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Im Jahre 1870 ist die große Schicksalsfrage: Sein oder Nichtsein? mit ihrer ganzen Wucht an unser Land und Volk herangetreten. Der Romanismus hatte binnen 24 Stunden zwei höchste Trumpfkarten seiner Todfeindseligkeit gegen uns ausgespielt: das römische Dogma vom 18. Juli und die französische Kriegserklärung vom 19. Juli. Die Bismarcksche »Eisen- und Blut«-Politik hatte auf den böhmischen Schlachtfeldern des siebentägigen Krieges von 1866 den jammerseligen preußisch-österreichischen Dualismus zerschmettert und zur Verwirklichung des deutschen Einheitsgedankens mittels Verpreußung Deutschlands tatsächlich den Grund gelegt. Traurig, daß es so kommen mußte; aber es mußte so kommen. Denn nachdem das »Volk«, wie im Jahre 1848, so auch bis 1866 seinen Mangel an Verständnis, Initiativkraft und Beharrlichkeit kläglich dargetan, nachdem der »Fürstentag« von 1863 nicht weniger als die »Volkspartei« ohne Volk von 1850 bis zum Tage von Sadowa ihre Ohnmacht trübselig erwiesen hatten, ihre Ohnmacht, aus Deutschland überhaupt etwas, gleichviel was, zu machen: was wäre denn da noch anders übriggeblieben als die Bluthochzeit des Hohenzollernschen Vergrößerungstriebes mit der deutschen Einheitsidee? Eine Revolution im republikanisch-demokratischen Sinne, gibt eine Stimme aus Wolkenkuckucksheim zur Antwort. Wohl! aber wer hätte denn diese Revolution machen sollen? Wie? wo? wann? womit? Etwa aus dem Stegreif, auf der Bierbank, zwischen Früh- und Vesperschoppen und mittels Resolutionsphrasen? Ach, man kannte ja die traurigen Ritter von der afterdemokratischen Distel, diese Schwätzer, welche sich gegenseitig als große Männer beweihrauchten, aber nichts vor sich hatten als ihre Dummheit, nichts in sich als ihre Eitelkeit und nichts hinter sich als die Makulatur ihrer Winkelblätter.
So erhoben sich die Deutschen im Juli von 1870 mit einem Einmut, wie ihn die deutsche Geschichte noch nie gekannt, und mit geeinter Nationalkraft haben sie dann unter genialer Führung so Großes getan, wie es binnen so weniger Monate die Sonne noch nie gesehen hatte. Nur das Heer eines Volkes, welches eine intellektuelle und materielle Kulturarbeit hinter sich hatte wie das deutsche, konnte vollbringen, was dieses Heer bei Metz, bei Sedan, bei Orleans und bei Le Mans, bei Amiens und bei St. Quentin, bei Belfort und vor Paris vollbrachte.
Der Kampfpreis für die ungeheuren Opfer von Blut, Gut, welche unser Volk im großen Jahre zu bringen hatte, war die Wiederaufrichtung des Reiches deutscher Nation. Diese weltgeschichtliche Haupt- und Staatsaktion hatte statt zu Versailles, von wo vormals so vieles zur Untergrabung und zur Vernichtung des alten Deutschen Reiches ausgegangen war.
Hat nun aber die Größe des Kampfpreises die der Opfer vollständig gedeckt? Nein! So, wie die Welt einmal ist, gilt in ihr die Form nicht weniger als das Wesen, sondern sogar noch viel mehr. Die Form der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches war aber verfehlt, mindestens unzulänglich. Das deutsche Volk hatte das wahrlich teuer erkaufte Recht, so oder so mit dabei zu sein und mitzutun. Der 18. Januar 1871 war eine hochmütige Verkennung, eine unpolitische Hintansetzung dieses Rechtes, welche eines Tages sich rächen wird. An der Kaiserkrone, welche der Preußenkönig aus den Händen der deutschen Fürsten entgegennahm, glänzte nicht jener »Tropfen demokratischen Salböls«, welchen Unland im Jahre 1848 prophetisch-warnend gefordert hatte.
Die Reichsverfassung von 1871 konnte von dem deutschen Volke, welches zudem niemals die Deutsch-Österreicher aufgeben wird, nur als eine Abschlagszahlung betrachtet werden. Was die deutsche Reichsverfassung angeht, so war diese, genau angesehen, bloß ein Notbehelf, ein leidiges Flick- und Stückwerk. Sie entsprach weder der Bildungsstufe noch den materiellen Interessen, noch der politischen Berechtigung der Nation. Weil man bei Schaffung dieser Verfassung das Volk um jeden Preis beiseite halten wollte, mußte man den partikularistischen Egoismen und Schrullen der Fürsten und ihres Anhanges die mißlichsten Einräumungen machen. Daher kam es, daß sich das neue Deutsche Reich mit so vielen lächerlichen Petrefakten wie Lippe-Krähwinkel und Reuß-Kuhschnappel und ähnlicher »berechtigten Existenzen und Eigentümlichkeiten« schleppen muß. Aber, sagte man, der Bundesstaat ist so recht die germanische Staatsform. Aber unbefangene Betrachter und Urteiler konnten leicht auf den Gedanken kommen, es sei dies eben auch nur einer jener mumisierten und balsamierten Afterglauben, welche einer dem andern denkträge nachschwatzt. Daß auch der germanische Einheitstaat recht wohl gedeihen könne, falls er innerhalb seines Rahmens die Gemeindefreiheit und das Vereinsrecht gewähren läßt, hat England dargetan. Wenn der germanische Föderalismus zur Krähwinkelei führt oder die Krähwinkelei wenigstens duldet, so ist er sicherlich in seinen Wirkungen noch schlimmer als der romantische Zentralismus. Wenn das bundesstaatliche Prinzip dazu dienen soll, die Winkelstätelei zu schonen, so ist es in der Theorie eine leere Redensart und in der Praxis ein volles Übel. Im großen Jahre hatte man das nationale Messer in der Hand: warum brauchte man es nicht? Wenn bei dem Zopfschnitt ein Dutzend Herzogsmäntel und Fürstenhüte und verschiedene Königskronen von Napoleons Gnaden mit in die Brüche gegangen wären, desto besser! Es war ein unabwendbares Verhängnis, daß erst Deutschland in Preußen aufginge, um das spätere Aufgehen Preußens in Deutschland überhaupt zu einer Möglichkeit zu machen. Je bälder die Verpreußung Gesamtdeutschlands zu einer vollendeten Tatsache geworden wäre, desto bälder hätte auch die Entpreußung des Reiches anheben müssen. Nur Schwachköpfe konnten und nur Querköpfe wollten das nicht einsehen.
Das Deutsche Reich war unfertig und seine Verfassung weit mehr eine Mißbildung als ein Kunstwerk. Es wäre auch töricht, leugnen zu wollen, daß die Reichsgesetzgebung keine sehr glückliche und die Reichsfinanzerei eine entschieden unglückliche Hand gehabt hat. Der Reichsparlamentarismus entbehrte nicht selten jenes Scheins von Anstand und Würde, mit dem das Scheinding von Konstitutionalismus umgeben sein muß, so es nicht ganz ins Nichtige und Läppische fallen soll. Die Verhandlungen des Reichstages waren demzufolge häufig nur ein Schattenspiel an der Wand. Ebenso gab es eine Verantwortlichkeit der Reichsregierung eigentlich gar nicht. Aber bei und trotz alledem ist mittels dieser höchst mangelhaften Reichsverfassung und dieser der Verbesserung sehr bedürftigen Reichsregierung unser Volk endlich einmal nationalstaatlich organisiert worden, womit immerhin ein Vorschritt erzielt wurde. Vergessen wir auch nicht, daß die Geschichte des neuen Deutschen Reiches begonnen hat mit einem Kriege. Die fortwährende Kriegsbereitschaft ist eine furchtbare Last; da aber das neue Deutsche Reich von offenen oder schlechtversteckten Feinden umgeben ist, so müßte diese Last getragen werden, bis der europäische Militarismus überhaupt verkracht, was ja nicht ausbleiben kann. Man hätte jedoch wenigstens Sorge tragen sollen, auch den Militarismus nach Möglichkeit zu humanisieren. Man hätte das »Volk in Waffen«, von welchem man amtlich bei Gelegenheit so emphatisch zu reden wußte, nicht der Roheit jenes altherkömmlichen Korporalismus preisgeben sollen, welcher leider in deutschen Landen nur allzu häufig noch immer brutalisieren darf. Und weiterhin gab es noch genug andere Klagen, die schlechterdings nie verstummen dürfen im Munde solcher, welche ihr Land lieben.
Wissen ist Macht, also Tat. Das sei und bleibe unser Bekenntnis und unsere Losung. Wir dürfen mit Erhebung auf das zurückblicken, was alles unser Volk im Verlaufe seiner Kultur- und Sittengeschichte gelernt und getan, gelitten und erstritten hat; aber der Hinblick auf das, was uns alles noch zu tun bleibt, wird uns vor Überhebung bewahren. Die Ergebnisse deutscher Bildung sind groß, aber nicht minder groß sind die Bedürfnisse und Forderungen derselben. Darum weitergearbeitet nach deutscher Art, ohne Hast, ohne Rast! Den Kulturschatz, welchen die Vergangenheit uns vermachte, die Gegenwart hat ihn vermehrt. In der Landwirtschaft, in den Gewerben, in allen Kunstfertigkeiten sind rühmliche Vorschritte gemacht worden. Die Bewegung des deutschen Handels, dessen kühne und ausdauernde Betreiber in allen Erdteilen, in den entlegensten Zonen und an den fernsten Gestaden zugleich die Sendboten unserer Kultur sind, ja, der deutsche Handel wurde immer umfassender, ausgreifender und tatkräftiger. Er wagte, warb und wirkte um so entschlossener, er trat allenthalben mit der englischen Handelsmacht um so entschiedener in Konkurrenz, als die deutsche Handelsflagge nicht mehr schutzlos die Meere durchwehen mußte, nur geduldet, nicht als gleichberechtigt anerkannt, wie vordem, sondern vielmehr des Schutzes und Schirmes von Seiten der deutschen Flotte sicher und gewiß. Denn was noch zu Anfang der 40er Jahre des Jahrhunderts nur ein kecker Dichtertraum gewesen, eine deutsche Kriegsflotte, das neue Reich hatte sie zu einer stattlichen Wirklichkeit gemacht. Leider trat dieser großartigen Bewegung der Industrie und des Handels der wüste Schmarotzer Schwindel auf dem Fuße nach und hat sich auch in Deutschland ein zuchtloser Erwerbstrieb zu jedem »Gründertum« vergeilt, dessen ehr- und schamlose Skandalchronik zu den widerwärtigsten Erscheinungen des Jahrhunderts gehörte. Zu den erfreulichsten dagegen sind zweifelsohne zu zählen die bienenfleißige und erfolgschwere Tätigkeit der deutschen Wissenschaft, besonders der Natur- und Geschichtewissenschaft.
Wohl einem Volke, dem das Bestehende stets nur die Saat des Werdenden, die Gegenwart allzeit nur die Aufschrittstufe zur Zukunft ist! Möge niemals ein Unglückstag kommen, wo die Deutschen sich verführen ließen, die Errungenschaften ihrer zweitausendjährigen Sittigungsarbeit für ein Kapital anzusehen, mit dessen Zinsen die Daseinskosten ausgiebig zu bestreiten wären. Nur der werktätige Glaube an das Evangelium der Arbeit erhält, wie die einzelnen Menschen, so auch ganze Völker gesund und tüchtig.
Zu diesem Werk wurden für die Illustrationen folgende Vorlagen benutzt:
Henne am Rhyn, Kulturgeschichte des deutschen Volkes
Fuchs, Sittengeschichte
Springer, Kunstgeschichte
Schulz, Deutsches Leben im Mittelalter