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Am nächsten Tage schwelgte in ihm ein Gefühl der Befreiung. Jetzt war auch die Sehnsucht nach ihr tot. Jetzt endlich war der Weg frei – der Weg der Pflicht. Er sann lange über Esther Honigmann. Je länger er dachte, desto freundlicher wurde ihm zu Sinn. Was wollte er denn mehr? Gut war sie und klug und innig, sicher auch sehr fein und hübsch, mehr als hübsch sogar, pikant war sie. Und – – mit einiger Nervosität erwartete er am Nachmittag Hertas Pfiff vor seinem Fenster. An Susanne dachte er heute seltsamerweise nur, wenn er seine Gedanken in diese Richtung zwang.
Endlich klang das Hirtenliedmotiv aus dem »Tannhäuser«, zu einem »Pfiff« zugerichtet, zum offenen Fenster herein.
Er bog sich hinaus und winkte. Zwei Minuten später stand er unten und druckte Esther die schmale Hand.
»Fräulein Honigmann hat dein Buch gelesen«, rief Herta gleich, »und ist begeistert.«
»Na – begeistert«, schränkte Hoff mit einem kleinen selbstgefälligen Autorenlächeln ein, »von einem wissenschaftlichen Werke!«
»Oh«, meinte Esther, »es ist kein wissenschaftliches Werk!« Und als Herta und Hoff einstimmig auflachten, lachte sie mit und verbesserte: »Cum grano salis, verstanden, natürlich.«
»Ei«, sagte Hoff, »Latein können Sie auch!«
»Bitte«, protzte sie schalkhaft, »ich habe das Gymnasium absolviert und mein Abiturium gemacht.«
»Ah so«, tat er scherzhaft hochachtend.
»Am Ende studieren Sie auch?« fragte er.
»Nein. Ich betätige mich praktisch. Aber wir wollen lieber von Ihrem Buch reden. Was mich am meisten daran erfreut hat, waren die aktuellen Bemerkungen. Es wirkt wundervoll ergötzlich, wenn Sie eine Einrichtung aus dem Jahre 800 mit Ihrem köstlichen Humor abkanzeln und dann lakonisch hinzufügen: die gleiche Bestimmung findet sich in dem Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches vom Jahre 1871.«
Er lächelte. »Ja, im Grunde schreibe ich ein ganz modernes psychologisches Buch. Besonders dieser zweite Band, an dem ich jetzt arbeite. Auf den ersten Blick habe ich auch die zahllosen Beziehungen zu heutigen Zuständen selbst nicht geahnt. Wie ich aber meinen Gedanken weiter nachgegangen und immer mehr in die Tiefe gedrungen bin, stand ich starr vor der Erkenntnis, wie wenig der Menschengeist im Grunde vorangeschritten ist. Wenn ich den Zeitgeist im Innersten zu erfassen suche, der Hexenprozesse ermöglicht hat, und dann eine Zeitung aufschlage, so fällt ein grelles Licht auf meine Studien und ich erkenne, wie tief das zwanzigste Jahrhundert im Mittelalter steckt.«
Esther nickte, und Herta freute sich, wie hübsch die beiden immer gleich ins Plaudern kamen, Sie standen am Schlachtensee.
»Wohin gehen wir?« fragte die Schwester.
»Herta sagte mir, Sie seien solch Kenner der Mark Brandenburg«, rühmte Esther. »Ich kenne sie leider so wenig. Ich schäme mich dessen. Eigentlich kenne ich nur Chausseen, auf denen ich im Auto dahingesaust bin. Aber ich will es nachholen. Können wir nicht irgendwie von hier aus zum Wannsee gelangen?«
»O ja«, nickte er. »Sehr leicht. Wir lassen uns zum Forsthaus übersetzen und gehen durch den Wald zum ›Großen Fenster‹. Das ist am Wannsee.«
Während sie hinüberfuhren, hatte er dunkel das Gefühl, einen Verrat zu begehen. »Ach was«, kämpfte er die raunenden Stimmen nieder, »es ist doch alles aus. Sie hat es doch gewollt. Ich kann mir von meiner Vergangenheit die Mark nicht sperren lassen.«
Und auf dem Wege durch den Wald schwanden in eifrigem Gespräch mit Esther alle Erinnerungen.
Herta schritt voran. Sie wollte die beiden sich überlassen. Und dann hatte sie auch so ihre eigenen Gedanken. Egon kam nun bald zurück von der Tournee. Dann konnten sie sich wenigstens wieder treffen. Meistens waren es ja freilich nur Minuten, die sie der Arbeit stahl. Und nur selten am Sonntag schwelgten sie ein Viertelstündchen. Aber reiche kostbare Minuten waren das, in die sich alle Sehnsucht und aller gierige Glückshunger zusammendrängte. Doch nun war bald alles überstanden. Denn hinter ihr schritt ja – das Glück.
Esther sprach von ihrer Tätigkeit im Verein zur Besserung gefallener Mädchen.
»Ein furchtbarer Name«, schauderte Hoff.
»Ja«, stimmte sie innig bei, »sobald ich erst etwas im Verein zu sagen haben werde, will ich mit aller Energie für die Änderung eintreten.«
Und dann erzählte sie von ihrer Tätigkeit. Sie hatte Schneidern und Zuschneiden gelernt, um den Mädchen für einen Lebensberuf etwas Positives bieten zu können.
»Sie müssen sehr glücklich sein, so wirken zu können«, sagte er nach einiger Zeit.
Sie lächelte wehmütig. »Glücklich? – ach Gott!«
»Wie – fühlen Sie keine tiefe Befriedigung in Ihrer Tätigkeit?«
»Befriedigung? – Ja. – Aber Befriedigung ist nicht Glück. Ich weiß, Herr Assessor, Sie kennen die Menschen und sehen ihnen bis auf den Grund ihrer dunklen geheimen Wünsche und Hoffnungen. Vor Ihnen kann und muß man ehrlich sein. Ich bin nicht das schamhafte blonde süße Mädel, das alles Glück der Erde von dem Mann erwartet. Das dasteht und zu dem Herrn der Schöpfung mit bangklopfendem anbetendem Herzen aufblickt and von ihm alles Heil und alle Erlösung und den Anfang ihres Lebens erwartet. Diesem Ideal – der Marlitt und Genossen – stehe ich so fern wie nur möglich. Ich fühle es im Innersten, daß ich ein Mensch für mich bin und keine ranke Schlingpflanze. Und doch – und doch. Wenn ich ganz ehrlich bin, strebt meine Sehnsucht danach, einem Manne die Welt zu sein. Sein Freund und Weggefährte. Ihm alles das zu geben, was ich zu geben habe, geistig und körperlich, und was in mir an Menschentum ist, auf meine Kinder zu verpflanzen. Glauben Sie mir, all diese Liebesbetätigung gegen Fremde ist Frauen nichts Natürliches. Aufgehen für Menschen, die nicht Mann und Kinder sind, ist, glaube ich, immer mehr Akt der Verzweiflung, höchstens aber, ein schönes Surrogat.«
Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. In ihren schwarzen Augen schwamm ein feuchter, heller Stern.
»Ich danke Ihnen für Ihr schönes Bekenntnis«, sagte er leise. »Ich weiß, fast alle denken so, nur der Mut fehlt, es zu gestehen.«
Dann gingen sie still weiter.
Herta aber hatte die Ohren gespitzt, da sie bemerkte, daß Esther mit leiser erregter Stimme sprach. Und als sie diese Beichte vernahm, brauchte sie alle Selbstbeherrschung, ihre Füße vor allzu kecken Luftsprüngen zu bezwingen. Sie konnte die Heimkehr kaum erwarten. Mit großen Sätzen stürmte sie die Treppen hinauf, drei Stufen auf einmal, und riß die Tür auf. Und als sie ins Zimmer stürzte, in dem die Mutter und Lisbeth bei der Lampe nähten, sprudelte sie hervor:
»Es ist erreicht! Donnerwetter, geht die ins Zeug! Und ich Dussel habe geglaubt, jedes laute Wort würde sie verscheuchen!«
»Erzähl doch, erzähl doch!« drängte Frau Hoff. Auch Lisbeths Hände ruhten.
»Sie hat ihm einfach eine Liebeserklärung gemacht. Ich bin vorausgegangen, damit sie sich aussprechen konnten. Und da habe ich gehört, wie sie sagte: Sie möchte einem Mann alles sein, eine Welt. Und Kinder von ihm haben. Und alles andere sei Unsinn. Na – wenn das nicht deutlich war, was? Und nun hört mal mit dem Gestichel da auf und laßt uns lieber für unsere Garderobe sorgen. Wir werden sie brauchen, ehe wir's uns versehen.«