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Aufgabe und Ziel. – Germanentum und Romanismus. – Die absolutistische Staatsidee und der dritte Stand. – Reaktion des Germanismus. – Das Jahrhundert der Aufklärung. – Der »erleuchtete« Despotismus. – Das Ideal des Reinmenschlichen. – Reaktion des Romanismus. – Die Geldmacht.
Die »menschlich-freie« Zeit! Also ist der Zeitraum, von welchem auf den folgenden Blättern gehandelt werden soll, in der Einleitung zum ersten Abschnitte meines Buches charakterisiert worden. Diese Bezeichnung fordert aber sofort eine Einschränkung, denn sonst könnte und müßte sie ja ein Lächeln des Zweifels auf einsichtiger Leser Lippen rufen. Ja, es müßte als ein halb oder ganz närrischer Einfall erscheinen, von einer »menschlich-freien« Zeit zu reden, falls damit eine bereits zum Abschlusse gekommene Periode des kulturgeschichtlichen Prozesses bezeichnet werden sollte. Anders jedoch wird sich die Sache stellen, wenn ich sage, daß ich, im Gegensatze zum katholisch-romantischen Mittelalter und zur protestantisch-theologischen Signatur der Reformationsperiode, unter menschlich-freier Zeit die Epoche deutscher Bildungs- und Sittengeschichte begreife, welche mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhebt und noch jetzt in vollem Ringen begriffen ist, in einem Vorschreiten, dessen Ziel kaum erst in dämmernden Umrissen am Horizont der Gegenwart auftaucht. Eine annähernde Verwirklichung der Theorie humaner Freiheit und Selbstbestimmung der Persönlichkeit und der Gesellschaft ist dieses Ziel. Ich sage Verwirklichung, weil die humanistische Befreiung theoretisch bereits vollzogen wurde. Sie wurde es durch unsere Wissenschaft und Literatur, welche den Kampf gegen Unvernunft und Knechtschaft in allen Formen geführt hat. Die Einwürfe, welche man gegen diesen wissenschaftlichen Sieg vorgebracht hat und vorbringen mag, sind nur gehaltlose Kieselsteine, die der unhemmbare Strom der Bildung eine Strecke weit mit sich fortwälzt und dann spielend ans Ufer wirft.
Es ist eine Tatsache, daß das Prinzip der Bewegung in der modernen Welt von der germanischen Rasse ausgegangen. Die germanische Freiheit der Persönlichkeit ist seine Mutter. Sein Kampf mit dem romanischen, auf Alt-Roms absolutistische Staatsidee basierten Absolutismus in Staat und Kirche macht den eigentlichen Inhalt der modernen Geschichte aus – modern als Gegensatz zu antik genommen. Nachdem es im Mittelalter den größten Männern unserer großen Kaiserdynastien nur teilweise und zeitweilig gelungen war, den romanischen Staatsabsolutismus in Deutschland durchzuführen, erfolgte am Ausgange der genannten Periode jene Gegenwirkung der germanischen Gemeinfreiheit und des germanischen Partikularismus, welche die Einheit des Deutschen Reiches tatsächlich vernichtete. Die Form, in der diese Reaktion zur Erscheinung kam, war die fürstliche Territorialmacht, welche die gleichzeitigen Befreiungsversuche vom romanisch-kirchlichen Absolutismus vortrefflich für sich zu benutzen verstand. Die Reformation scheiterte in Deutschland gerade in ihren besten Bestrebungen, aber diese fanden in dem stammverwandten England einen Boden, der ihnen Nahrung und Gedeihen sicherte und sie so weit kräftigte, daß sie, auf die jungfräuliche Erde Amerikas verpflanzt, dort der germanischen Rasse ein ungeheures Erbteil gewannen, einen föderativ-gemeinfreien Staat gründeten.
Inzwischen hatte in Europa der Romanismus, und zwar nicht der religiöse allein, im Jesuitismus eine Wiedergeburt erlebt, die von den bedeutendsten Folgen sein mußte. Der staatliche Absolutismus, dessen mustergebende Pflanzschule seit Ludwig XI. Frankreich geworden war, verband sich aufs engste mit dem jesuitisch-restaurierten Katholizismus, welcher gegen den Protestantismus feindselig zu handeln fortfuhr, obgleich dieser, soweit er staatskirchlich war, alles mögliche tat, den Unterschied zwischen ihm und jenem bis auf unwesentliche Formen und Formeln verschwinden zu machen. Immerhin aber lagen im Protestantismus germanische Entwicklungskeime, von welchen dem romanischen Absolutismus fortwährend Gefahr drohte, und deshalb folgte der Gewalthaber, welcher den absolutistischen Romanismus in der modernen Welt zuerst vollendet in sich darstellte, Ludwig XIV., nur dem logischen Zwange seiner Staatsräson, wenn er daheim und auswärts das protestantische Element rastlos und unermüdlich befehdete. Ludwig XIV. brachte das von dem elften Ludwig begonnene und von dem Kardinal Richelieu fortgeführte Unternehmen zu Ende: er stellte auf den Trümmern des Feudalismus und der Hugenotterie seinen romanisch-absolut-autokratischen Staat hin, den Staat, welcher ob der recht- und willenlosen Masse der Untertanen – Bürger kannte er nicht – den König als einen unfehlbaren, kniefällig zu verehrenden Gott thronen ließ, den Staat, welcher in der Person des Herrschers völlig aufging – »L'état c'est moi,« wie Ludwig sagte, oder: »Wir sind Herr und König und können tun, was wir wollen,« wie Friedrich Wilhelm I. von Preußen sich äußerte.
Es war so; sie konnten in der Tat tun, was sie wollten, die Herren »von Gottes Gnaden«, für welche der Despot von Frankreich angestauntes und eifrigst nachgeahmtes Vorbild geworden. Die germanisch-ständischen Einrichtungen verschwanden allenthalben entweder ganz oder sanken zu einem zeremoniellen Possenspiel herab, und der romanische Absolutismus feierte fast überall auf dem europäischen Kontinent seinen lauten Triumph. Kaum daß da und dort in den Kantonen der schweizerischen Eidgenossenschaft oder in etwelchen Reichsstädten die germanische Gemeinfreiheit noch ein Scheinleben führte. Die Politik wurde eine dynastische Eroberungspolitik, deren Seele die Intrige war, die Rechtspflege wurde zur Kabinettsjustiz, das ganze romanisch-absolutistische System zu einer Passionszeit für die Völker, welche durch ein unerhörtes Polizeiraffinement überwacht und gequält, durch nicht minder unerhörte Finanz-Experimente ausgebeutet wurden. Aber indem der Romanismus nicht ruhen und rasten durfte, indem er, um sich zu erhalten, stets auf neue Mittel und Wege sinnen mußte, konnte er nicht chinesisch verknöchern, sondern mußte vielmehr wider seinen Willen dem Vorschritte dienstbar werden. Ja, er wurde ein wichtiges Entwicklungsmoment der europäischen Kultur, so sonderbar dies auch klingen mag. Der Feudalstaat war wesentlich ein Agrikulturstaat gewesen, allein die Hilfsmittel des letzteren genügten dem absoluten Königtum nicht mehr. Dieses wußte sich durch Hebung der industriellen und merkantilen Interessen neue Einnahmequellen zu eröffnen: Ludwig XIV. hatte nicht nur einen Louvois, sondern auch einen Colbert zum Minister. Industrie und Handel schufen allmählich jenen dritten Stand der neuen Zeit, welcher, einflußreich durch Kapitalbesitz und bald auch durch Bildung mächtig, dem Königtum gegenüber die Stelle des von diesem systematisch gedemütigten, entwürdigten und verderbten Adels einzunehmen anfing. Die absolute Macht bedurfte auch der Pracht und des Glanzes, um ihr olympisches Ansehen zu behaupten. Daher berief sie die Künste in ihren Dienst, beförderte die Vorschritte der Gewerbe und der Erfindungen und wies dem Unternehmungsgeist überall neue Bahnen und Ziele.
Bei alledem verabsäumte der Romanismus sein Hauptgeschäft, die Vernichtung des Germanismus, keineswegs. Wie noch lange nachher, war schon damals das germanisch organisierte England der schmerzende Pfahl im Fleische des kontinentalen Absolutismus. Die Stuarts waren zwar von Herzen bereit, die Freiheiten Englands an Ludwig XIV. zu verkaufen; allein die Nation erhob 1688 jene Einsprache, welche Jakob II. aus dem Lande trieb. Ein Prinz germanischen Stammes, Wilhelm von Oranien, welcher als Lenker der holländischen Republik den Germanismus schon auf dem Festlande mit Energie gegen Ludwigs Romanismus verteidigt hatte, bestieg den Thron des Inselreiches, und seine musterhafte Politik war es, welche dem romanisch-despotischen Prinzip zuerst wieder Stillstand gebot. Wilhelm ist der eigentliche Urheber jenes Systems des politischen Gleichgewichtes von Europa, über welches sein Auge, bis es sich im Tode schloß, mit nie zu täuschender Aufmerksamkeit wachte. Als unausscheidbarer Teil dieses Systems wußte das germanische Prinzip dem romanischen Achtung abzutrotzen, und bald machte sich sein Einfluß auf dem Festlande auch noch anderweitig fühlbar. Im Schutze der englischen Verfassung nämlich wuchs jener antiromanische Skeptizismus auf, jene Freidenkerschaft, welche, unter dem Namen der Deisten bekannt, die Leuchte des gesunden Menschenverstandes in die Finsternisse der Glaubenseinfalt trug. Die Freidenker argumentierten in einer Form, welche sie auch in Frankreich Anklang finden ließ. Ganz natürlich; denn die englische Literatur bewegte sich ja damals, wie die des zivilisierten Europas überhaupt, in französischen Formen. Aus den Deisten gingen in Frankreich Voltaire und die Enzyklopädisten hervor, aus diesen und jenen die deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, deren Bestrebungen durch Lessing und Kant ihre höchste Bedeutung gewannen. Der menschlich-freie Gedanke wurde die treibende Kraft der kulturgeschichtlichen Bewegung. Der moderne Humanismus, mit der Milch des klassischen Altertums großgenährt, hob seinen großen Streit gegen den Theologismus an.
Aufklärung, Erleuchtung war die Losung des Jahrhunderts. Der Despotismus selbst wurde ein erleuchteter. Friedrich der Große und Joseph II. handhabten denselben in entschieden aufklärerischem Sinne. Diesem »erleuchteten« Despotismus machte sich überall, selbst an dem in unbeschreiblichste Liederlichkeit versunkenen Hofe Ludwigs XV., die Notwendigkeit fühlbar, eine Regeneration zu versuchen. Man warf daher den heranflutenden Wogen der revolutionären Stimmung den Jesuitenorden zum Opfer hin, um sie zu besänftigen; allein den Jesuitismus selbst über Bord zu werfen, dazu konnte man sich nicht entschließen. So, in haltlosem Schwanken zwischen Altem und Neuem, kam dem gealterten Europa die frohe Botschaft der Erklärung der Menschenrechte von jenseits des Ozeans. Die Wirkung auf die öffentliche Meinung, welche bereits zu einer öffentlichen Macht herangewachsen, war unermeßlich. Die germanisch-kosmopolitische Freiheitsidee, welche in Nordamerika über den germanisch-englischen Aristokratismus hinaus den Vorschritt zur germanisch-föderalistischen Demokratie erreicht hatte, war mächtig genug, bei ihrer Zurückwendung nach Europa, die Nation zu erobern, welche bislang der Hauptträger des romanischen Absolutismus gewesen war. Daher die entschieden germanische Färbung, welche die französische Revolution in ihren Anfängen trug. Sie hielt freilich nicht lange vor. Es sollte sich bitter an Frankreich rächen, daß sein romanisch-absolutistischer Geist der Selbstbestimmung der Persönlichkeit und der damit enge zusammenhängenden Selbstbestimmung der Gemeinde keinen Raum zu freier Entfaltung gegeben hatte. Die legitime Tochter der absolutistischen Staatsidee, die Zentralisation, schied mit gewaltsamer Hast das germanische Element aus der Revolution aus. Der Konvent herrschte demnach gerade so romanisch-despotisch wie der vierzehnte Ludwig, und es war nur logisch, daß diese Despotie, welche die Individualität bloß aus dem Gesichtspunkte ihrer Brauch- und Verbrauchbarkeit für den Staat betrachtet, zu der Idee des Kommunismus vorschritt.
Deutschland hatte unterdessen seine im 16. Jahrhundert begonnene, dann aber durch den Dreißigjährigen Krieg brutal gestörte Kulturarbeit wieder aufgenommen. Ihr reformatorischer Drang hatte sich zu Luthers Zeit auf die Freiheit des Glaubens gerichtet, jetzt richtete er sich auf die Freiheit der Wissenschaft und Kunst. Es galt die Befreiung des wissenschaftlichen Denkens vom kirchlichen Dogma, es galt die Emanzipation des künstlerischen Schaffens von der romanisch-französischen Kunsttheorie. Diese Befreiung, welche dem deutschen Charakter gemäß der politischen schlechterdings vorhergehen mußte, wurde durch die philosophischen und nationalliterarischen Koryphäen unserer Klassik zuwege gebracht. Der Humanismus, die Idee des Rein-Menschlichen, die Idee der Zukunft war gefunden.
Während aber unser Land seine geistige Revolution vollendete, fiel die politische des Nachbarvolkes ihrem unausweichlichen Geschick anheim. Die demokratisch-parlamentarische Diktatur ging in die militärisch-cäsarische über. Der nivellierende und zentralisierende Gedanke des Romanismus wurde durch Napoleon noch einmal großartig verwirklicht, und mit richtigstem Instinkt erkannte und befehdete der große Schlachtenmeister das germanische England als den Erbfeind seines Werkes. Zur Zertrümmerung desselben haben Englands Eichenplanken und Englands Gold, welches den Kontinent gegen Frankreich bewaffnete, unstreitig sehr viel beigetragen. Aber Frankreichs Einfluß hörte mit dem Sturze Napoleons keineswegs auf. Der Romanismus des letzteren wurde von seinen Gegnern geradezu adoptiert, und die heilige Allianz war ein durch und durch romanisches Institut, zustandegekommen und geleitet durch den moskowitisch-byzantinischen Zarismus, welcher damit die Lenkung der rückwärtsigen Politik des europäischen Festlandes förmlich zur Hand nahm. Es begann eine Zeit, an deren Eingang charakteristisch genug das päpstliche Breve steht, welches den Jesuitenorden, dessen Wirksamkeit übrigens niemals aufgehört hatte, feierlich wieder herstellte, eine Zeit der absolutistischen Romantik, von der unsere deutschen Romantiker hoffen konnten und wirklich alles Ernstes hofften, daß sie uns geraden Weges in das römisch-katholische Mittelalter zurückführen müßte.
Allein die romantischen Politiker übersahen, daß seit dem 17. Jahrhundert neben der fürstlichen und der geistlichen Gewalt eine dritte, die Geldmacht, herangewachsen, welcher mit dem Zurückgehen ins Mittelalter keineswegs gedient war. Die Plutokratie mußte in einer Zeit, wo die Staaten von Anleihen lebten, außerordentliche Vorschritte machen. Sie verlangte jetzt nicht einen bestimmten, nein, den bestimmenden oder wenigstens mitbestimmenden Anteil am Staatsregiment und wußte dieses Verlangen mittels aus England herübergeholter konstitutioneller Formen in Frankreich durchzusetzen. Die Julirevolution von 1830 gab ihr den Sieg, der ihr auch außerhalb Frankreichs so ziemlich überall tatsächlich zugestanden werden mußte, und sie schloß nun um den Preis des Löwenanteils an der gemeinschaftlichen Beute mit Thron, Altar und Kanzleitisch, mit den Dynastien, mit der Geistlichkeit und der Bureaukratie ein Kompromiß, welches sich stark genug erwies, nicht allein die sozialistischen Theorien, sondern auch gerechtesten Forderungen der Völker als eitle Träumereien abzuweisen oder wenigstens auf ein Minimum der Erfüllung zurückzuführen. Das Geld ist in Wahrheit der große Alleinherrscher unserer Zeit. Die revolutionären Bewegungen von 1848, in welcher Form immer sie zum Vorschein kamen, waren ein verzweifelter Anlauf, die Macht dieses Tyrannen zu brechen, welcher als Ausbeuter und Verbraucher der Individuen die neueste Fleischwerdung des Romanismus darstellt. Die Geldmacht ist aber ihrem Wesen nach mehr nur scheinbar als wirklich stabil. Sie drängt ja unausgesetzt auf die materielle Entwicklung hin, und es ist Torheit, zu glauben, daß diese die ideelle ausschließe. So muß, wie das absolute Königtum es mußte, auch die absolute Geldmacht dem geschichtlichen Vorschritte der Gesellschaft dienen, erfüllend das tiefsinnige Wort des großen Dichters: – »For nought so vile that on the earth doth live, but to earth some special good doth give!«