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Als Robert in strömendem Regen am Bahnhof in den Wagen stieg, gab er dem Kutscher zuerst die Adresse seiner früheren Wohnung, die er vor der Abreise aufgegeben hatte; dann erst, sich besinnend, nannte er den Namen des alten Gasthofes, in dem er Quartier bestellt hatte. Hinter einer Kirche, zwischen hohen, düsteren Häusern der inneren Stadt gelegen, bot er nicht den freundlich-festlichen Anblick dar, mit dem neuentstandene den Anlangenden willkommen zu heißen pflegen; Robert aber hatte grade diesen gewählt, nicht nur, weil seine Geldmittel, wenn auch noch leidlich zusammengehalten, ihm einen längeren Aufenthalt in einer der moderneren Fremdenherbergen nicht gestatteten, sondern auch, weil er grade hier in einem Zimmer des vierten Stockwerks vor vielen Jahren in Gesellschaft eines längst verstorbenen Freundes, dessen Geliebte hier wohnte, manche fröhliche Stunde verbracht hatte. In seiner Erinnerung hatte er das Bild des Gasthofes sonderbarerweise wie das eines kleinen, alten Palastes aufbewahrt und suchte nun vergeblich nach den Spuren verblichener Pracht, die damals eine solche Täuschung hervorgerufen oder begünstigt haben mochten. Weder gab es die kunstreichen Zierate an dem eisernen Treppengeländer, noch waren an den Flurdecken die barocken Reliefs zu sehen, die er zu finden erwartet hatte; und der Stiegenteppich, schmal und zerschlissen, schimmerte in einem verblaßten und ärmlichen Purpurrot. Doch das Zimmer, das man ihm anwies, hochgewölbt, mit zwei breiten Fenstern, behaglich eingerichtet und mit dem Ausblick auf die grünpatinierte Kirchenkuppel, versöhnte ihn mit dem trübseligen ersten Eindruck. Er ließ sein Gepäck heraufschaffen und machte sich sofort daran, mit Hilfe einiger Kleinigkeiten aus eigenem Besitz, die er auch auf Reisen stets mit sich zu führen pflegte, wie Briefmappe, Papiermesser, Aschenschale und dergleichen, dem Gasthofzimmer einen leisen Schein von Häuslichkeit zu verleihen. Nachher begab er sich in das Badezimmer, dem wohl anzumerken war, daß es nur nach der widerwillig anerkannten Forderung einer neuen Zeit aus irgendeinem unbenutzten Bodenraum für seine jetzige Bestimmung umgewandelt worden war. Eine gelbliche, in die Decke eingelassene Lampe verbreitete spärliches Licht in dem fensterlosen Raum, und durch den länglichen Spiegel, der in einem glatten, alten Goldrahmen an der Wand hing, ging ein Sprung von unten bis oben. Seiner Gewohnheit nach blieb Robert ziemlich lange im Bad, dann, den rauhen, weißen Mantel um die Schulter geschlagen, trat er vor den Spiegel hin und fand sein bartloses, schmales Gesicht recht frisch, ja sogar für seine dreiundvierzig Jahre von ziemlich jugendlichem Aussehen. Schon wollte er sich befriedigt abwenden, als aus dem trüben Glas in rätselhafter Weise ein fremdes Auge ihn anzublicken schien. Er beugte sich vor und glaubte zu bemerken, daß das linke Lid tiefer herabsinke als das rechte. Er erschrak ein wenig, prüfte mit den Fingern nach, zwinkerte, preßte die Lider fest aneinander und öffnete sie wieder – doch der Unterschied gegenüber der rechten Seite blieb bestehen. Er kleidete sich rasch an, trat vor den großen Wandspiegel zwischen den beiden Fenstern, öffnete die Lider, so weit er vermochte, und mußte feststellen, daß das linke Lid seinem Willen nicht so rasch gehorchte wie das rechte. Doch das Auge selbst blickte klar, die Pupille antwortete dem Lichtreiz ohne Zögern; und da Robert sich überdies erinnerte, daß er die Nacht hindurch auf der linken Seite gelegen hatte, schien immerhin eine genügende Erklärung für die Schwäche des Lids gegeben. Trotzdem nahm sich Robert vor, morgen Doktor Leinbach oder Otto zu Rate zu ziehen oder, lieber noch, es darauf ankommen zu lassen, ob sein Bruder die Ungleichheit der Lider von selbst entdecken würde. Zugleich aber fühlte er diesen Vorsatz wie von einer unbestimmten Angst durchzittert, ungefähr so, als wenn er etwas Unrechtes begangen hätte und zumindest eines Verweises, wenn nicht gar einer Strafe gewärtig sein müßte. Zuerst wehrte er sich dagegen, diese Regung zu verstehen; dann streckte er beide Arme aus, wie um einen nahenden Feind abzuwehren, entfernte sich von seinem Spiegelbild und trat zum Fenster hin, an das die schweren Regentropfen klatschten. Sein Blick fiel auf die Marmorstatue des heiligen Christophorus, die gegenüber in einer Mauernische der Kirche stand, gradeso wie vor zwanzig Jahren. Nun erst merkte er, daß er sich in demselben Zimmer befand, das die Geliebte seines Freundes Höhnburg vor so vielen Jahren bewohnt hatte; nur die Möbel waren neu, und statt der schweren dunkelroten Plüschportieren fiel von der Messingstange des Alkovens in leichten Falten ein lichter, geblümter Kretonnevorhang herab, der zu der Farbe der neuen Tapete abgestimmt war. Sollte er diese Veränderung ins Helle, Freundliche als günstige Vorbedeutung ansehen? Er versuchte es vergebens. Denn mit grausamer Deutlichkeit stieg vor Roberts Sinnen der längst vergangene Frühlingsabend wieder auf, an dem nicht nur des Freundes, sondern – wie er tief erschauernd fühlte – vielleicht schon sein eigenes Schicksal geheimnisvoll sich angekündigt hatte. Und er erlebte ihn wieder.
Mit seinem Bruder Otto, dem Leutnant Höhnburg und anderen guten Bekannten war er nach einem Wettrennen in der Freudenau in einem menschenüberfüllten Pratergarten eingekehrt. Höhnburg war unter ihnen allen der Lauteste und Lustigste gewesen, noch lauter und übermütiger, als er sonst zu sein pflegte, und es war nicht sonderlich aufgefallen, als er dem Kellner ein Trinkgeld in ungewöhnlicher Höhe überreichte. Auf dem Heimweg aber hatte Otto den Bruder beiseitegenommen und ihm anvertraut, daß ihr gemeinsamer Freund Höhnburg – was die andern noch nicht ahnten, er selbst als Arzt aber seit etlichen Tagen mit Bestimmtheit wußte – unheilbarem Wahnsinn verfallen sei und in spätestens drei Jahren unter der Erde liegen werde. Robert lehnte sich zuerst gegen die Zumutung auf, in dem jungen Kavallerieoffizier, der ein solches Bild ungetrübter, ja gesteigerter Gesundheit bot und der zudem sein Freund war, einen Gezeichneten, einen Verurteilten zu erblicken. Als er sich aber endlich den Fachkenntnissen seines Bruders gegenüber bescheiden mußte, begann ihm Wesen und Benehmen, ja die ganze Erscheinung seines Freundes unheimlich und immer unheimlicher zu werden; er vermied es, das Wort an ihn zu richten, ja hatte geradezu Angst, daß jener sich wieder zu ihm wenden und vielleicht den Arm unter den seinen schieben würde, und ohne Abschied verschwand er aus der Gesellschaft. Schon wenige Tage darauf erlitt Höhnburg einen Tobsuchtsanfall und mußte einer Anstalt übergeben werden.
Bei der nächsten Begegnung mit Otto, ohne vorherige Absicht, wie einer ganz plötzlichen, unwiderstehlichen Eingebung folgend, stellte Robert die Forderung an den Bruder, dieser möge, wenn er irgendeinmal, sei es morgen oder in ferner Zukunft, die Vorzeichen einer Geisteskrankheit an ihm entdecke, ihn ohne weiteres auf rasche und schmerzlose Weise, wie sie dem Arzte ja immer zu Gebote stünde, vom Leben zum Tode befördern. Otto verspottete ihn zuerst als unverbesserlichen Hypochonder, Robert aber gab nicht nach und erklärte, daß brüderliche Liebe einen solchen Dienst nie und nimmer verweigern dürfe, da ja in jedem andern Fall der Kranke selbst nach Belieben seinen Leiden ein Ende machen könnte, während eine Geistesstörung den Menschen zum willenlosen Sklaven des Schicksals erniedere. Otto brach unmutig das Gespräch ab. Im Laufe der nächsten Wochen aber kam Robert mit solcher Beharrlichkeit immer wieder auf seine Forderung zurück, unterstützte sie mit so ruhig vorgebrachten und eigentlich unwidersprechlichen Gründen, daß Otto, um nur das unleidliche Geschwätz endlich loszuwerden, sich das erbetene Wort entreißen ließ. Doch auch damit gab Robert sich noch nicht zufrieden; er schrieb an seinen Bruder einen Brief, darin er ihm trocken, gradezu geschäftsmäßig, den Empfang jenes Versprechens bestätigte und ihm überdies riet, diese Bestätigung sorgfältig aufzubewahren, um sich vielleicht später einmal Anklägern oder Zweiflern gegenüber mit der unwiderleglichen Rechtfertigung einer notwendigen Tat ausweisen zu können.
Nach Absendung seines Briefes fühlte Robert sich beruhigt, und es war von nun an, wie im gegenseitigen Einverständnis, zwischen den Brüdern von jener Abmachung mit keinem Worte, ja nicht einmal andeutungsweise mehr die Rede gewesen. Robert aber fühlte sich wie von einem Bann befreit; ja ihm war, als wäre nun von allen Möglichkeiten, die sein Dasein bedrohen könnten, grade jene düsterste ein für allemal aus der Welt geschafft. Auch als er sich im letzten Frühling gezwungen sah, jeder Beschäftigung zu entsagen, weil sein Gedächtnis versagte – als er sich aus der Gesellschaft zurückzog, weil ihn die gleichgültigsten Worte ärgerlich oder gar schmerzlich berührten, als er sogar sein geliebtes Klavierspiel aufgeben mußte, weil es ihn selbst manchmal bis zu Tränen rühren konnte, deren er sich dann schämte –, auch damals hatte er keineswegs den Ausbruch des Wahnsinns gefürchtet, so wenig eine solche Befürchtung ihn während der ganzen Reise gequält hatte; und er wußte untrüglich, daß gestern abend im Eisenbahnwagen vor dem Einschlafen das schicksalsvolle Wort für ihn zum erstenmal aus seiner Buchstabentotheit wieder zu lebendiger Bedeutung erwacht war. Damit aber schien ihm der Vertrag zwischen ihm und seinem Bruder neu in Kraft getreten, und jenes Schreiben, das Otto gewiß sorgfältig aufbewahrt hatte, war zum Schuldschein geworden, gegen dessen stumme Unerbittlichkeit es in einer herandrohenden Stunde keinen Einspruch gab. Doch bedurfte es überhaupt eines solchen Scheins? War Otto nicht der Mann, einen Verlorenen aus der Welt zu schaffen, auch ohne durch einen bindenden Vertrag der Verantwortung enthoben zu sein – einfach aus Menschenliebe ? Und Robert zweifelte nicht, daß sich kluge und edle Ärzte zu einem Vorgehen solcher Art viel öfter entschließen, als im allgemeinen bekannt zu werden pflegt; auch ohne Rechtfertigungsbriefe in der Hand zu haben, wie Otto einen besaß.
Aber kam es nicht auch vor, daß Ärzte sich täuschten? Können sie nicht selbst irrsinnig werden und einen geistig Gesunden für geisteskrank halten? Und ist auf solche Art nicht einer dem andern rettungslos ausgeliefert – der Kranke dem Gesunden, wie der Gesunde dem Kranken? An dieser Stelle aber riß Robert sich gewaltsam zurück. Er wollte sich's nicht länger gefallen lassen, daß krankhafte Grübeleien ihn wehrlos in das trübe Land schwankender Möglichkeiten trieben, wo das Höchstwahrscheinliche und das kaum Vorstellbare in unlauterer Nähe beisammenwohnten. Wieder warf er einen raschen Blick in den Spiegel. Einen Unterschied zwischen rechts und links vermochte er jetzt nicht mehr wahrzunehmen. Beide Augen blickten etwas trüb und ermüdet, doch war er auf dem linken von Jugend auf ein wenig kurzsichtig gewesen und hatte die Gewohnheit angenommen, es zuweilen zusammenzukneifen. Dazu kam, daß er heute nacht kaum geschlafen hatte. Er sah im ganzen, das war nicht zu leugnen, abgespannt und übernächtig aus. So entschloß er sich, den beabsichtigten Besuch vorläufig zu verschieben, um Otto nach einer gut verbrachten Nacht, erfrischt, in gehobener Stimmung und womöglich – denn auch dies erschien ihm nicht ohne Bedeutung – bei gänzlich aufgehelltem Wetter zum erstenmal wieder gegenüberzutreten.