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2.

Die Hoffs bewohnten drei kleine Zimmer im dritten Stock eines Hauses der Frobenstraße, das aus einer Zeit stammte, da »reichliches Zubehör« und »aller Komfort der Neuzeit« und »Rollstube und Vakuumreiniger« noch im Schoße der Zukunft und die Häuserspekulation den Schlaf der Ungeborenen schlief.

Hieher waren sie vor sieben Jahren gezogen, nach dem jähen Ende der Herrlichkeit in der Landgrafenstraße. Ja, die Wohnung in der Landgrafenstraße mit ihren weiten, trauten Gemächern und den blätterumrauschten Veranden! Sie trauerten und sprachen darüber, wie Eva mit ihrem Nachwuchs vom Paradies geschwärmt haben mag. So oft die Äußerung fiel: »Wißt ihr noch, in der Landgrafenstraße, da –« – und sie fiel oft – – wurden aller Augen hell, und sie zogen die Luft ein, als atme der Duft blühender Akazien wieder durchs Zimmer.

Die Familie lebte im Grunde nicht in den drei Stuben der Frobenstraße. Es war, als hätten sie die Augen fest geschlossen und träumten. Träumten von der warmen, grünumrankten Vergangenheit und den leuchtenden Tagen der Zukunft. Nein, diese Not der letzten sieben Jahre, dieses Hinvegetieren in Niedrigkeit und Kümmernis war kein pulsierendes, bewußtes Leben. Es war ein bleicher Wartezustand, ein blutleeres Hinüberdämmern zu dem Guten, Strahlenden, Kommenden. Und nur mit der ehernen Hoffnung auf einstige Erlösung hatten sie all das Schmerzliche nicht recht empfunden, und nur so hatten sie es still und stark ertragen können.

Das Glück der Landgrafenstraße hatte ihnen der Vater gebaut. Er war Elektrotechniker und hatte eine sehr auskömmliche Stellung bei einer Berliner Maschinenbauanstalt. Äußerlich war der Sohn ihm ähnlich. Nur war der Vater breiter und wuchtiger, körperlich und geistig. Er stand so fest und sicher mit seinen starken Füßen auf der Erde, daß der Gedanke, er könne straucheln, nie recht Raum in seinem Hirn fand. Wenn seine kluge, vorsichtige Frau dann und wann darauf hindeutete, daß wir alle in Gottes Hand ständen, und daß er »für alle Fälle« für die Zukunft der Familie sorgen sollte, und etwas von Lebensversicherung und Unfallpolizze andeutete, fuhr Hoff großmächtig mit den Daumen in die Armlöcher seiner properen weißen Weste, sog die Lungen voll Luft, daß die Brust sich wölbte wie ein Panzer und lachte sein schönes, sieghaftes Lachen. »Geh. Mutter«, sagte er dann behaglich, »solange die Maschine hier funktioniert, werdet ihr keine Not leiden. Und nach meiner Kenntnis von der Dauerkraft eines solchen Pumpwerkes dürfte sie noch die nächsten zwanzig Jahre ihre Schuldigkeit tun. Wozu also das schöne Geld 'ner Versicherungsgesellschaft in den Rachen werfen, statt es in den guten Dingen dieser Welt anzulegen. Hab' doch recht, Kinder, was? Wollen uns lieber aufsetzen und den Brocken unsicher machen, he?«

Und die Kinder jauchzten und tanzten mit Vatern im Zimmer herum, und das Ende vom Liede war, daß Mutter die Rucksäcke packen und ihre Mahnung vertagen mußte. Fing sie dann das nächste Mal wieder damit an, sagte Hoff: »Liebe, zwanzig Jahre habe ich noch. Darein laß ich mir nicht reden. Sonst wird die Kalkulation falsch. Na, und in zwanzig Jahren, Jotte doch! Da ist der Junge längst in Amt und Würden, und die Mädels helfen ihren Bengels längst nicht mehr bei den Schulaufsätzen. Na, und du – und wirst dann wohl auch nicht mehr in Seidenroben Bälle schmücken.«

Und damit war die Sache vorläufig wieder einmal abgetan.

Es zeigte sich aber, daß eine gute Maschine auch ohne Konstruktionsfehler jäh stoppen kann.

Zunächst war es nichts weiter als eine lumpige Grippe, über die Vater Hoff seine gewohnheitsmäßigen Witze riß. Dann war eines Nachts in allen Gliedern solch ermüdender Schmerz und in den Adern solch zehrende Glut. Und in der starken breiten Brust rasselte es dumpf und dräuend. Bis es eines Abends nach einem letzten Verzweiflungskampfe ganz still wurde. Ganz still. Und dann trugen sie ihn hinaus in das wirre Schneegestöber, in das der lange Schleier der Witwe hineinschlotterte wie eine klagende Trauerfahne.

Das war das Ende der Herrlichkeit der Landgrafenstraße. Am nächsten Tage saß ein anderer Elektrotechniker an Walter Hoffs Arbeitstisch, und das Leben und die Räder der Maschinenfabrik rollten weiter. Und die Chefs hatten vergessen, daß der verstorbene Direktor Hoff zwanzig Jahre ihren Maschinen Odem eingehaucht hatte. Denn es war eine moderne Bauanstalt – mit allen Errungenschaften der Neuzeit.

Eines Abends saß Frau Hoff mit ihrem zwanzigjährigen Sohn in des Vaters Zimmer und zog die traurige Bilanz einer mittellosen Witwe mit drei brotlosen Kindern. Sie saßen lange und starrten vor sich hin. Schließlich sagte Frau Hoff: »Wir werden etwas tun müssen.« Ewald nickte.

»Ich werde arbeiten«, sagte er.

»Was willst du arbeiten?« fragte die Mutter. »Du hast genug zu tun mit deinem Examen.«

»Ich werde die Juristerei aufgeben«, entschied Ewald. »Wovon soll ich vier Jahre als Referendar leben, und dienen muß ich auch noch.«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Du mußt dabei bleiben, Ewald«, sprach sie fest, »das ist sicher. Ich werde nachdenken.«

»Nein«, sagte Ewald, »ich werde in ein Geschäft gehen.«

»Und ich auch«, fiel Liesbeth ein, die leise hereingekommen war. Zugleich schlüpfte auch Herta durch die Portieren und rief: »Ich gehe auch ins Geschäft, Mama. Und morgen gehe ich nicht mehr zur Schule. Das hat nun doch keinen Zweck mehr.« Sie war ganz beseligt über die frohe Aussicht.

Da erhob sich Frau Hoff, ging zweimal durch das geräumige Gemach. Dann stand sie bleich vor ihren Kindern.

»Meine armen Lieblinge!« sagte sie, und ihre Lippen zuckten nervös, »nur das nicht. Nur das nicht! Dann ist eure Zukunft verloren. Von dir, Ewald, spreche ich nicht. Es wäre Wahnsinn, wenige Wochen vor dem Examen das Studium aufzugeben.«

»Aber –« wollte Ewald einwenden. Die Worte der Mutter hasteten weiter: »Auch die Mädchen – nein, nein – dann ist ihre Zukunft verriegelt. Daran ist nicht zu denken.«

»Nein – wir müssen es anders versuchen. Es muß sich etwas finden. Ich darf eure Aussicht auf Heirat nicht in der ersten Verzweiflung über Bord werfen. Ich werde nachdenken.«

Und sie dachte und grübelte viele schlaflose Nächte, und Herta mußte zu ihrem Verdruß am nächsten Morgen nun doch zur Schule.

Bei jedem Plane, den sie ersann und wieder verwarf, durchbebte die Witwe beklemmend die Angst, die Wohlanständigkeit der Familie zu untergraben. Den Schein nach außen wollte sie um jeden Preis und jedes blutige Opfer wahren. Sie wußte, besser als ihre weltunkundigen Kinder, daß nur so die Mädchen in ihrem Kreise heiraten konnten. Und sie war noch die »unmoderne« Frau, der es als ein Evangelium galt, daß Mann und Kind und ein eigenes Heim am letzten Ende doch das einzige wahre Glück des Weibes sind. Und glücklich werden sollten ihre Mädel.

So begann dieser zermürbende heimliche Kampf der Familie Holl um den Schein. Die Frucht des Grübelns waren zahllose Besuche Frau Holls bei den Inhabern mannigfacher Geschäfte. Und endlich fand sie für sich und Lisbeth die ersehnte Heimarbeit. Seit jungen Tagen hatte sie künstlerische Stickereien gefertigt. Jetzt machte sie aus der Spielerei den Broterwerb. Und Lisbeth nähte. Verbrauchte man von dem kleinen Kapital, das geblieben war, jährlich einen Teil, so konnte man mit dem Verdienst dieser Arbeit auf einige Jahre wenigstens auskommen. Es gibt ja so viele Arten von »Auskommen«.

So zogen sie in die Frobenstraße und kämpften ihr hartes Leben. Und als die fünfzehnjährige Herta die Schule verließ, ward ihrer Hände Arbeit ein Zuschuß mehr. So konnten sie »ihre Drohne«, wie Ewald sich in bitterer Selbstironie nannte, durch das Dienstjahr und die Referendarzeit hindurchfüttern.

Aber der junge Mensch hätte das vernichtende Gefühl, von den drei Frauen ausgehalten zu werden, nicht überwunden, und Mutter und Töchter wären der Herz und Geist abtötenden Arbeit und der zermürbenden Not ermattet erlegen, wenn nicht die Hoffnung in ihren Herzen gezittert hätte. Eine seltsame Hoffnung war es. Doch sie leuchtete hell und warm durch das kalte Dunkel ihres Lebens.

Es war in den ersten Wochen ihres verbissenen Kampfes um das tägliche Brot des Anstandes. Sonntag war's und Frau Hoff wanderte durch den frühlingsfeuchten Tiergarten hinaus auf den Kirchhof. Unterwegs begegnete ihr eine Bekannte. Trotz ihres Kummers fiel das veränderte Aussehen der anderen den scharfen Augen der Witwe auf. Soviel blühender, voller, jünger schien die gute Dame. Und soviel besser gekleidet war sie als ehedem. Es dauerte auch nicht sehr lange, so hatte Frau Hoff den Grund dieser Wandlung erfahren. »Ja, denken Sie nur«, berichtete Frau Burgstaller und blieb vor Eifer mitten auf dem Wege stehen, »unser Sohn Anton hat sich doch verheiratet. Sie haben gewiß davon gelesen. Nein? Na ja, in Ihrer Trauer nur zu begreiflich. Aber es ist so. Er ist verheiratet. Denken Sie bloß, Frau Hoff, mit Fräulein Bernsdorff. Ja – Sie sehen mich groß an. Sie wundern sich. Natürlich. Und doch ist's Wahrheit. Von dem reichen Bernsdorff aus der Stülerstraße. Denken sie bloß mal!«

Frau von Hoff dachte doch an ihre Not daheim.

»Eine Aussteuer hat das Mädchen bekommen!« ergänzte Frau Burgstaller ihre Familienfreudenchronik, »mindestens für vierzigtausend Mark. Alles Batist und echte Spitzen. Und dreißigtausend Mark kriegt Anton jährlichen Zuschuß. Und wenn der alte Bernsdorff mal – Gott vorhüte es – zu seinen Vätern versammelt wird, erbt Anton bestimmt vier Millionen, eine aber mindestens. Min – de – stens! Natürlich ist Anton zur Regierung gegangen. Und nächstens soll er ins Auswärtige Amt. Na, – und sie wissen ja, Frau Hoff, wie'n zärtliches Kind unser Anton immer war. Es ist rührend, was er alles für mich und 'n Fritz tut. Mit Fritz, unserm Jüngsten, ist ja leider nicht viel Staat. Es kann eben nicht alles beisammen sein. Man muß es tragen, wie Gott es gibt. Adieu, liebe Frau Hoff, ich muß nun hier in die Tiergartenstraße abbiegen. Bei meinem Sohn ist heute abends große Gesellschaft, da soll ich der jungen Frau ein bißchen helfen. Sie wohnen in der Hohenzollernstraße. Grüßen Sie Ihren Herrn Sohn und die Fräulein Töchter, Adieu, Frau Hoff!«

Ganz wirr von dem Geschwätz ging Frau Hoff ihres Weges. Sie hatte übrigens kaum recht hingehört. Als sie dann aber an dem schwarzen kahlen Erdhügel stand, auf dem die frühe Jahreszeit noch jedes lebende Grün versagte, stieg aus dem Grabe etwas auf von dem unverwüstlichen, lebenstrotzenden Optimismus des Toten. Das Gefabel der Burgstaller ward jäh wach in der Witwe, erhielt Lebensodem und warm rieselndes Blut. Und in der Verzweiflung, die sie hier an dem Grabe mit herzzerpressender Gewalt packte, schien ihr die Begegnung von vorhin ein sichtbarer Fingerzeig Gottes.

Seit diesem Sonntag war des jungen Referendars Berufung zum Retter und Erlöser im Hoffschen Kreise fixe Idee geworden. Es ward nach und nach etwas Selbstverständliches, etwas wie ein unumstößliches Naturgesetz, daß irgendwo ein sehr begütertes liebliches Jungfräulein heranblühe, just für Herrn Ewald Hoff heranblühe, das er finden und beglücken und somit alle Not und alle Pein vertilgen würde wie weiland St. Georg den üblen Drachen. Keiner von den vier Beteiligten hätte heute mehr Rechenschaft darüber ablegen können, wie die Idee unter ihnen Wurzel gefaßt hatte und üppig ins Kraut geschossen war. Der Gedanke an diese Erlösung spukte bei Tag und Nacht durch ihre Sinne. Diese Hoffnung hing wie eine ewige Lampe zu Häupten der drei arbeitenden Frauen und leuchtete ihnen Geduld und Zuversicht in die müden Seelen. Der helle Schein dieser Lampe ließ die Finger der drei Frauen sich geradestrecken, wenn sie klamm und steif wurden vom Halten der Nadel; er richtete ihre Rücken wieder empor, wenn sie schmerzten vom Beugen über die Arbeit; er gab ihnen die Kraft, das Haupt wieder stolz durch die Straßen zu tragen, wenn sie es verschämt und verängstigt gesenkt halten beim Hineinhuschen in die Hoftüren ihrer Arbeitgeber.

Und diese Aussicht allen verlieh auch Hoff während seiner Referendarzeit die geduldige Ergebung, sich von den Frauen unterstützen zu lassen. Er ließ die Frauen Körper und Seele aufreiben, in dem sicheren Bewußtsein, ihnen einst für jede mühevolle Stunde eine reich beglückte zu bescheren. Er fühlte sich als ihr Heiland und ihr Stern in dunkler Nacht.


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