern und Sünden, begangenen und zukünftigen, ein für allemal zu absolvieren. Robert erinnerte sich, daß er dieses Lokal zuletzt in Albertens Gesellschaft besucht hatte; und er fragte sich, wo sich die einstige Geliebte jetzt wohl befinden möge. Ob der junge Amerikaner, mit dem sie abgereist war, sie wirklich geheiratet hatte? Er zweifelte daran. Der Mann konnte doch ebensogut ein Hochstapler gewesen sein und sie drüben oder schon hier in Europa im Stich gelassen haben. Wie gewissenlos war er doch gewesen, sie – nicht etwa aus Edelsinn, sondern aus verletzter Eitelkeit – aufzugeben und einem wildfremden Menschen zu überlassen oder geradezu auszuliefern.

Immer mehr Leute drängten in den kleinen Raum und zwängten sich zwischen Tischen und Stühlen durch. Eine sehr große, unnatürlich magere junge Dame in Begleitung von zwei Herren blieb eine Weile, mit den Blicken im Saal umherschweifend, nah von Robert stehen, und ihr Arm streifte den seinen. Da sie keinen Platz fand, wandte sie sich mit ihren Begleitern wieder zum Gehen, doch an der Tür sah sie sich lächelnd nach Robert um.

Ein frisch gefülltes Glas Champagner stand vor ihm. Er trank es in einem Zug aus – mit Lust, fast mit Begier. Der Klavierspieler phantasierte über Themen aus Wagnerschen Opern in parodistischem Walzertempo. Irgend etwas längst Vergangenes zog durch Roberts Sinne. Vor vielen Jahren, zu Beginn seiner Ehe, war er einmal während einer Tristan-Aufführung mit seiner jungen Gattin in der verdunkelten Loge sehr zärtlich gewesen. Es war ihm nun in der Erinnerung, als hätte er sie damals unendlich geliebt, und er dachte, daß vielleicht manches in seinem Leben anders gekommen wäre, wenn sie nicht so jung hätte sterben müssen. Trotz dieses wehmütigen Einfalls fühlte er sich ganz behaglich und merkte, daß er mit der Hand sanft zum Klavierspiel den Takt schlug. Er lächelte oder wollte vielmehr lächeln, denn plötzlich fühlte er seine Lippen zucken, Tränen stiegen ihm in die Augen, und er konnte sich eben noch mit Mühe zurückhalten, laut aufzuschluchzen. Er biß die Zähne zusammen, sah rings um sich, ob irgend jemand seine Schwäche bemerkt hätte, und lachte nun auf, aber so laut und schrill, daß etliche Blicke sich nach ihm wandten. Leinbach schaute ihn scharf an. »Was hast du?« fragte er. Robert schüttelte den Kopf. »Mir ist was Komisches eingefallen«, sagte er. – »Darf man wissen?« fragte Leinbach anscheinend nur aus Neugier. – »Nichts für euch, nichts für euch«, erwiderte Robert, blickte dann verstohlen umher, stellte für sich fest, daß er keine weitere Aufmerksamkeit erregte und daß nur aus einer Ecke zwei Augen, die einem jungen Mädchen angehörten, höhnisch oder vielleicht bedauernd auf ihn starrten. Er gab den Blick so hart zurück, daß das junge Mädchen wegsah und mit Beflissenheit durch den Strohhalm ihr Eisgetränk weiterschlürfte. Robert aber sagte sich, daß er nicht länger bleiben dürfe, und rief nach dem Kellner. Ich werde nicht so dumm sein und ihm zehn Gulden Trinkgeld geben, dachte er. Indes war die ganze Rechnung schon von August Langer beglichen worden. Robert bedankte sich mit humoristischer Übertriebenheit und empfahl sich. In den Teller auf dem Deckel des Pianinos legte er zu den dort schon gesammelten kleineren Münzen ein goldenes Zehnkronenstück, ärgerte sich zugleich, wagte aber nicht, es wieder zurückzunehmen. Der Pianist nickte zum Dank, und immerfort weiterspielend sagte er: »Herr Sektionsrat sind verreist gewesen? Nun wird man aber hoffentlich wieder öfter das Vergnügen haben.« Wie nett doch die Leute mit mir sind, dachte Robert. Alle: Kahnberg, Langer, der Klavierspieler; – sogar der Komiker im Theater hat mir von der Bühne her zugenickt. Nur Leinbach ist und bleibt ein unleidlicher Narr. – Er haßte ihn in diesem Augenblick.

Die Straßen waren beinah menschenleer. Von einer Turmuhr schlug es zwei. Ein Glück, dachte er, daß man noch keine Amtsstunden einzuhalten hat und sich morgen wird ausschlafen können. Er ging rasch und sicher, trällerte vor sich hin, endlich begann er sogar zu singen mit einer schönen dunklen Stimme, die ihm selber fremd vorkam. Vielleicht ist es gar nicht meine Stimme, dachte er, vielleicht bin ich es überhaupt gar nicht selber? Vielleicht träume ich? Vielleicht ist es mein letzter Traum, den ich träume, der Traum auf dem Sterbebett?

Er erinnerte sich eines Einfalls, den Leinbach vor Jahren in größerer Gesellschaft ganz ernsthaft, ja, mit einer gewissen Wichtigkeit vorgebracht hatte. Er hatte damals einen Beweis gefunden, daß es eigentlich keinen Tod auf der Welt gebe. Es sei ja zweifellos, erklärte er, daß nicht nur für Ertrinkende, sondern daß für alle Sterbenden im letzten Augenblick das ganze Leben mit einer ungeheuren, für uns andere gar nicht zu erfassenden Geschwindigkeit noch einmal sich abrolle. Da nun dieses erinnerte Leben natürlich auch wieder einen letzten Augenblick habe und dieser letzte Augenblick wieder einen letzten, und so weiter: so bedeute das Sterben im Grunde nichts anderes als die Ewigkeit – unter der mathematischen Formel einer unendlichen Reihe. Robert erinnerte sich noch, wie erbittert Otto dieses Gefasel zurückgewiesen hatte; Robert aber, ohne sich für Leinbachs Auffassung gradezu einzusetzen, hatte keineswegs vermocht, sie völlig unsinnig zu finden. Wenn jene Erklärung stimmte, so wußte man freilich nie, zum wievielten Male man irgendeine Sache durchlebte, und überdies war es gleichgültig, da man ja alles unendliche Male zu durchleben verdammt war. – Ach, Unsinn über Unsinn! Eine fragwürdige Erscheinung, dieser Leinbach, und als Arzt überhaupt nicht ernst zunehmen! Den konnte man natürlich anschwindeln, wie man nur wollte; es war keine Kunst. Mit Otto würde man kein so leichtes Spiel haben . . .

Das Tor des Gasthofs öffnete sich vor ihm. Als er die Treppen hinaufstieg, standen plötzlich wieder, wie vor beinah zwanzig Jahren, die Wände eines kleinen alten Palastes um ihn; und das verblichene Rot des Stiegenteppichs leuchtete wie Purpur unter seinen Füßen. Zum wievielten Male schritt er wohl diese Treppe jetzt hinauf? Zum hundertsten, zum tausendsten Male? Und immer wieder? Wie oft war sie der arme Höhnburg hinaufgegangen zu seiner geliebten Schauspielerin? Und ging er sie immer noch, und mußte sie ewig gehen – ?! Zum Teufel mit den unsinnigen Gedanken! Jedenfalls wollte sie nicht enden, diese Treppe. In welche Finsternis verlor sich der Gang? Jäh war die Beleuchtung im Stiegenhaus verlöscht. Robert schrak zusammen. Aber er faßte sich, entzündete ein Streichholz und leuchtete sich so bis zur Tür. Als er sie hinter sich geschlossen und das Zimmerlicht eingeschaltet hatte, atmete er auf, wie einer Gefahr entronnen.


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