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Achtes Kapitel. Schatten und Licht

Aus der Kriminalistik des 19. Jahrhunderts. – Die religiösen Verirrungen. – Die Ultramontanen und die Pietisten. – Ein religiöses Nachtstück. – Die »Wissenschaft der Umkehr« und der fromme Sklavensinn. – Opposition und Reaktion. – Das Vereinswesen. – Hegel und sein System. – Die Literatur der Restaurationsperiode. – Das junge Deutschland. – Der literarische Demokratismus. – Die Junghegelingen und die »Tübinger« Schule. – Der Materialismus. – Das neue Deutsche Reich. – Schluß.

 

Die Dunkelkammer, in welche ich den Leser zunächst hineinsehen lassen muß, widerspiegelt sehr düstere Bilder, so düstere, daß ich vielleicht dem Tadel Wohlmeinender unterliege, welche die Blößen des Vaterlandes unter allen Umständen gerne mit dem Mantel des Patriotismus bedeckt sehen möchten. Allein diese Rücksicht kann mich nicht abhalten, eine kulturhistorische Pflicht zu erfüllen, umso weniger, da ich der Ansicht bin, gerade in unserer Zeit liege die ernste Aufforderung von allen Seiten her, die Nation einer Selbstverblendung zu entreißen, aus welcher jene unselige, in unserer ganzen Geschichte leider so oft wirksame, michelhafte Traumseligkeit mit Notwendigkeit hervorgeht. Stolz auf unseren geistigen Reichtum, vergessen wir nur zu leicht, wie unendlich viel noch getan werden muß, um die Fülle desselben dem Volke zugänglich zu machen, die Gold- und Silberbarren der Wissenschaft in gangbare Münze auszuprägen oder, mit anderen Worten, die Strahlen des Wissens und der Humanität – der wahren, wohl verstanden! nicht der verfälschten, jener breiweichen Empfindelei und gedankenlosen Rührseligkeit, welche darauf ausgeht, den Unterschied von Recht und Unrecht zu verwischen, das Pflichtbewußtsein zu schwächen und demnach Laster und Frevel zu pflanzen – auch in jene Schichten der Bevölkerung zu leiten, auf welchen im 19. Jahrhundert noch so dichte Finsternis lastet. Es ist eine unheilvolle Täuschung, die geistigen und sittlichen Verirrungen, deren wir zu gedenken haben werden, als vereinzelte krankhafte Erscheinungen aufzulassen und als solche gering zu achten: diese Verirrungen sind Symptome vom Vorhandensein eines Krankheitsstoffes, welcher durch den ganzen gesellschaftlichen Körper verbreitet ist. Die Äußerungen des Übels werden allerdings vielfach durch die materiellen Notstände hervorgerufen, weshalb wir auch schon im vorigen Kapitel einige Erscheinungen dieser Art zu berühren Gelegenheit hatten; dessenungeachtet aber ist der Pauperismus keineswegs die einzige Quelle des Verbrechens. Im Gegenteil tritt dieses in den wohlhabenderen und sogar in den reichsten Ständen oft mit noch größerer Brutalität und jedenfalls mit mehr Bösartigkeit hervor als in den ärmeren und ärmsten, was beweist, welche allseitigen Schwierigkeiten die trotz alledem vor schreitende Humanisierung der deutschen Gesellschaft noch zu überwinden haben wird.

siehe Bildunterschrift

Nr. 209. Die Mitglieder des Hamburger Künstlervereins 1840. Von G. Gensler, Hamburg, Kunsthalle.

Ich habe das Wort Verbrechen genannt. Die Kriminalstatistik des 19. Jahrhunderts hat in ihre Register auch aus Deutschland eine Reihe von Fällen einzuzeichnen gehabt, wo Laster und verbrecherische Taten sich bis zum Ungeheuerlichen und Grauenhaften steigerten. Die Sittenlosigkeit der vornehmen Kreise, von welcher wir schon bei früheren Gelegenheiten Andeutungen gaben, schlug auch in Deutschland nur zu oft in jene verbrecherische Verworfenheit um, von welcher in Frankreich der Prozeß Praslin, in Belgien der Prozeß Bocarmé so grelle Bilder entrollten. Will man uns einwerfen, von derartiger Entsittlichung sei unsere Aristokratie frei, so erinnern wir beispielshalber an jenen hochärgerlichen gräflich Hatzfeldtschen Scheidungsprozeß, der am Rheine spielte, sowie an jenen sächsischen Edelmann, der seinen Mündel, seines verstorbenen Bruders einzigen Sohn, entmannte, um sich oder seinen Kindern das Erbe des Verstümmelten zu verschaffen, in welchem Generationen gemordet wurden. Es wäre aber ungerecht, die Zerrüttung des Familienlebens, so vieler Untaten Wurzel, auf die vornehme Welt beschränken zu wollen. Zu welchen schrecklichen Konsequenzen diese Zerrüttung auch im bürgerlichen und bäuerlichen Leben führen kann, zeigt uns jene von Feuerbach beschriebene Tragödie, die in einer abgelegenen Mühle im bayerischen Franken spielte (1817-21) und deren Katastrophe der Mord eines Vaters durch seine Kinder bildete. Zur nämlichen Zeit und gleichfalls in Bayern verfolgte der Pfarrer Riembauer unter der Maske eines vom Volke hochverehrten Heiligen eine Verbrecherlaufbahn, welche nicht zu ersättigender Wollust und Habsucht die erbarmungsloseste Mordsucht gesellte, und gleichzeitig wurde in Sachsen ein protestantischer Theolog, der Pfarrer Tinius, aus Bibliomanie wiederholt zum Mörder. Die drei ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts waren überhaupt reich an merkwürdigen, zum Teil rätselhaften Kriminalfällen: wir verweisen auf den Fonk- und Hamacherschen Prozeß in Köln, auf den Mord des Schultheißen Keller in Luzern, auf das siebzehn Jahre lang unentdeckt fortgeführte wollüstig-blutgierige Treiben des »Mädchenschneiders« Bertle in Augsburg, auf die Ermordung des eigenen Kindes durch den Helfer Brehm, ebenfalls einen Heiligen, in Reutlingen, dessen Untat zu dem besten Bänkelsängerlied unserer Literatur Veranlassung gab. Den Gipfel der Entmenschung erstieg, ihre Vorgängerinnen, die Geheimrätin Ursinus und die Anna Margaretha Zwanziger weit überflügelnd, die Giftmischerin Gesina Margaretha Gottfried in Bremen, welche 1831 hingerichtet wurde. In dieser unerhörten Zusammensetzung von Eitelkeit, Lüsternheit und Heuchelei bildete sich der unheimliche Zauber, welcher im Gifte liegt, zu einer dämonischen Mordlust aus, so daß es die Verbrecherin, nachdem sie ihre Eltern, ihre Kinder, ihren Gatten und verschiedene Bräutigame durch Gift getötet hatte, gleichsam unwiderstehlich in allen Fingern juckte, das tödliche Pulver jedem zu reichen, der ihr gerade in den Weg kam. Wie mußte es in dem Gemüt eines menschlichen, eines weiblichen Wesens aussehen, das, nachdem es alle hingemordet, die durch die engsten Bande der Verwandtschaft und Freundschaft mit ihm verbunden waren, ein Vergnügen daran fand, fremde Kinder von der Straße hereinzurufen, um denselben mit Arsenik bestreute Butterbrote zu reichen! Hier ist nichts Menschliches mehr, sondern nur noch das bestialische Gelüste mächtig, welches auch einen 1841 in der Umgegend von Krailsheim in Württemberg vorgefallenen Mord charakterisiert. Die junge Frau eines alten Mannes verständigte sich mit ihrem Liebhaber, den Gatten umzubringen, was mit Beiziehung der Hebamme des Ortes in brutalster Weise ausgeführt wurde. Das Empörendste dabei war aber, daß das verbrecherische Paar unmittelbar nach dem Mord mitsammen das Lager bestieg, auf welchem der unglückliche Ehemann martervoll getötet worden war. Die ganze Scheusäligkeit mittelalterlicher Raub-, Mord- und Brandgreuel lebte noch einmal auf in den Schandtaten des Karl Friedrich Masch, welcher in dem »deutschen Musterstaat« Preußen viele Jahre lang (1856-1864) sein grauenhaftes Räuber- und Mörderleben führen konnte. Das Gräßlichste, was die wüste Phantasie eines Räuberromantikers aushecken konnte, diese Bestie von Menschen vollbrachte es. Das Greulichste ist wohl, daß der zwölffache Mörder Mädchen und Frauen eigens in der Absicht ermordete, um an den Toten seine viehische Lust zu stillen. Eine Bestialität, wie sie in diesem Frevel liegt, ein Kannibalismus, wie er auch in der Entschuldigung der alten Frau anklingt, welche i. J. 1852 zu Unterwetzikon im Kanton Zürich das neugeborene Kind ihrer Tochter erwürgte, »weil es ja nur ein ganz kleines Spätzli gewesen sei«, eine Wildheit der Genuß- und Mordwut, wie sie jenes Scheusal von noch nicht völlig sechzehn Jahren altem Buben am Jahresende von 1874 zu Mettmenstetten im Kanton Zürich losließ, indem er ein elfjähriges Kind in namenlos gewaltsamer Weise schändete, dann mordete und verstümmelte – solche Tatsachen eröffnen grauenerregende Blicke in das Volksleben und berechtigen vollauf zu der Frage, ob eine törichte Sentimentalität und falsche Philanthropie in der Anschauung und Auffassung von Verbrechen und Strafe nicht gar häufig zu beklagenswertesten Fehlgriffen sich hätte verleiten lassen. Ist es doch förmlich Mode geworden unter den Juristen, das Verbrechen nicht mit dem Maßstab des Rechtes, sondern nur mit dem der Empfindsamkeit zu messen. Diese abenteuerliche Verirrung der Humanität, dieser Humanitätsdusel hat häufig, natürlich auf Kosten der ehrlichen Leute, zur förmlichen Hätschelung von Spitzbuben und Spitzbübinnen geführt. Das grasgrüne Geschwätz unvergorener Heißsporne des Materialismus – der es ja glücklich dazu gebracht hat, durch den Mund eines Wiener Professors der Physiologie das keineswegs bloß komische, sondern vielmehr höchst gefährliche Orakel zu erteilen, der Hinterhauptlappen sei der Sitz der Moral, und so ein Mensch einen zu kurzen Hinterhauptlappen habe, so müsse er ein Verbrecher sein – ja das Geschwätz grasgrüner Materialisten, daß auch die Verbrechen nur willenlose Naturprodukte seien, hat mit dazu beigetragen, eine der Grundsäulen der Gesellschaft, die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun, zu untergraben. Verrannt, bis zum Fanatismus verrannt in ihre, obzwar in der Praxis allzeit kläglich scheiternden pseudo-philanthropischen Theorien, haben die Gegner der körperlichen Züchtigung und der Todesstrafe ganz vergessen, daß es Bestienmenschen gibt und immer geben wird, welche nichts scheuen als den Stock und nichts fürchten als den Tod. Solche Bestienmenschen zu zertreten, hat die Gesellschaft nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht. Die strenge Ärztin Not, welche die Menschen von ihren Schwarbeleien immer wieder zeitweilig kuriert, wird übrigens schon dafür sorgen, daß die albernen Sentimentalitäten aus der Strafjustiz, ohne welche kein Bestand der Gesellschaft denkbar ist, wieder weggewischt werden. Schon jetzt, inmitten der Orgien des gedanken- und urteilslosen Fortschrittsrausches, des kurzstirnigen materialistischen Fatalismus und der juristischen Feigheit, bereitet sich ein schlechterdings notwendiger Umschwung vor. Wie könnte es auch anders sein angesichts von Tatsachen, wie sie uns z. B. Haushofer in seinem Lehrbuch der Statistik (1872) also vorgelegt hat: »Die letzten Resultate der Moralstatistik zeigen trotz der Verbesserung und Verbreitung des Schulunterrichts keinen Fortschritt in moralischer Beziehung, im Gegenteil ist eine stets wachsende Zunahme von Verbrechen, Selbstmorden und Korruption zu konstatieren. Gewisse gewaltsame Verbrechen, wie der Straßenraub, müssen infolge der größeren polizeilichen Sorge für die Sicherheit der Straßen und des Verkehrs regelmäßig abnehmen; andere Verbrechen von schlimmster sittlicher Bedeutung hingegen, z. B. Morde, werden nicht seltener. Die Verbrechen gegen die Sittlichkeit sind in Frankreich, Preußen und anderen beobachteten Ländern in bemerklicher Vermehrung begriffen. Gleiches gilt von den mit Falschheit, Betrug, Hinterlist und Täuschung verbundenen sogenannten feineren Verbrechen gegen das Eigentum; teilweise auch von den aus Bosheit gegen das Eigentum begangenen Verbrechen und Vergehen, z. B. von den Brandstiftungen. Der Kindesmord wächst maßlos, die Weiberkriminalität steigt, und der Selbstmord ist gegenwärtig in Europa in regelmäßiger, die Bevölkerungsvermehrung meistens übersteigender Zunahme begriffen, und nicht bloß in Städten, sondern auch auf dem platten Lande, und zwar seit den letzten zwanzig Jahren mindestens um 2/5 in Frankreich, Belgien, England und Dänemark. Der Branntweingebrauch, der nicht nur als Ursache, sondern auch als Symptom und Folge sittlicher Verkommenheit erscheint, vermehrt sich von Jahr zu Jahr; Engel und Frantz sind der Ansicht, daß die Abnahme der Lebensdauer der preußischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhange mit der Zunahme des Alkoholgenusses stehe. Die Prostitution ist überall in einer stärkeren Zunahme begriffen als die Bevölkerung; während z. B. die Einwohnerzahl Berlins i. J. 1858-1863 nur um 20 Prozent sich vermehrte, stieg die Prostitution um 60 Prozent, demzufolge wird auch die Syphilis als Todesursache immer häufiger und ebenso ihre Verbreitung unter den Neugeborenen und ihre Erblichkeit. Die Zahl der Ehescheidungen nimmt zu, das maßlose Jagen nach Glücksgütern und Lebensgenuß vermehrt die Fälle des Größenwahnsinns.«

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Nr. 210. Wiesner, Rückkehr der Studenten von Altdorf über Nürnberg nach Erlangen am 5. März 1822.

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Nr. 211. Gruppe aus dem Bilde der Huldigung Friedrich Wilhelms IV. in Berlin. Nach dem Schwarzkunstblatte v. F. W. Schwechten; Originalgem. v. Fr. Krüger (1797-1857); Berlin, Kgl. Schloß.

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Nr. 212. Schmidt, Das schöne Bein.

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Nr. 213. Fragonard, Die Liebespost.

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Nr. 214. Baudouin, Die schlechte Hüterin.

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Nr. 215. J. F. de Troy. Psyche wird wegen der Verführung Amors durch Venus bestraft.

Ganz lächerlich würde irren, wer sich nach den marzipanenen Bauern und kandiszuckernen Arbeitern, wie sie die gangbare, gleich anderem Spielzeug für den Salonbedarf zurecht gemachte Dorf- und Werkstattnovellistik schablonenhaft verfertigt, von unserem Volke, wie es gegenwärtig ist, eine Vorstellung bilden wollte. In Wirklichkeit steckt es bis an den Hals in der Prosa des Lebens. Aber dennoch lebt auch im Volke jenes »etwas, das sterblich nicht im Menschen«, jener Funke vom Zentralsonnenfeuer, welcher mittels seines Glühens die schönsten Blüten des Fühlens, Denkens und Tuns hervortreibt. Demzufolge ließe sich den vorhin enthüllten gräßlichen Bildern aus dem Volksleben unschwer eine Reihe von solchen entgegenstellen, in welchen sich das zarteste Gefühl und die heldenmütigste Aufopferung kundgibt. Ein derartiges Bild gewährt z. B. ein trauriges Ereignis, welches am 30. September 1852 in dem Leimnitzer Eisenbergwerke unweit Hof in Bayern vorfiel. Vier Brüder arbeiteten in diesem Bergwerke. Dem ältesten von ihnen fällt ein Leuchter in einen Schacht, welcher der bösen Wetter wegen nur des Winters befahren werden kann: um ihn wieder zu erlangen, steigt er an der gerade hinabhängenden Leiter hinunter, die Stickluft raubt ihm den Atem und er stürzt in die Tiefe. Sogleich steigt der zweite Bruder hinab, um den Verunglückten zu retten, teilt aber nur dessen Los. So der dritte Bruder, so endlich alles Abratens und Beschwörens ungeachtet der vierte. Nach dem Auspumpen der Luft wurden alle vier aus dem Schachte heraufgebracht, tot, aber mit stummen Lippen ein edelstes Zeugnis für Bruderliebe ablegend.

Die große Reaktion gegen den aufklärerischen Geist des 18. Jahrhunderts hatte in Frankreich in katholisierenden Schriftstellern wie de Bonald, de Maistre und de Chateaubriand, zur nämlichen Zeit Propheten gefunden, wo sie in Deutschland die Romantiker beeinflußte. Unsere Romantik, innig verflochten mit der revolutionsfeindlichen, in der heiligen Allianz vollendeten Politik der Zeit, war einesteils aus dem Gefühl erwachsen, daß das moderne Griechentum unserer Klassik zu idealisch über der nationalen Wirklichkeit schwebte, andernteils aus der Sehnsucht des Gemütes, welche im dogmatisch verknöcherten Protestantismus keine Befriedigung fand. Sie kam aus dem deutschen Norden, fand aber im katholischen Süddeutschland ihre eigentliche Heimat, von welcher aus sie mächtig auf jenen zurückwirkte. Das deutsche Leben in der Restaurationszeit gewann einen ganz katholisch-romantischen Anstrich, und die römische Hierarchie wußte sich mittels der 1814 hinter den Kulissen des Welttheaters hervor wieder offen auf die Bühne tretenden Jesuiten abermals den weitgreifendsten Einfluß auf Deutschland zu verschaffen. Der Ultramontanismus trat, wie wir schon weiter oben zu erwähnen Veranlassung hatten, mit einer Kühnheit auf, wie sie seit lange nicht mehr erhört worden war, und Görres, der ehemalige Hanswurst des Jakobinismus, durfte von München aus einen Fanatismus predigen, über welchen sich im vorigen Jahrhundert Protestanten und Katholiken gleich sehr empört hätten. Das Tollste wagte er endlich in seiner »Christlichen Mystik« (1836 fg.), in welchem Buche unter andern mittelalterlichen Ungeheuerlichkeiten die Hexenprozesse des entschiedensten verteidigt werden und überhaupt »der absolute Unsinn seine bunteste Walpurgisnacht feiert«. Bayern, wo unter König Ludwigs Regierung wieder 132 Klöster errichtet wurden, gestattete dem Treiben der Ultramontanen einen Spielraum, wie ihn sogar Metternich in Österreich nicht einräumte, und so war es ganz in der Ordnung, daß die Zeiten Gaßners daselbst wiederkehrten und die Rolle desselben als Wundertäter durch den Fürsten Hohenlohe, Domherrn in Bamberg, wieder aufgenommen wurde. Doch geschahen auch anderwärts Wunder und Zeichen, wie an der Nonne Emmerich zu Dülmen in Westfalen, welche die Wundenmale des Herrn an ihrem Leibe reproduzierte, und an der Maria von Morl zu Kaldern in Tirol, welche von der Luft lebte. An dem armen Mädchen, welches katholische Schwärmer am Karfreitag 1817 in einem Dorfe bei Linz Gott zum Opfer schlachteten, damit es nach Christi Vorbild für seine Brüder und Schwestern stürbe, geschah freilich das Wunder der Auferstehung mitnichten.

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Nr. 216. Favretto, Der Schirmflicker.

Der Kurialismus glaubte endlich in den 30er Jahren die Zeit gekommen, wo er die jesuitisch genährte Entzweiung Deutschlands, seine altgewohnte Tendenz, mit größter Entschiedenheit verfolgen könnte. Er erhob daher die Streitfrage über die gemischten Ehen, und wir müssen es mit Beschämung gestehen, die Deutschen waren dumm und fromm genug, aus diesem Streitpunkte, über welchen ihre Väter und Großväter gelacht haben würden, eine ernsthafte Angelegenheit zu machen. Sie wurde infolge des kläglichen Zurückweichens der preußischen Regierung zugunsten Roms entschieden. Noch mehr, in diesem absurden, dem deutschen Nationalgefühle tiefe Wunden schlagenden Streite war selbst die geistige Übermacht auf Seiten der Ultramontanen. Keine der protestantischen Streitschriften konnte sich an Wucht der Dialektik mit dem Pamphlet »Athanasius« von Görres messen, welcher damals zu München auch die »Historisch-politischen Blätter« gründete, ein Hauptorgan der Römelei. Die Halbheit und Versumpfung des Luthertums ist in diesem Zusammenstoß mit dem in Charakter und Form wenigstens ganzen und konsequenten Katholizismus recht jämmerlich zum Vorschein gekommen. Wie sicher der letztere seines Sieges war und wie übermütig er seinen Triumph feierte, bewies der mit wiedererweckter Tetzelscher Ablaßkrämerei verbundene Heiligerockfetischismus, welchen der Bischof Arnoldi 1844 zu Trier auftat, zu Erbauung von Hunderttausenden, sowie das Treiben der Jesuiten in der Schweiz, welches geradezu auf Zerstörung der Eidgenossenschaft abzielte. Wenn man die Predigten der Jesuiten liest, welche damals in den sonderbündlerischen Kantonen gehalten wurden, so überkommt einen Grauen ob der schamlosen Barbarei, welche sich darin offen ans Tageslicht hervorwagte. Wir wollen den Schmutz, welchen diese Diener des Evangeliums in bezug auf die geschlechtlichen Verhältnisse mit vollen Händen um sich warfen, nicht berühren, sondern nur sagen, daß der Pater Burgstaller damals in einer zu Sursee gehaltenen Predigt Gott mit einem tollen Hunde verglich, der wütend auf die Menschen losfahren und sie beißen wollte. »Damit nun aber Gott in seiner Hundswut die frommen Bauern von Luzern und Unterwaiden nicht wirklich beschädigte, dafür seien die Geistlichen und besonders die Väter der Gesellschaft Jesu – versteht sich gegen ergiebige Erkenntlichkeit – von der heiligen Kirche als Schirmvögte aufgestellt.« Wie diese Schirmvögte hantierten, zeigten die skandalösen Abscheulichkeiten, welche der Vikar Rollfuß mit den Nonnen des Steinerberger Klosters in Schwyz und der Pfarrer Röllin mit der »Blutschwitzerin« Therese Städeli in Zug trieb.

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Nr. 217. Kaulbach, Illustration zu Goethes Reineke Fuchs.

An Macht hat der Katholizismus den Protestantismus ganz offenbar überflügelt, dagegen wetteifert dieser im Eifer für das »Reich Gottes« glücklich mit jenem. Was hierin katholischerseits der Ultramontanismus, das leistet protestantischerseits der Pietismus. Die Grundlage der pietistischen Richtung in ihren verschiedenen Verzweigungen ist unstreitig die alte molochistische Bluttheologie, zu welcher als ergänzende Seite der Kultus der Wollust hinzutritt, wie ja auch im alten Phönizien die Tempel der Aschera-Derketo neben denen des Bal-Moloch standen. Daher die dämonische Wollust und Blutgier, welche so häufig unter den »Stillen im Lande« grassiert. Im übrigen zeichnet sich ihr Glaube durch die Wiederaufnahme der totalen Verteufelung des menschlichen Bewußtseins aus, wie solche zur Zeit der Hexenprozesse florierte. Der Teufel, die gänzliche Verworfenheit der Menschennatur durch die Erbsünde, deren Fluch sogar auf die leblose Schöpfung, auf die Tier- und Pflanzenwelt, auf den Erdball selbst sich erstreckte, die Versöhnung des Menschen mit Gott durch Blut, die Erhebung der geschlechtlichen Funktionen zum gottesdienstlichen Akt, die Verdammung geselliger Freuden, fanatischer Haß gegen nicht im »Stande der Gnade sich Befindende«, Verhüllung dieses Hasses und eines maßlosen Dünkels mittels der Maske liebselig-gleisnerischer Phrasen und kopfhängerisch-augenverdrehender Mienen, die Hölle mit ihren ewigen Schwefelflammen, endlich Anschmiegung an allerhöchste Protektorate durch einen hündischen Servilismus – das sind so ungefähr die Bestandteile der Kost, welche die Apostel des Pietismus dem deutschen Volke einstreichen und welche auf Universitäten und in Schullehrerseminarien, von den übrigen Schulen gar nicht zu reden, als gesundeste und nahrhafteste Kost empfohlen wird. Im Schullehrerseminar zu Karlsruhe wurde z. B. in den 50er Jahren den Seminaristen folgende höchst sinnreiche Topographie der Hölle in die Feder diktiert: »Das Innere das Erdballs ist hohl und der Aufenthalt der Verdammten. Nun könnte aber ein Rationalist einwenden, der Durchmesser der Erde habe ja nur 1720 Meilen, und wenn, wie die Schrift lehre, nur wenige selig werden, so könnten die Verdammten unmöglich alle Platz haben. Darauf diene zur Antwort: die Seelen können ja auch ineinander drin stecken (etwa wie kleinere Schachteln in größeren) und dadurch, nach Gottes Weisheit, ihre wohlverdiente Pein unendlich vergrößern.« Ein erwecklich katholisches Gegenstück hierzu bildet eine vom 20. Januar 1866 datierte Auslassung des erzbischöflichen Sekretariats in München, welche von dem »großen Wunder« bombastisierte, »das zu Deggendorf an der Donau durch Prozessionen, Wallfahrten und Ablässe gefeiert wird, das große Wunder, durch welches Gott vor 500 Jahren daselbst das katholische Dogma von der heiligen Eucharistie in augenfälligster Weise zu dokumentieren und zu verherrlichen sich würdigte. Dieses große Wunder sind die konsekrierten Hostien, welche jüdische Wut und Verblendung in schmählichster und schrecklichster Weise mißbraucht hat, die aber bis zur Stunde noch unversehrt erhalten sind.« Zehn Jahre nach dieser amtlichen Wiederaufwärmung mittelalterlichen Köhlerglaubenkohls wurde im Juli von 1876, sage achtzehnhundertsiebzigundsechs, der Wunderschwindel von Marpingen in Szene gesetzt. Das war noch dazu ein klägliches Plagiat, die plumpe Nachäffung der Muttergottes-Erscheinungskomödie, welche französische Bonzen zuvor in Lourdes viel geschickter, dramatischer und pomphafter aufgeführt hatten. Das alte deutsche Laster, die Nachäfferei, kam hier wieder einmal recht betriebsam zum Vorschein, noch betrübsamer, als wenn unsere deutschen Frauen und Mädchen den Pariserinnen! – und was für Pariserinnen! – jeden Ungeschmack und jede Tollheit der Mode nachäffen. Weil Frankreich sein Lourdeswasser hatte und damit einen schwunghaften Handel trieb, wollte Deutschland flugs sein Marpingerwasser haben, und der Handel damit wäre nicht weniger schwunghaft geworden, so die böse preußische Polizei der geschäftlichen Ausbeutung der »Wunderquelle« im Walde von Marpingen nicht hinderlich gewesen.

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Nr. 218. Carl Spitzweg, Sonnenwendfeier.

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Nr. 219. de Baux, Berliner Typen im Mai 1848.

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Nr. 220. de Baux, Berliner Typen im Mai 1848.

Die erwähnten Erwecklichkeiten reichen aus, zu zeigen, wie Pietismus und Ultramontanismus zur Wissenschaft sich stellen und verhalten. Das Verhalten der Muckerei zur Sittlichkeit hat sich in einer Reihe der auffallendsten Beispiele dargetan, welche zeigen, daß mit Bestimmtheit behauptet werden kann, alle Konventikelei, alle Extrafrömmigkeit sei in 99 Fällen von 100 entweder verhaltene oder aber entzügelte Sinnlichkeit. Wir wollen hier nur erinnern an jenen Konventikler Schrade auf der Schwäbischen Alb, der unter der Firma des heiligen Geistes so ziemlich die ganze weibliche Bewohnerschaft seines Dorfes in seinem gottseligen Harem vereinigte; sowie an die Separatisten in der Gegend von Pforzheim und an die gleichzeitigen im Berner Gebiet, welche einem förmlichen, auf das aus Bibelstellen zusammengesetzte schandbare »Gliederbüchlein« basierten Kultus der Unzucht huldigten. Novalis hat einmal gesagt, es sei wunderbar, daß die Assoziation von Religion, Wollust und Grausamkeit die Menschen nicht längst auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz aufmerksam gemacht habe. Dieser Satz erhielt eine gräßliche Bestätigung durch die Tragödie des Pietismus, welche zu Wildisbuch im Kanton Zürich von 1819-1823 in der wohlhabenden Bauernfamilie Peter spielte. In der Heldin derselben, Margaretha Peter, fanden sich jene drei Eigenschaften in seltenem Maße vereinigt. Ihre Laufbahn endigte, nachdem sie sich durch alle Winkelzüge der Religion und der Unzucht hingeschleppt, in einer Blutlache. Die Rasende ließ sich, nachdem sie am 15. März 1823 zuerst ihre Schwester »zur Überwindung des Satans« gekreuzigt hatte, von ihren wahnwitzigen Angehörigen selber ans Kreuz schlagen. Herbeigeströmte Pietisten frohlockten in der blutüberströmten Kammer, angesichts der beiden Leichen, über das Entsetzliche. Einer rief aus: »Oh, könnte ich auch sterben wie diese Heiligen!« Ein anderer wußte nur das eine zu bedauern, daß das Opfer nicht am Karfreitage vollbracht worden sei. In dieses greuelvolle religiöse Nachtstück, in welchem sich der Pietismus zur ganzen Wildheit seines Molochismus aufbäumte, fällt nur ein Lichtstrahl, die rührende Aufopferung einer armen Schustersfrau, welche, um die Ehre ihres Mannes zu retten, das von diesem mit der heiligen Margaretha von Wildisbuch im Ehebruch erzeugte Kind für ein von ihr geborenes ausgab und als solches erzog. Harmloser wenigstens als die angeführten Muckereien und Wildisbucher Mördereien war es, wenn sich in Württemberg in dem Städtchen Kreglingen ein Bäcker, welchen die Schriften Swedenborgs verrückt gemacht, für den Weltheiland und ein hübsches Mädchen für die Jungfrau Maria hielt, oder wenn der Schäfer Frasch aus Heiningen im Filstal sich als Wunderdoktor, Geisterbanner, Seelenerlöser und Goldmacher für eine Weile die Mittel zur Lebensweise eines großen Herrn zu verschaffen wußte. Dagegen trieben es im Jahre 1865 die heiligen »Männer« zu Chemnitz in Sachsen, deren Verein ein »religiös angefaßter« Schuster namens Voigt gestiftet hatte, wieder so recht molochistisch-fromm, indem sie zwei Mütter in der Sekte beredeten, ihre kranken Kinder abzuschlachten, weil dieselben »vom Teufel besessen wären.« Natürlich fehlte es nie an Tatsachen zur Erbringung des Beweises, daß die »Alleinseligmachende« mit der »Ketzerin«, sowie umgekehrt, im Kult des heiligen Blödsinns immerdar wetteifert. Als eine der afterwitzigsten solcher Kultübungen ist aus dem Mittelalter die sogenannte »Springprozession« von Echternach herübergekommen. Nun wohl, sie wurde z. B. am 11. Juni von 1867 von nicht weniger als 15 000 Wallfahrern feierlich ausgeführt. Ja, 15 000 zweibeinige, ungefiederte Kre–aturen legten hüpfend und springend wie Känguruhs unter ungeheuren Anstrengungen eine weite Strecke zurück – »zur größeren Ehre Gottes«. In demselben Jahre 1867 ist uns aus der Steiermark von Seiten eines Mannes, dessen Glaubwürdigkeit nicht der leisesten Anzweifelung unterliegt, folgender Beitrag zur österreichischen Frömmigkeitsgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugekommen. Der Sohn eines Bauern litt an einem Beinschaden. Statt einen Arzt zu rufen, ging der Vater eine Wahrsagerin um Rat an. Die Steiermärkische Alrune tat den Ausspruch, der Junge wäre behext und würde nicht gesund werden, bevor die Hexe, deren Namen und Wohnort angegeben ward, die nötigen Heilmittel genannt hätte. Der Bauer begab sich zu der »Hexe« und erpreßte mittels brutaler Ängstigung von der Armen das Rezept eines Trankes, dessen Gebrauch aber das kranke Bein des Jungen nicht heilte. »Nun begab sich – erzählt unser Gewährsmann – der Bauer neuerdings zu der Wahrsagerin, welche ihm den Rat erteilte, Gewalt anzuwenden und zwar in folgender Weise. Er solle die Hexe an den Händen und Beinen festbinden; alsdann ein Büschel ihres Kopfhaares ausreißen, dieses in das Blut aus einer tiefen Kreuzwunde an der rechten Fußsohle getaucht und mit den Exkrementen der Gemarterten vermischt als Räucherungsmittel für den Beinschaden verwenden. Wie gesagt, so pünktlich und ernstlich getan und vollzogen, nur in betreff der Exkremente mußte sich der Peiniger mit Überresten, welche sich in einem Topfe befanden, begnügen, weil die Ärmste seinem Begehren nicht augenblicklich folgen konnte. Der Zufall wollte es, daß die Heilung des Beinschadens eintrat, nachdem die Räucherungen stattgefunden hatten. Bei der gerichtlichen Verhandlung über die Klage der durch die Schnittwunde Verkrüppelten bestand der Angeklagte und Verurteilte um desto mehr auf seinem Rechte, als die Heilung des Beinschadens eingetreten war.« Eine überreiche Fülle von ähnlichen Beiträgen zur Frömmigkeitsgeschichte von Österreich könnte selbstverständlich das »glaubenseifrige« Tirol liefern. Aber das schönste aller Tiroler Glaubenseinigkeitsstücklein ist doch, daß ein frommer Bewohner von Kurtatsch im Etschtal, der Gemeinderat Anton Sanol, im Jahre 1866 auf den sublimen Gedanken kam, die Telegraphenleitung oder, kurtatschig zu reden, der »Dellegraf« habe die Traubenkrankheit ins Land gebracht, worauf der Gute seine frommen Mitkurtatscher bewog, eine Bittschrift an die Statthalterei in Innsbruck zu richten, worin diese angegangen wurde, den »Dellegrafen entweder ganz zu beseitigen oder wenigstens unschädlich zu machen«, nämlich dadurch, daß der Übeltäter »unterirdisch in Karnickeln« angebracht würde. Die Eisenbahn galt da und dort der katholischen sowohl als der lutherischen »Volksseele« in deutschen Landen für ein offenkundiges Werk der Hölle. Das Dampfroß erschien der »mythenbildenden« Volksphantasie bald als das Leibroß des Höllenfürsten, bald als der leibhafte Luzifer selbst. Später wurde der Bismarck ein Lieblingsgegenstand volksmäßiger Mythenbildnerei. Namentlich mußte er, dem standhaften Glauben österreichischer und bayrischer Bauern und Bäuerinnen zufolge, das Zündnadelgewehr »gemacht«, d. h. mittels eines fürchterlichen Paktes vom Teufel erhandelt haben.

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Nr. 221. Isabey, Damenbildnis.

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Nr. 222. Guérin, Damenbildnis.

Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die »heilige Dummheit« in deutschen Landen keineswegs in so allgemeinem und raschem Verschwinden begriffen sei, wie die Frommen jammern. Die »Wissenschaft der Umkehr« tat und tut auch alles Mögliche, um dieses teure Besitztum zu konservieren. Von der Romantik, die ja in Dramen und Romanen den Gespensterspuk als dichterisches Grundmotiv geltend machte, zweigte sich jene afterwissenschaftliche Richtung aus, welche die nebelhaften Theorien des Somnambulismus und Magnetismus zu geisterseherischem Aberwitz zugespitzt hat, mit ihren Schlagwörtern von der »Nachtseite der Natur«, vom »Hereinragen der Geisterwelt« und anderem mystischem Unsinn unter verbuhlten Weibern und entnervten Wüstlingen Proselyten wirbt, den gesunden Menschenverstand echtromantisch als etwas »Gemeines« verpönt, mit fratzenhaften Scharteken, wie z. B. die »Seherin von Prevorst« eine ist, der Zeit ins Gesicht schlägt und der armseligsten zugleich und frechsten Gaukelei und Schwindelei mit Vergnügen Vorschub leistet. Es ist unglaublich und dennoch traurig wahr, in welcher ungeheuren Ausdehnung der Knittelreim: »Stets am besten reüssieret, wer auf die Dummheit spekulieret!« in Deutschland noch tatsächliche Geltung hat. Ist jemals ein plumperes Betrugsgaukelspiel aufgeführt worden als jenes, welches eine ganz armselige Komödiantin, die Adele Spitzeder, zu Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts in München in Szene gesetzt hat? Mit ungeheurem Erfolge, versteht sich. Denn »je dummer, desto schöner«. Der innigen Verbindung des religiösen Obskurantismus mit dem politischen Servilismus ist schon andeutungsweise gedacht worden. Wer so recht erkennen will, bis zu welcher Tiefe der Niedertracht die pietistische Sklavenhaftigkeit es gebracht hat, den verweisen wir auf die »Königsworte in Volksliedern«, welche 1847 im Verlage des Martinstiftes zu Erfurt erschienen sind. Gegenüber solcher bewußten Infamie macht der naive Unsinn, wie er, wenn wir dazu Raum hätten, knäuelweise aus dem Volksleben herauszugreifen wäre, wenigstens einen erheiternden Eindruck.

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Nr. 223. Daumier, Wir sind alle Ehrenmänner.

Wenn aber die Machenschaften der Dunkelmänner eine triumphierende Höhe erreicht haben, so erscheint immer wieder ein Tag, wo das öffentliche Gewissen gegen diesen Triumph sich empört. Das Spektakel der Wallfahrt zum heiligen Rock nach Trier rief den Deutschkatholizismus, die systematische Versumpfung der Geister durch romantische Mystik und Pietismus rief die Bewegung der Lichtfreunde und der freien Gemeinden hervor. Im Katholizismus und im Protestantismus regte sich also gleichermaßen wieder das oppositionelle Element, und ob es auch von 1850-1871 mit schnöder Gewaltsamkeit zurückgedrängt wurde, immerhin hat seine neuerwachte Regsamkeit Keime gepflanzt, die für die Zukunft nicht verloren sind. Wir täuschen uns keineswegs über den inneren Wert dieser religiösen Bewegungen: wir geben zu, daß die Veranlasser und Leiter derselben übersahen, daß bei Aufgebung der Idee des Opfers und der übrigen supranaturalistischen Beziehungen die angebliche Festhaltung des Christentums nur eine inhaltslose Fiktion sei. Aber auf der andern Seite kann man den einzelnen und noch mehr den Massen große und plötzliche Sprünge durchaus nicht zumuten, und jede Hand, welche aus dem Gewölbe des Wahns einen Stein bricht, muß uns gesegnet sein. Glänzendere Resultate erlangte die Opposition des Germanismus gegen den Romanismus in der Schweiz, welche mittels des Sonderbundskrieges von 1847 die Vertreibung der Jesuiten aus der Eidgenossenschaft durchsetzte. Nach dem traurigen Ausgange, welchen bei uns die freiheitlichen und nationalen Bestrebungen von 1848 genommen, hat sich der Obskurantismus mit verdoppeltem Eifer wieder an die Arbeit gemacht. Jesuitenmissionen durchzogen Deutschland, und der Pietismus fand durch die »innere Mission« – die äußere Mission lockt jährlich Tausende und wieder Tausende aus den Taschen des Volkes, um die »armen blinden Heiden jenseits des Weltmeeres« zu bekehren – eine methodische Förderung. Die Früchte der neuentflammten blindgläubigen Stimmung liegen auch bereits allenthalben in Haufen zutage, und die Gerichte wissen davon zu erzählen. Im Jahre 1850 wurde vor dem Stadtgerichte München der Seelenerlösungs- und Geisterbeschwörungsprozeß Lechl und Hackl verhandelt, dessen Einzelnheiten ein prächtiges Kapitel im Hexenhammer abgeben könnten. Zur nämlichen Zeit spielte vor dem Tübinger Gerichtshof der Prozeß gegen Jakob Kitterer und Genossen, wegen »gewerbsmäßigen Betriebs der Geisterbeschwörung«. Im Jahre 1852 stand vor dem Schwurgericht in Eßlingen ein Teufelsbanner, der einen Schwachkopf von Bauer behufs der Hebung eines Schatzes um 600 fl. geprellt und in seiner Rechnung auch einen Posten von 92 fl. für »die Salbe, womit der Herr Christus gesalbt worden«, aufgeführt hatte. Kurz darauf wurde von den Assisen zu Ludwigsburg ein Hauptpietist und Konventikelchef, Gottfried Weigele aus Lauffen, verurteilt, welcher seine Tochter zur Blutschande verführt und das mit derselben erzeugte Kind ermordet hatte, »auf Eingebung Gottes«, wie er vor Gericht behauptete. Im Großherzogtum Hessen wurde 1853 ein pietistischer Schulmeister entlarvt, welcher die weibliche Schuljugend seit einem Jahrzehnt unter religiösen Vorwänden zur Unzucht verführt hatte. Berlin, die »Metropole der Intelligenz«, allwo im Jahre 1868 der orthodoxe Pastor Knak begeistert predigte, der biblische Josua sei ein besserer Astronom gewesen als Kopernikus, und die Sonne wandere demnach um die stillstehende Erde herum – Berlin bleibt nie zurück, wo es sich um Muckertaten handelt. In demselben Jahre, wo sich in der Spreestadt der erwähnte Knakismus ereignete, lieferten der fromme Gymnasiallehrer und Gymnasiasten Verführer Preuß und der gleichfromme Maler und Knabenschänder Zastrow neue erweckliche Illustrationen zur Geschichte des Muckertums. Im Großherzogtum Baden erschien 1852 in einer Gegend, wo soeben die Jesuitenmission »gewirkt« hatte, die Muttergottes in Lebensgröße in einem Walde und ließ sich zur Erbauung der Gläubigen auf einer Tanne oder Lärche nieder. Man darf jedoch nicht glauben, die neueste »Erweckung« der Gemüter sei durchweg plebejischer Natur. Auch die Aristokratie ward fromm, sehr fromm, und die Gräfin Ida Hahn-Hahn, welche durch ihre schriftstellernden Bestrebungen für die Emanzipation der Frauen soviel Ärgernis gegeben hatte, wurde katholisch, machte öffentlich Reu' und Leid und stiftete ein Kloster. Tausende von »Gebildeten« holten sich bei verrückten Tischen und Klopfgeistern Orakel. Die »Wissenschaft« wollte nicht zurückbleiben in diesem frommen Gedränge, und 1852 erklärte zu Berlin ein gewisser Dr. Richter in einem »wissenschaftlichen« Vortrage, daß die Erkältung der Erdrinde unzweifelhaft von der Überhandnahme der Sünde herrührte. Mit ganz besonderer Wut geiferte und fistulierte das fromme und mittels seiner Frommheit Karriere machen wollende Gesindel gegen die Heroen unserer ruhmreichen Klassik und ihre ewigen Taten. So hat am 24. Januar 1866 im »wissenschaftlichen Verein« zu Stargard ein Gymnasialdirektor Dr. Tauscher einen »wissenschaftlichen« Vortrag gehalten, dessen Zweck der »Nachweis« war, daß Lessings »Nathan« in »wissenschaftlicher, ästhetischer und moralischer Hinsicht erbärmlich sei«.

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Nr. 224. M. von Schwind, Aus »Das Märchen von den sieben Raben«.

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Nr. 225. Etty, Die Badende.

Höchst betrübend, ob auch altherkömmlich, ist sodann mitanzusehen, mit welcher Behaglichkeit sich die Windfahne des offiziellen deutschen Gelehrtentums nach der in den allerhöchsten Regionen herrschenden Luftströmung zu richten weiß. Als im Jahre 1847 der Professor Raumer, welcher doch selbst vor dem entferntesten Verdacht revolutionärer Gesinnung hätte sicher sein sollen, in einer akademischen Rede das klassische Diktum des alten Fritz von der Tolerierung aller Religionen zitierte, richtete die Mehrheit der Berliner Akademie alsbald ein de- und wehmütiges Entschuldigungsschreiben an den König, welches selbst konservative Zeitungen als ein »kriechendes« bezeichneten und das in Wahrheit auf das lebhafteste an die Zornworte Mosers und Schlözers von der »deutschen Hundedemut« und »Staatslakaiengesinnung« erinnerte. Es schien jedoch unseren Tagen vorbehalten, diese Eigenschaften ins Ungeheuerliche zu steigern, bis zur schamlos lauten Lobpreisung der moskowitischen Knute. Als im Mai 1852 Friedrich Wilhelm IV. bei einem Bankett auf den Zaren den Toast ausbrachte: »Gott erhalte ihn (den Zaren) noch lange dem Weltteile, den er ihm zum Erbteil bestimmt hat!« veröffentlichte eine Hofzeitung sofort im Volksdialekt ein Preislied auf die Knute, in welchem die rührende Strophe vorkommt: »Tanglied een Hoch de russ'sche Knut; de Knut regiert doch wirklich gut: denn sie möckt glücklich allesamt uns' Nawerslüd im Russenland!« Das hätte sich doch wohl unsere edle Sprache nie träumen lassen, daß sie sich im Jahre 1851 zu einem Hymnus auf die Knute würde hergeben müssen.

Mit vollstem Ingrimm hat sich nach 1848 die religiöse und politische Reaktion auf das Schulwesen geworfen und unsere Schulmeister ihre 48er Träume einer Emanzipation der Schule von der Kirche schwer büßen lassen. Unsere Volksschule war seit Pestalozzi zu einem inneren Gedeihen gebracht worden, von welcher die Nachbarländer, z. B. Frankreich, noch gar keine Ahnung hatten. Der geistlose Schlendrian des Unterrichts wich allmählich überall dem in Pestalozzis Geist fortgebildeten Anschauungsunterricht, der Lautiermethode und dem lesend Schreiben- und schreibend Lesenlernen. Auch in materieller Beziehung geschah manches für die Volkserziehung, namentlich solange die Regierungen noch von der Nachwirkung des Geistes der Aufklärungsperiode bestimmt waren. Überall entstanden Seminarien zur Ausbildung von Lehrern, und fast allenthalben in Deutschland wurden Gemeindeschulen mit Schulzwang errichtet. Welche Ausdehnung das Unterrichtswesen erlangte, ersehen wir schon aus der statistischen Nachweisung, daß Preußen zu Ende des Jahres 1851 besaß 24 201 Volksschulen mit 30 864 Lehrern und 2 543 062 Schülern, 505 Bürgerschulen mit 2269 Lehrern und 69 302 Schülern, 383 Mädchenschulen mit 1918 Lehrern und 53 270 Schülerinnen, 117 Gymnasien mit 1664 Lehrern und 29 374 Schülern, 46 Lehrerseminarien mit 2411 Zöglingen, 7 Universitäten mit 4306 Studenten. In betreff der Leistungen des Volksschulwesens ist ein Blick auf die vergleichende Statistik lehrreich, da, wo diese ihre Beobachtungen über die Fertigkeiten der Rekruten im Lesen und Schreiben in den verschiedenen Ländern Europas zusammenstellt. In England waren 1864 unter 1000 Rekruten 239, die weder lesen noch schreiben konnten; in Frankreich konnten in der Zeit von 1855-1859 unter 1000 Rekruten 318 weder lesen noch schreiben. Im Jahre 1864 vermochten 27 Prozent der französischen Armee weder zu lesen noch zu schreiben. In den deutschen Bundesstaaten, inbegriffen Preußen, betrug das Verhältnis 4 Prozent; in Österreich 19; in Rußland 41, bei den regulären Truppen; in Spanien 38; in Portugal 29; in Italien 31, zu welchem unerfreulichen Ergebnis Neapel, Sizilien und die Emilia am meisten beitrugen; in Belgien 17; in Holland 8; in Dänemark 12; in Schweden 9. In der Schweiz variiert das Verhältnis sehr nach den verschiedenen Kantonen. Die bestgeschulten Soldaten stellen in der Regel die Kantone Baselstadt und Zürich; die schlechtgeschultesten Tessin, Wallis, Graubünden, Luzern und etliche Urkantone; Bern, Freiburg, Solothurn und Aargau zeigen bedeutende Vorschritte. Ein statistischer Nachweis vom Jahre 1868 meldete, daß in der österreichischen Armee, wie sie während der Jahre 1863-1866 war, von je neun Soldaten nur einer zu schreiben verstand. Am übelsten war es mit den Elementen der Bildung bei den Dragonern und Ulanen bestellt: unter jenen betrugen die schreibekundigen 2, unter diesen 1½ Prozent. Aber am allerübelsten stand es doch bei den Söhnen des Landes »hehrer Glaubenseinheit«: vom ganzen Tiroler Kaiser Jägerregiment konnten nur 46 Mann schreiben, also nicht einmal ½ Prozent. Zehn Jahre später brachte die amtliche Statistik des Deutschen Reiches Mitteilungen, welche dartaten, daß von den 143 119 im Ersatzjahr 1878/79 eingestellten, bezw. geprüften Rekruten 2574 = 1,80 Prozent weder lesen noch ihren Namen schreiben konnten. Von diesen letzteren kamen 1936 aus den östlichen Teilen des Reiches, nämlich den Provinzen Ost- und Westpreußen und Posen und aus dem Regierungsbezirk Oppeln, was mehr als 8 Prozent der Schulbildung gänzlich ermangelnde Rekruten in den dortigen Landesteilen ergab. Aus allen andern Bezirken des preußischen Staates kamen nur 332 Rekruten ohne Schulbildung = 1/3 Prozent; aus Bayern 101 = ½ Prozent; Sachsen 19 = ¼ Prozent; Württemberg 3 = 0,05 Prozent; Baden 3 = 0,06 Prozent; Elsaß-Lothringen 149 = 3 Prozent. Daraus erhellt, daß die Württemberger an Schulbildung allen anderen Deutschen vorgehen.

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Nr. 226. Kalide, Bacchantin auf dem Panther.

Preußen durfte sich seiner Mühewaltung um die Volkserziehung nicht viel mehr rühmen als das konkordatliche Österreich, welches nach der Katastrophe von 1866 redlich gemeinte Anstrengungen machte, unter der erdrückenden und erstickenden Konkordatsbleidecke hervorzukommen. Auch in Preußen hatte man vielerorten noch gar keine Ahnung, daß Volksbildung die erste und höchste Sorge der Staatsverwaltung sein soll und muß. Die in neuerer Zeit bewerkstelligten Aufbesserungen der Lehrergehalte sind kaum der Rede wert, und die Erbärmlichkeit dieser Gehalte bezeugt deutlich genug die Mißachtung der Volksschule. Noch im Jahre 1867 gab es im preußischen Staate, welcher zur gleichen Zeit sich rühmen konnte, 833, sage achthundertunddreiunddreißig Klöster zu besitzen, große Bezirke, wo eigentlich Volksschulen gar nicht existierten. So genossen im Regierungsbezirke Bromberg 32 Prozent der schulpflichtigen Kinder gar keinen Unterricht und waren im Regierungsbezirke Oppeln mehrere Hundert Dorfschulmeisterstellen unbesetzt (vgl. oben Kap. 7). Die von dem Herrn Geheimrat Stiehl entworfenen »Schulregulative« hatten Verdummung und Versklavung des Volkes zur logischen Folge, und im Sinne, d. h. im Unsinn dieser Regulative waren denn auch die Volksschullehrmittel gehalten, das »mustergültige« Flüggesche, das Münsterberger und andere Lesebücher, in denen der muckerische Ungeist seine frechsten Purzelbäume schlug. Mit derselben Schamlosigkeit drang das lutherische Bonzentum auf die Beibehaltung oder Wiedereinführung von Kirchengesangbüchern »voll alter Kernlieder«, d. h. voll von Barbarei und Unflat. Da kann es denn nicht wundernehmen, daß die krassesten Verbildungen der religiösen Idee gerade in Preußen immer wieder sich bemerkbar machen; solche Verbildungen, wie sie in der berüchtigten Haupt- und Erzmuckergeschichte, welche während der 30er Jahre in Königsberg spielte, aus dem mystischen Dunkel des »Seraphinenhains« hervor unlauter zutage getreten sind. Man täte jedoch dem Volke unrecht, falls man glaubte und glauben machen wollte, daß derlei Verirrungen des religiösen Triebes nur oder vorwiegend nur unter den Armen und Bildungslosen vorkämen. Im Gegenteil, der vornehme Müßiggang und der denkträge Reichtum gefielen und gefallen sich gar häufig in solcher »Frömmigkeit«. Die Geschichte der antiken und modernen Muckerei beweist es; auch die Geschichte der deutschen Pietisterei, von den angedeuteten Königsberger Frömmigkeiten ab bis herab zu den frommen Affenschändlichkeiten, welche im Jahre 1868 in einem Landhause bei Schaffhausen »zur größeren Ehre Gottes« in Szene gesetzt worden und welche, von Seiten der Staatsgewalt schlauerweise vertuscht, etliche Jahre darauf zu einem blutschänderischen und kindesmörderischen Greuelspiel ausgeschlagen sind, in welchem die Geschwister Albert und Ida Vanvloten die Hauptrollen tragierten. Um das Gleichgewicht herzustellen, muß gesagt werden, daß das katholische Deutschland nicht weniger Giftfrüchte »frommer« Saaten aufzuweisen hat, als das protestantische. Allen Zeitgenossen steht – beispielsweise zu reden – in schaudernder Erinnerung die Giftmordprozedur des österreichischen Grafen Gustav Chorinski (1867-1868), welcher seine Buhlerin Julie Ebergenyi abordnete, um seine rechtmäßige Ehefrau zu vergiften, und »kniend betete«, daß das Vorhaben der Giftmischerin »mit Gottes Hilfe gelingen möchte«.

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Nr. 227. Makart, Triumph der Ariadne.

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Nr. 228. A. Feuerbach, Handzeichnung.

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Nr. 229. Lempereur, Die Badenden.

Die »Wissenschaft der Umkehr«, wie sie von Stahl und Konsorten gepredigt worden, d. h. die Volksverdummungskunst, ging bekanntlich bei ihren Angriffen auf das Volksschulwesen von der Behauptung aus, daß dasselbe ihren Erzfeind, den Verstand, zu sehr oder, wie sie sich ausdrückte, »zu einseitig auf Kosten des Gemüts« entwickelte, und hat unter diesem Gesichtspunkte sogar die Fröbelschen Kindergärten da und dort geschlossen. Sie weiß recht gut, daß mit dem gemütlichen deutschen Gemüt leichter fertig zu werden ist als mit dem geschärften deutschen Verstand. Wie sie übrigens auch das wissenschaftliche Unterrichtswesen aufzufassen beliebte, bezeugt das charakteristische Kuriosum, daß in Österreich laut Verordnung des Unterrichtsministeriums vom Jahre 1852 sämtliche antike Klassiker, welche auf den Gymnasien gebraucht wurden, ausgebeint und kastriert, d. h. von allen republikanischen Stellen purifiziert werden sollten, damit »die Jugend nicht rebellisch gesinnt würde«. Die Kirche – insbesondere die katholische – ist jedoch mit dem Gemaßregel der Schule von Seiten des Staates noch keineswegs zufrieden. Sie will dieselbe wieder vollständig in ihre Gewalt bekommen und macht diese Forderung zu einem wesentlichen Teil ihrer Ansprüche auf volle Autonomie, welche das deutsche Episkopat seit 1848 mit erneuertem Machtbewußtsein und, wie das österreichische und andere neuere mit Rom vereinbarte, aber freilich bald als unhaltbar befundene Konkordate zeigten, mit glücklichstem Erfolg unausgesetzt geltend machte. Viel bescheidener trat protestantischerseits der Gustav-Adolf-Verein auf, welcher unter einem unbegreiflich schlecht gewählten Namen im Grunde nur eine neue Bestätigung der alten Wahrheit war, daß das Luthertum seine eigentliche Bestimmung darin findet, dem fürstlichen Absolutismus als Gewissenspolizei an die Hand zu gehen. Das Vereinswesen, sagen wir das hier gerade noch, ist eines der charakteristischen Zeichen der Zeit. Wir haben Vereine von allen nur denkbaren Sorten, vom Zollverein herab bis zum Sargbesorgungsverein. Dieses stets weiter greifende Prinzip der Assoziation legt ein durch keine Sophistik wegzuleugnendes Zeugnis von dem unwiderstehlichen demokratischen Zuge ab, welcher unsere Zeit beseelt, die Persönlichkeiten in den Hintergrund stellt und die Massen in Bewegung setzt. Die Rückwärtser, welche sich in den Jahren 1848-1849 zu Treubünden zusammentaten, hatten keine Ahnung davon, welche Einräumung sie durch solches Tun, gleichviel wohin es zielte, der Idee der Demokratie machten, die so selbst ihre grimmigsten Feinde an ihre Formen zu gewöhnen begann. Allerdings läuft in dem Vereinswesen viel Spielerei und selbst Schwindelei mit unter, gerade wie in der Monumentsucht, und doch müssen wir auch der letzteren, welche schon so viele deutsche Städte mit den Statuen unserer großen Männer geschmückt hat, wieder dankbar sein, weil sie ein geeignetes Mittel gefunden hat, dem Volke die Bekanntschaft mit seinen lenkenden Geistern wenigstens einigermaßen zu vermitteln. Der Gedanke der Assoziation ist in seiner gesunden Verwirklichung in Deutschland bereits ein mächtiger Motor und Faktor der Volkswirtschaft geworden, deren wissenschaftliche Pflege und Geltung Forscher und Darsteller wie Rau, Roscher, Stein und andere bedeutend vorwärts gebracht haben. Gewerbegenossenschaften, Arbeiterbildungsvereine, Volksbanken und Konsumvereine gaben der Bewegung, welche den sogenannten »vierten« Stand ergriffen hat, mehr und mehr die praktische Richtung auf erreichbare Ziele und trugen dazu bei, die Schroffheit des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat einigermaßen zu mildern. Die Zuspitzung dieses Gegensatzes zu sozialistisch-kommunistischen Anschauungen und Forderungen fand einen talentvollen Vertreter in dem Agitator Lassalle, dessen System auf die Umschaffung der Gesellschaft in eine ungeheure Staatsarbeiterkaserne hinauslief. Höchst unredlicherweise bedienten sich die herrschenden Gewalten des kommunistischen Schreckgespenstes je nach Umständen so oder anders. Mitunter stellten sie sich an, als wollten sie mit dem »roten« Unding von ferne liebäugeln, was der Bourgeoisie zeigen sollte, daß man es auch ohne sie machen könnte; dann wieder staffierte man das Phantom möglichst schreckhaft heraus, um durch den Anblick desselben die ganze Angstphilisterschaft zu desto willenlos -knechterischeren Kniebeugungen vor Thron und Altar anzueifern. Keine Frage, die furchtbare Notwendigkeit, eine Lösung der zwischen Kapital und Arbeit schwebenden Streitfrage zu versuchen, drängt und drückt auch in Deutschland näher und näher heran. Die Götterdämmerungsschlacht zwischen Kapital und Arbeit wird geschlagen werden, und höchstwahrscheinlich wird schließlich das erstere siegen und weiter herrschen, wie es in dieser oder jener Form geherrscht hat, seit die menschliche Gesellschaft existiert. Möglich auch, daß der grause Krieg nicht bis zur letzten Entscheidung ausgekämpft, sondern durch einen Waffenstillstand, einen faulen Frieden, ein Kompromiß beendigt wird, welches der Arbeit den Schein der Gleichberechtigung mit dem Gelde verleiht. Wir wollen uns jetzt noch der Obliegenheit entledigen, etliche Hauptgesichtspunkte der deutschen Kulturbestrebungen seit dem Beginne der 30er Jahre hervorzuheben. Wie müssen zu diesem Ende vor allem auf das philosophische System zurückblicken, welches Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) aufgestellt hat, als eine Zusammenfassung und Vollendung alles dessen, was bis auf ihn im Bereiche der philosophischen Spekulation angestrebt worden war. Erfüllt von dem Geiste unserer Klassik, faßte und verkündigte Hegel die Vernunft als das eigentliche Wesen des gesamten Seins. In ihr vollzieht sich die Aufhebung der Gegensätze von Geist und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, Subjektivität und Objektivität behufs ihrer Verschmelzung zum allumfassenden Sein, zum »Absoluten«, welches ist ein anfang- und endloser Prozeß, eine ewig fortschreitende, den ideellen Inhalt des Denkens in den Formen des äußerlichen Daseins verwirklichende Bewegung. In ihrer Ausführung, die an streng geschlossener Methodik, an logischer Entwicklung der Begriffe kaum ihresgleichen hat, stellt sich die Hegelsche Philosophie des absoluten Idealismus als die Systematisierung der ganzen bisherigen Geistes weit dar. Dadurch wurde sie, von einer rührigen Schule verbreitet, für das 19. Jahrhundert das, was die Kantische Philosophie für das vorige gewesen war, der Abschluß einer Kulturperiode, welcher Abschluß aber zugleich die Keime für künftige Entwicklungen enthielt. Aus dem Hegelschen System hat namentlich die historische Kritik jene Waffen geholt, welche seither in zahllosen Kämpfen gegen die Anmaßungen der Romantik erprobt wurden, und überhaupt hat die souveräne Vernunft, welche Hegel gegenüber der romantischen Willkür wieder feierlich auf den Thron erhob, der neuesten literarischen Bewegung in Deutschland jenen Kritizismus eingehaucht, welcher allseitig sich bemüht, den romantischen Spuk in sein Nichts aufzulösen. Aber selbst ein so vorragender Geist wie Hegel sollte der Tributleistung an seine Zeit nicht überhoben werden. Es macht sich in den Teilen seines Systems, welche der praktischen Seite des Lebens zugekehrt sind, die politische Atmosphäre der Restaurationsperiode drückend fühlbar, so sehr, daß man Grund hatte, Hegel als königlich preußischen Staatsphilosophen zu bezeichnen, aus dessen allbekanntem Satz: »Alles Wirkliche ist vernünftig und alles Vernünftige ist wirklich –« trotz der beschönigenden Auslegungen, welche derselbe erhielt, der deutschchinesische Absolutismus und Bureaukratismus ganz gut ihre Berechtigung herleiten konnten. In der berüchtigten ersten Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie (1821) ist sodann Hegel nicht vor der Schmach zurückgeschrocken, seinen Abfall zur Rückwärtserei der Patriotenverfolger Kamptz, Schmalz und Tzschoppe zu manifestieren, die abscheulichen Karlsbader Beschlüsse zu verteidigen und als ganz gemeiner Angeber und Polizeihetzer aufzutreten. Der Theologismus wußte bald die Zweideutigkeit des Hegeltums zu seinen Gunsten auszubeuten, machte geltend, daß Hegel das Christentum für die »absolute Religion« erklärt habe, und bestrebte sich überhaupt, das ganze System zu einem sophistischen Formalismus zu verflüchtigen. Die Mängel und Schwächen des Hegeltums hat keiner so scharf gekennzeichnet wie Arthur Schopenhauer (1788-1860), welcher eine Art Verzweiflungsphilosophie lehrte, indem er den philosophischen Gedanken zu eingestandenem Nihilismus zuspitzte und das höchste, einzige Glück in das buddhistische »Nirwana« setzte. Ihre Form angehend, verdient die Schopenhauersche Philosophie warmes Lob. Sie ist in gutem, klarem, menschlichem Deutsch vorgetragen und zeigt, daß man philosophieren könne, ohne in den barbarischen und lächerlichen Jargon der Hegelei zu verfallen, hinter dessen ungeheuerlicher Terminologie nicht selten eine ganz ordinäre Phrasenmacherei nur schlecht sich versteckte.

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Nr. 230. Raffet, Der alte Soldat.

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Nr. 231. Ludwig Richter, Federzeichnung zum Titelbild »Alte und Neue Volkslieder«.

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Nr. 232. Cabanel, Die Geburt der Venus.

Die Literatur der Restauration war zuletzt unausstehlich fade und erbärmlich geworden. Gesinnungslose Mittelmäßigkeiten erneuerten die gemeine Industrie Kotzebues und beherrschten, den schlechtesten Eigenschaften des Publikums schmeichelnd, Theater und Leihbibliotheken. Die Interessen und Schlagworte der Romantik verwitterten rasch, aber dennoch blieben in ihren Traditionen selbst solche Dichter befangen, die, wie der germanisierte Franzose Chamisso, von dem Flügelschlage des freien Zeitgeistes berührt waren. Die Poesie war eine Musenalmanache- und Taschenbücherdichterei. Große und überwältigende Leistungen fehlten gänzlich. Dagegen tauchten allmählich Erscheinungen ausweiche auch auf dem nationalliterarischen Gebiete den Übergang von der freien Wissenschaft und Kunst, dem durch unsere Klassik gelösten Problem des 18. Jahrhunderts, zum freien Staat, dem Problem der Gegenwart, vermittelten. Platen setzte, aus den Dämmerungen der Romantik zur modernen Tageshelle sich durcharbeitend, dem »romantischen Quark« die Polemik seiner Aristophanischen Komödien und der verschwommenen Widerspiegelung des absolutistischen Quietismus in die Literatur seine politische Lyrik entgegen, in welcher die idealen Freiheitsbestrebungen ein positives, strengschönes Gepräge erhielten. Ludwig Börne taute die Eisdecke der philisterhaften Resignation und Apathie, welche die »kalmierende« Staatsweisheit über Deutschland gebreitet hatte, mit der Glut seines patriotisch-republikanischen Humors auf, während Heinrich Heine in Versen und Prosa die bacchantisch-jubelnde Selbstvernichtungsfeier der Romantik veranstaltete und von seiner weltschmerzlichen Lyrik zur politischen Satire fortging, welche, mit solcher Genialität bisher noch gar nicht und nirgends gehandhabt, den Witz zu einer nationalliterarischen Macht erhob. An Börne und Heine sich lehnend, dabei von der Poesie Byrons und von der französischen Neuromantik beeinflußt, suchte das sogenannte »Junge Deutschland«, der Zeitstimmung, welche sich in die damals gang und gäben Schlagworte »Zerrissenheit« und »Weltschmerz« zusammenfassen läßt, eine produktive Seite abzugewinnen, ohne jedoch im ganzen und großen den unbehaglichen Kritizismus ausgiebig genug mit schöpferischer Tatkraft vertauschen zu können – ganz und gar wie vordem die Romantik, deren Tendenzen ja, obzwar anders gefärbt, in diesem Jungdeutschtum, dessen folgerichtigster Doktringeber Wienbarg gewesen ist, wieder häufig zum Vorschein kamen. War doch z. B. das Thema der sogenannten »Emanzipation des Fleisches«, womit neben Heine vornehmlich Laube eine Weile kokettierte, schon von den Romantikern geräuschvoll genug angeschlagen worden. Die Jungdeutschen warfen sich mit besonderem Eifer auf die Pflege der »sozialen« Novellistik, welche dann, namentlich durch Frauenhände kultiviert, einen breiten Raum in der Literatur oder wenigstens in den Leihbibliotheken überwucherte. Übrigens sind bekanntlich verschiedene Jungdeutsche, nachdem sie ein bißchen à la Heinses Ardinghello gespektakelt hatten, sehr schnell alte Hofräte geworden. Laube hat später gern gelesene historische Romane und etliche Theaterstücke geschrieben. Dauernderes hat keiner der Jungdeutschen geschaffen.

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Nr. 233. Canova, Magdalena.

Die reichste und erquicklichste Blüte hat seit dem Anfange des dritten Jahrzehnts des Jahrhunderts die deutsche Lyrik entfaltet. In den seelenvollsten Nachtigallentönen offenbarte der unvergleichliche Natursymboliker Lenau (Niembsch von Strehlenau), was in den Rätseltiefen einer echten, von den Schmerzen der Zeit übervollen Dichterseele rang und kämpfte und trauerte. Die zu Anfang der 40er Jahre immer intensiver und leidenschaftlicher gewordene Freiheitsstimmung ließ Herwegh in schwungvoll pathetische Eifer- und Zornworte ausbrechen und Hoffmann von Fallersleben in geflügelten Liedern und Liederchen neckisch singen. Die vielgestaltige Entwicklung der lyrischen Kunst, zu deren Meistern vollberechtigt Mörike sich stellt, ist überhaupt die schönste Errungenschaft unserer Nationalliteratur in den zwei letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts. In den 40er Jahren hieß die Zahl der politischen und sozialen Tendenzlyriker Legion, und es griff diese dichterische Opposition nach dem Vorgange Platens in ihren Auslassungen auch wieder zur Aristophanischen Maske. Eine andere Manifestation des Demokratismus unserer neuesten Literaturperiode war die Dorfgeschichtschreibung, welche der kränkelnden jungdeutschen Tendenznovellistik als ein gesunderes, wenn auch mitunter übertrieben gewertetes Genre entgegentrat. Berthold Auerbach steht in der reflektierenden, Jeremias Gotthelf (Bizius) in der realistischen Behandlung desselben voran; dieser hat den Naturbauer gezeichnet, jener den Kulturbauer gemalt. Aber die schönste Dorfgeschichte hat wohl Gottfried Keller gedichtet (»Romeo und Julia auf dem Dorfe«). Mit dieser Richtung auf das Volksmäßige stimmte auch das frische Wiederaufblühen der mundartlichen Dichtung in Österreich und Bayern, in Schwaben und in der Schweiz. Das Bedeutendste hat sie aber in Norddeutschland und in plattdeutscher Mundart geleistet, in der Lyrik durch Klaus Groth, in der Novellistik durch Fritz Reuter, dessen Erzählungen und Schildereien nationale Geltung verdient und gewonnen haben. An Vielseitigkeit läßt die dichterische Hervorbringung des Jahrhunderts nichts zu wünschen übrig. Aus den Dämmerungen der Romantikwieder zur Sonnenhelle des klassischen Schönheitsideals sich emporringend, schuf Grillparzer seine herrlichen Dichtungen, welche unbedingt mit zu den besten Taten der europäischen Poesie im 19. Jahrhundert gezählt werden müssen. Wie immer das Eigentümliche und Bedeutende sind die drei großen Gestalten, die wir unter den Namen Immermann, Droste-Hülshoff, Büchner kennen, nicht unter einen Schulbegriff zu bringen. Immermann als den Verfasser zweier großer Romanwerke, der bedeutendsten seit den Wahlverwandtschaften, die Droste als Lyrikerin von höchstem Range, und der jungverstorbene Büchner, dessen fragmentarisches Werk erst von einer viel späteren Generation in seiner genialen Bedeutung erkannt werden sollte. Neben ihm verblaßt die Kraftgenialität eines Grabbe, so viel wahrhaft Ursprüngliches auch zuweilen in ihm gefunden wird. Vorwegnehmend seien hier noch zwei Österreicher genannt: Adalbert Stifter, der große Prosaist, und Nestroy, der Theaterdichter und Schauspieler, dessen Witz weit tiefer angelegt ist als es oberflächlicher Betrachtung erscheint. Aber die Gesellschaft verzehrte sich in einem egoistischen Individualismus, auf welchen sie von dem Polizeistaat, dessen Wirkungen wir schon früher zeichneten, mit aller Gewalt hingewiesen wurde. Die reichste Begabung, das edelste Wollen konnte in so einem toten Staatsmechanismus keinen passenden Platz zum Wirken finden. Überall Verstimmung, Überdruß, Blasiertheit, hysterische Überreizung der Gemüter und jene krankhafte Verfeinerung der Reflexion, welche schon 1834 einer Charlotte Stieglitz den selbstmörderischen Dolch in die Hand drückte, um durch eine bizarre Aufopferung die abgespannte Dichterei ihres mittelmäßigen Gatten wieder aufzuspannen.

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Nr. 234. Courbet, Das Erwachen.

»Es muß eine neue Erfindung gemacht werden zum Heile der Menschheit, die alten sind verbraucht!« hat eine geniale Frau zu Anfang des Jahrhunderts ausgerufen. Die Erfindung ist wohl schon gemacht: es ist aber keine neue und braucht keine zu sein. Es ist der humane Gedanke, welcher unsere Klassiker beseelte und welchen die neuere Entwicklung unseres wissenschaftlichen Bewußtseins wieder aufgenommen hat. Diese Entwicklung entriß das Hegelsche System seiner Abstraktion vom Menschen, gab der Philosophie eine praktisch wirksamere Stellung und führte den Kampf gegen die Romantik in ihren religiösen, literarischen und politischen Erscheinungsformen theoretisch siegreich zu Ende. Das Hauptorgan dieses Kampfes waren die von Ruge und Echtermeyer 1838 begründeten Halleschen, nachmals Deutschen Jahrbücher, welche vom erstgenannten Publizisten bis zu ihrer gewaltsamen Unterdrückung 1843 mit rühmlicher Energie fortgeführt wurden. Aus dem Kreise der Junghegelingen – so nannte man die Vorfechter der Halleschen Jahrbücher sowie aus dem mit jenem häufig sich berührenden Kreise der historisch-kritischen, durch den trefflichen Christian Baur begründeten Tübinger Theologenschule ging eine ganze Reihe von bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen hervor. David Friedrich Strauß (»Leben Jesu« 1835) unterwarf die Urkunden des Christentums kritischen Untersuchungen, durch welche die historischen Voraussetzungen der »absoluten« Religion in Frage gestellt wurden. Ludwig Feuerbach endlich zerriß den traumseligen Schleier, mittels dessen die »spekulative Vernunft« das wahre Wesen der Religion dem gesunden Menschenverstande zu verhüllen gesucht hatte. Feuerbachs berühmtes Buch vom »Wesen des Christentums« (1841) versuchte die Auflösung der Theologie in die Anthropologie, der Metaphysik in die Realität des Lebens, des religiösen Bewußtseins in das humane. Die spiritualistische Negation der Natur und Schönheit wurde verworfen, der Mensch und seine Stellung zur Gesellschaft, mit einem Wort der Humanismus ist der Pol, um welchen sich fortan die Entwicklung der Weltgeschichte drehen wird – eine kulturhistorische Tatsache, welche der gotttrunkene Pantheist Leopold Schefer dichterisch vorgeahnt und in seinem »Laienbrevier« so liebevoll-mild verkündet hat. Wer, unbeirrt durch die momentane Färbung der Gegenwart, die Zeichen der Zeit zu deuten versteht, erkennt vielleicht, daß der Humanismus sich anschickt, eine neue Kulturphase zu begründen, in welches auch unsere Kunst, unsere Wissenschaft und Poesie zu bisher noch ungeahnter Fülle aufblühen können. Die von Findung zu Findung vorschreitende Bewegung in den Naturwissenschaften, in der Volkswirtschaftslehre, in der Geschichteforschung und in der vergleichenden Sprachkunde bietet die Garantie einer neuen Bildungsperiode.

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Nr. 235. Fragonard, Morgengebet.

Unklar freilich und unerquicklich genug ist die brodelnde Gärung der Geister und Gemüter, welche den Glauben an die Vergangenheit verloren haben, ohne des Glaubens an die Zukunft schon mit fester Zuversicht froh werden zu können. Allenthalben liegt die anerzogene, von tausend Einflüsterungen persönlicher Interessen umschmeichelte Feigheit des Willens mit der Tapferkeit des Gedankens im Streit, und die sittliche Erschlaffung begnügt sich nur gar zu gern mit Schein und Halbheit, statt energisch zum Wesen und zur Ganzheit vorzudringen. Glücklicherweise ist jedoch diese Erschlaffung nicht allgemein. Eine Nation, welche auch in unsern Tagen so makellos reine, so unbeugsam gerade Männercharaktere wie den eines Schlosser und eines Uhland aufzuweisen hatte, eine Nation, der es an den erhebendsten Beispielen von Hingebung an die Idee auch in der Gegenwart nicht fehlte, ist zur Hoffnung auf die Zukunft berechtigt. Ein Volk, welches eine solche geistige Entwickelung hinter sich hat, wie das deutsche, ein Volk, welches auf allen Gebieten mählich, aber stetig dem Zuge der menschlich-freien Zeit folgte und die erbarmungsvolle Fürsorge der Humanität nicht allein auf die Armen und Irren, sondern auch auf die Verbrecher, nicht allein auf die Kretinen, sondern auch auf die Tiere ausdehnte; ein Volk, welches durch natürliche Anlage, durch Sinnesweise und Bildung recht eigentlich zum Träger des Humanismus bestimmt ist, kann nicht einer Barbarei verfallen, wie sie patriotischer Pessimismus mitunter von außen oder von innen her drohen sieht. Ohne uns einem träumerischen Optimismus hinzugeben und uns in Illusionen zu wiegen, glauben wir doch im Rückblick auf den ganzen Gang unserer Kultur- und Sittengeschichte zuversichtlich aussprechen zu dürfen, daß Deutschland, wie es die Probleme der religiösen und ästhetischen Freiheit gelöst, auch das der politischen und sozialen lösen werde.

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Nr. 236. Le Poitevin, Eine moderne Susanna.

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Nr. 237. Desrais, Promenade auf dem Boulevard Italien

Die Gegenwart kann diese Hoffnung trüben, aber doch nicht vernichten. Der Materialismus, wie er gegenwärtig alle Lebensformen praktisch beherrscht und theoretisch nach wissenschaftlicher Gestaltung ringt, kann schwache Geister wohl blenden oder erschrecken, vermag aber starke Herzen nicht zu verwirren. Seine weltgeschichtliche Mission ist die große Nivellierungsarbeit, die endliche und völlige Austilgung des Feudalismus. Allerdings, der Materialismus dieser Tage sieht uns prosaisch, ja unheimlich genug an, und wir bestreiten nicht, daß im Altertum, wo das ganze Leben von der Idee des Staates, und im Mittelalter, wo es ebenso von der Idee der Religion durchdrungen war, die materiellen Interessen weniger herrisch in den Vordergrund traten, als dies in der modernen Welt der Fall ist, wo die Ausbildung des Individualismus das Aufgehen des einzelnen im Staat oder in der Kirche verwehrt. Allein wir glauben, daß das Vortreten der materiellen Interessen ein ganz naturgemäßes sei, und kein schlimmes, sondern im Gegenteil ein gutes Symptom, obgleich es uns in der jetzigen Übergangsperiode weit mehr seine bedrohliche als seine törichte Seite zukehrt. Wir halten dieses Vortreten für naturgemäß, weil die unermeßliche Ausdehnung der Zivilisation, eine Expansion, von welcher Altertum und Mittelalter noch gar keinen Begriff hatten, eine entsprechende Erweiterung ihrer materiellen Grundlage schlechterdings voraussetzt; wir halten es auch für ein gutes Zeichen, weil die materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, notwendig von Jahr zu Jahr, von Tag und Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die Elastizität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Gesellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine menschliche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubetätigung idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift. Die tollen Ausschreitungen von Narren des Materialismus, welche man ohne Zwangsjacken herumlaufen läßt, wird die sittliche Kraft unseres Volkes im Notfall doch wohl noch zu bändigen wissen. Wann das Ideenkapital, welches das 18. Jahrhundert uns hinterlassen hat, vollends aufgebraucht sein wird, dann werden wohl auch wieder Denker und Dichter aufstehen, welche neues schaffen. Unser Wesen ist Wandel, und wenn es allerdings, streng genommen, »nichts Neues gibt unter der Sonne«, so sehen die Wiederholungen doch immer wieder anders aus oder die sich folgenden Menschengeschlechter sehen dieselben anders an. Dies ist das Tröstliche in der an sich schrecklichen Eintönigkeit, welche die Umwälzungen der Gestirne und der Geschicke kennzeichnet.

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Nr. 238. Überraschung. Anonymer Kupferstich.

 


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