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Da ich die Geschichte der Kultur und Sitte meines Landes zu erzählen anhebe, bemerke ich zuvörderst, daß meine Untersuchung und Darstellung von den dermaligen staatlichen Grenzen desselben nicht beschränkt werden darf. Die Kulturgeschichte einer Nation ist in keiner Weise von den willkürlichen Bestimmungen diplomatischer Kongresse abhängig. Ich habe demnach nur die natürlichen und sprachlichen Marken zu beachten und verstehe unter Deutschland das ganze in Mitteleuropa gelagerte Ländergebiet, welches deutsch ist in Denkart, Sprache, Bildung und Brauch. Das Land zwischen dem Deutschen, dem Baltischen und dem Adriatischen Meere, zwischen den Karpathen und den Vogesen, zwischen den polnischen Wäldern und den holländischen Marschen, zwischen den Berner Alpen und den jütischen Heiden – dieses Deutschland ist der Schauplatz meiner Erzählung.
Fassen wir also zunächst das Land ins Auge, welches den Gegenstand unserer kultur- und sittengeschichtlichen Berichterstattung ausmacht. Denn kein Wissender wird bestreiten wollen, daß die natürliche Beschaffenheit des Landes die Zustände, die Sitten und den Charakter der Leute urmächtig bedingt und bestimmt. Die Bodengestaltung ist eine der bedeutendsten und unveränderlichsten Ursachen der geschichtlichen Entwicklung einer Nation, und mit Fug durfte ein geologischer Forscher sagen, daß eine Menge von Wurzeln des menschlichen und staatlichen Lebens tief in das Innere der Erde hinabreiche.
Nun aber hat die Natur unser Land weder allzu üppig noch allzu kärglich bedacht. Wenn sie uns mit den melancholischen Nebeln, dem Schnee und Frost eines langen Winters nicht verschonte, so gab sie uns dagegen auch einen blütenreichen Frühling, früchtereifende Sommerwärme und eine klare, milde Herbstsonne. Der Übergang der kalten Jahreszeit in die warme und dieser in jene ist in der Regel kein schroffer, sondern ein stufenweises Vor- und Rückschreiten. Einige ganz unfruchtbare Striche abgerechnet, leistet der Boden für die Mühewaltung seiner Bebauer mehr oder minder dankbaren Ersatz. Auf unübersehbaren Flächen wogen goldene Ährenfelder im Winde, in fetten Niederungen gedeihen Futterkräuter in Fülle, Wälder von Obstbäumen wechseln mit wohlgepflegten Gemüsegärten, und an den sonnigen Halden klimmt die Rebe empor, welche besonders im Rhein-, Mosel-, Main- und Neckargau edle Ausbeute gewährt. Auch der unterirdische Reichtum unseres Bodens ist nicht klein. Lager von Torf und von Steinkohlen kommen einem der wichtigsten Bedürfnisse des Menschen entgegen, Gesundbrunnen treiben ihre gesegneten Strahlen aus der Tiefe hervor, und reiche Erzgänge öffnen ihre Metallschätze dem Bergmann. Noch ist der Edelhirsch und das schlanke Reh in unsern Forsten nicht ausgestorben, wenn auch Ur, Bär, Elen und Wolf der Kultur weichen mußten. Zahllose Herden füllen unsere Weiden, und in Flüssen und Seen wimmelt der Fische schuppige Brut. Und nicht nur das Notwendige gewährt uns die Natur; sie hat auch, dem regen Naturgefühl unseres Volkes entsprechend, für Schönheit und Schmuck gesorgt. Deutschland mit seinen Bergen und Wäldern, mit seinen Tälern und Strömen ist ein schönes Stück Erde. Die mannigfaltigen Formen seiner Oberfläche verleihen ihm jene landschaftliche Abwechslung, die für das Auge so wohltuend ist. Von den höchsten Alpengipfeln im Süden an stuft sich das Land durch Hochebenen und Bergketten mittlerer und niederer Art mählich bis zu den Marschen der nördlichen Küstengegenden ab. Wenn die Schweiz, Tirol und Steiermark die großartige Schönheit der Hochalpennatur besitzen, so erfreuen sich die Nord- und Ostseeländer der Poesie des Meeres. Schwaben ist seines Schwarzwaldes schattiger Waldheimeligkeit, der Rheingau seiner romantischen Herrlichkeit, Thüringen des idyllischen Friedens seiner Auen froh. Die Heiden Westfalens stimmen den Wanderer zu sinnender Betrachtung, die Bergquellen des Harzes plaudern ihm uralte Sagen vor, auf Helgoland und Rügen weitet ihm Seehauch die Brust, und die gewaltige Donau führt ihn auf ihrem Laufe, entlang das fruchtbare Bayern und ins fröhliche Österreich hinein, durch ein farbensattes Gemälde voll Reiz und Wechsel der Szenen.
Was immer die Natur geboten, wurde von den Bewohnern Deutschlands emsig und dankbar benutzt. In der Landwirtschaft steht kein Land dem unsrigen voran, und nur wenige stehen mit ihm auf gleicher Stufe. Unserer Bauerschaft unermüdlichem Fleiß und entsagungsvoller Wirtlichkeit ist die Umwandlung der germanischen Urwaldwildnis zu einem der bevölkertsten und ertragfähigsten Länder der Erde hauptsächlich zuzuschreiben. Sobald der Vorschritt der Geschichte die Begründung und Entwicklung des Bürgertums ermöglichte, sehen wir es mit Kraft und Strebsamkeit die Wege der Industrie wandeln und mit preiswürdiger Kühnheit die Bahnen des Handels sich eröffnen. Dieses Bürgertums Ruhm und Stolz sind die deutschen Städte, wie sie sich inmitten einer zahllosen Menge wohnlicher Dörfer zu Tausenden erheben, geschmückt mit Domen, Hallen und Palästen, angefüllt mit allem, was dem Leben höheren Reiz verleiht und feinere Genüsse sichert. Nicht allein die Natur, sondern auch die Kultur hat Deutschland zu einem schönen Lande gemacht, und die Schöpfungen der letzteren sind wohl geeignet, auch schwarzsichtige Zweifler mit Zukunftsvertrauen zu erfüllen.
Unser Land besitzt ein Klima, welches geeignet ist, die Bevölkerung vor des Nordens Erstarrung wie vor des Südens Erschlaffung gleichermaßen zu bewahren. Auch zeigt in der Tat die Gemütsart unseres Volkes das Fernsein der Extreme und im ganzen eine glückliche Mischung von skandinavischer Kraft und romanischer Regsamkeit auf. Um aber gerecht zu sein, darf hierbei nicht verschwiegen werden, daß die deutsche Art vielfach einerseits in norddeutsch zähes Phlegma, andererseits in süddeutsch unbeholfene Viereckigkeit ausartet. Diese Eigenheiten können den an unserem Volke nur allzuoft wahrnehmbaren Mangel an Elastizität und Initiative zwar erklären, aber nicht entschuldigen. Brütendes Phlegma und schneckenhäusliche Philisterei sind rechte Todsünden deutscher Nation geworden, und wie häufig und verderblich die wesentlich deutschen Tugenden der Beharrung und der Treue in die Laster des Schlendrians und der Knechtseligkeit umschlugen, beweist nur allzusehr der ganze Verlauf unserer Geschichte. In nicht minder niederschlagender Weise läßt er uns erkennen, daß der deutsche Gedanke in hagestolzer Bequemlichkeit leider allzu häufig versäumt habe, mit der gesunden Volkskraft zur Ehe zu schreiten, um seine schönste Tochter, die Tat, zu zeugen. Berauscht von dem Zauber der Idee, haben wir zu oft und zu gerne vergessen, was wir der Wirklichkeit schulden, und diese hat dann ihre Vernachlässigung bitter genug an uns gerächt. Uns ist selten gelungen, Theorie und Praxis in harmonische Wechselwirkung zu setzen, und darum haben andere von den Blüten unseres Geistes so häufig die Früchte geerntet. Aber was wir aus allen unseren trüben Erfahrungen, aus allen unseren Mißgeschicken, Demütigungen und Schmerzen uns gerettet, ist der Glaube an das Ideal. Dieser Glaube ist der Grundton unserer Geschichte.
Die große Vielartigkeit des inneren Baues, wie der äußeren Gestaltung des Bodens von Deutschland läßt die Vielartigkeit der deutschen Volksstämme als von der Natur gesetzt ansehen. Unser Land hatte, wie bis zur neuesten Zeit, keinen staatlichen Mittelpunkt, keine eigentliche Hauptstadt, so auch keinen einförmigen Typus in Auffassung und Führung des Lebens. Welche außerordentliche Mannigfaltigkeit der deutschen Bevölkerungen in Gewohnheiten und Bräuchen, in Behausung und Tracht, im Betrieb der Landwirtschaft und der Industrie! Welcher Wechsel des landschaftlichen Charakters und der atmosphärischen Verhältnisse von den Gletscherhöhen der Alpen bis hinab zu den Niederungen der Oder, Elbe und Weser oder vom Rheintal bis hinüber zu den Blachfeldern Schlesiens! Was für Unterschiede der Bevölkerung im Schauen, Denken und Sprechen stoßen dem Beobachter auf, wenn er den Lauf des Rheins von den Rhätischen Alpen bis nach Holland oder den der Donau vom Schwarzwalde bis zur ungarischen Grenze begleitet! Wie fremdartig muß der Märker dem Schwaben, der Schweizer dem Holsten, der Rheinländer dem Ostpreußen, der Tiroler dem Friesen vorkommen! Deutscher Art vortretender Zug, die Hochhaltung und Geltendmachung der Persönlichkeit, vom individuellen zum Stammcharakter erweitert – dieser Zug vor allen anderen hat uns verhindert, eine ganz gleichartige Nation, ein stramm in sich geschlossener Volkskörper zu werden. Beklagen mochte diesen Umstand der Patriot, welcher seinem Volke den gebührenden Platz unter den Völkern Europas eingeräumt sehen wollte: der Kulturhistoriker seinerseits darf aber nicht übersehen, daß aus den vielgliederigen Stammesbesonderheiten eine Fülle von Bildungsstrahlen hervorgebrochen ist, daß der Hang zur freien Selbstbestimmung in allen Verhältnissen der materiellen und geistigen Arbeit eine Menge von Zuflüssen zugeführt, daß das deutsche Aufsichstehen der einzelnen wie der Stammespersönlichkeit dem deutschen Genius seine Selbständigkeit, der deutschen Sittlichkeit ihre Tiefe und Frische gesichert und endlich unter den einzelnen Stämmen jenen regen Wetteifer des Schaffens begründet hat, dessen Resultate dann doch wieder dem nationalen Ganzen zugute gekommen sind. Die deutsche Art beseelt doch alle die einzelnen Stämme, und ihre Krone ist die Einheit im Reiche des deutschen Geistes. Diese Einheit, in jahrhundertelangen tapferen und schmerzlichen Kämpfen errungen, zu bewahren, sie gegen alle Bedrohung sicherzustellen, sie mehr und mehr dem ganzen Volke zum Bewußtsein zu bringen, das zunächst ist die Aufgabe der Gegenwart. Von ihrer gewissenhaften Erfüllung wird es abhängen, daß die jetzt endlich auf dem Wege zu ihrer Verwirklichung begriffene deutsche Zukunftshoffnung einer staatlichen Einheit zur vollen Tatsache werde.
Man hat die deutsche Natur in Beziehung auf Gestaltung des Bodens, landschaftlichen Charakter und atmosphärische Verhältnisse nicht mit Unrecht eine knorrige genannt. Auch unser Volk hat in seiner Erscheinung etwas Knorriges, Eckiges. Es fehlt im Ausdruck der Züge das südliche Feuer, in Bewegung und Gebärde die französische Raschheit und Geschmeidigkeit. Hellenische Schönheit des Profils gehört zu den seltensten Ausnahmen. Wenn aber auch in den unteren Ständen der Arbeit Mühsal und der Entbehrung Druck, in den oberen verkehrte Erziehung und das Affentum der Mode die natürliche Anlage zur körperlichen Schönheit vielfach arg verkümmern, so ist darum unser Volk doch kein unschönes. Denn wie in Wahrheit nicht die Eiche, sondern vielmehr die Linde der deutsche Lieblingsbaum von jeher gewesen – unsere Dichtung vom Minnegesang bis zu den jüngsten Volksliedern herab beweist dies –, so ist im deutschen Gesichte neben dem Schroffen und Harten auch wieder viel Lindes und Weiches. Das vorschlagend blonde oder bräunliche, schlicht anliegende Haar, die Weiße der Haut, das zarte Wangenrot, des Auges heller Blick, die meist hohe und gewölbte Stirne, bezeichnet mit dem Stempel der Intelligenz – das alles mildert und veredelt das Derbe, Eckige und Rauhe der deutschen Gesichtsbildung. Der ganze Typus in Zügen und Haltung trägt den Charakter der deutschen Innerlichkeit, des deutschen Insichgesammeltseins, nicht minder aber auch der deutschen Unschlüssigkeit und der kritischen Zweifelei.
Und wie im deutschen Gesichte die realen Schatten neben den idealen Lichtern stehen, so auch im moralischen Wesen unseres Volkes. Es ist echt deutsch, wenn Goethe seinen Faust klagen läßt: » Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!« Die Vielseitigkeit der deutschen Art hat vielfachen Zwiespalt im Gefolge und bringt eine Menge von Widersprüchen in unseren Charakter. Es scheint, als wollte der deutsche Genius einen festen Charakterstempel gar nicht dulden, als gehörte Schwanken und Zerfahrenheit mit zu unserem eigensten Wesen. Wir sind keine in sich geschlossene einförmige Nation, wir haben auch keinen ein für allemal fertigen Nationalcharakter. Das Franzosentum kann unter die Schablone gebracht werden, das Deutschtum niemals. Dagegen fällt bei unserem Volke der Mangel eines Vorzugs auf, dessen die Franzosen und noch mehr die Italiener sich erfreuen: der Mangel an Schönheitsinstinkt und künstlerischem Formgefühl. Dieser Mangel, welcher die Massen zu den Schöpfungen unserer Poesie und Kunst nur eine spärliche oder gar keine Beziehung gewinnen ließ, hat auch in die deutsche Politik leidig genug herübergewirkt.
Wir haben es schon gesagt: Idealismus ist die deutsche Grundstimmung. Aus ihr entspringt die unvergleichliche Kühnheit des deutschen Gedankens, die deutsche Begeisterung für das Edle, Schöne, Große, aus ihr entspringt auch jene weltweite Kosmopolitik, die uns hochherzigste Teilnahme und Gerechtigkeit gegen andere Völker lehrt. Vergegenwärtige dir nur den deutschen Idealismus in seinen höchsten Aufschwüngen, in Poesie, Philosophie, Freiheitsbegeisterung, Rechtsgefühl und Weltbürgertum, und dann stelle daneben die deutsche Spießbürgerphilisterei, deren blödes Auge über den Gesichtskreis des Kirchturmes ihres Krähwinkels nicht hinaussieht, nicht hinaussehen will: welch ein Gegensatz! Ist nicht die deutsche Heimseligkeit hold und schön? Aber dicht neben dieser poesiegetränkten Blume des deutschen Gemütes wuchert das giftige Unkraut des Partikularismus, wuchern alle die Schmarotzerpflanzen, alle die Lächerlichkeiten und Laster der Kleinstaaterei. Der sehnsüchtige Zug nach der Fremde, wieviele Bildungskeime trägt er in sich, und doch auch zugleich wieviele Keime des Verderbens, in seiner Ausartung zur äffischen Nachahmungssucht und zur Verachtung des Eigenen und Heimischen! Gar zu gern erfreut sich der Deutsche der »Freiheit in dem Reich der Träume« und ist daneben in der Wirklichkeit nur allzuoft ein zahmster und, ach! ein bewußt Unfreier, ein Knecht mit Methode. Wie rührend ist die deutsche Pietät, aber wie leicht auch schlägt sie in servile Gewöhnung um! Auch die Tugend der freien Selbstbestimmung hat ihre Kehrseite, eigensinnige Verhärtung von Kopf und Herz und jene »Politik des einzelnen«, welche das eigene Ich zum Mittelpunkte der Welt macht und auf gemeinste Selbstsucht hinausläuft. Die deutsche Familienhaftigkeit, wie ist sie preiswürdig in ihrer Reinheit und Innigkeit! Aber wie oft erstickt in der Familienhaftigkeit das Bürgergefühl, der Sinn für Gemeinde- und Staatsleben! Und was die Wirtshausbummelei betrifft, wie sie namentlich in Süddeutschland und in der Schweiz grassiert, so ist sie nicht nur ein volkswirtschaftliches Übel, sondern auch darum zu verdammen, weil sie die urteilslose Menge unschwer dazu verführt und daran gewöhnt, großmäuligen Phrasenschwatz für Politik und Patriotismus zu halten. Mannhaftigkeit, Tapferkeit hat den Deutschen noch niemand abgesprochen. Auf tausend Schlachtfeldern haben sie ihren Mut erprobt. Aber ist es nicht eine traurige Wahrheit, daß die Deutschen ihr Blut so häufig für fremde Zwecke vergossen haben? Wenn die Treue im Privatleben auch jetzt noch eine nicht seltene deutsche Tugend ist, wie oft wurde diese Tugend im öffentlichen Leben zu einem Märchen! Schön bewährt sich die sittliche Kraft unseres Volkes in Arbeit und Ausdauer, in entsagungsvollem Ringen mit der Not des Lebens. Aber zuweilen auch bricht aus der maßvollen deutschen Natur in stoßweisen Entladungen eine berserkerhaft sinnlose Lust an Schlägerei und Zerstörung, das Erbteil waldursprünglicher Wildheit. Und hart daneben steht wieder die sinnigste Gemütlichkeit, das mitleidvolle Erbarmen, die vorsorgliche Teilnahme für das Unglück, für den Fremden, für das Tier, für die Träger des Lasters und Verbrechens sogar. Endlich berühren sich im deutschen Volkscharakter auch die Gegensätze des Ernstes und der Heiterkeit. Vorwiegend ist der Deutsche ernst, oft verschlossen, nicht selten ängstlich und schwermütig. Und doch, wie kann er offen, mitteilsam, keck, fröhlich, lustig sein! Seine verständnisvolle Freude an der Natur teilt der Deutsche mit allen Sprößlingen der germanischen Völkerfamilie.
Wo viel Licht, da ist auch viel Schatten. Nur törichte Volksschmeichler mögen den Deutschen weismachen wollen, unser Volkstum sei ein Inbegriff aller Tugenden. Wer offenen Auges und Ohres unter den Klassen, welche man vorzugsweise das Volk zu nennen pflegt, gelebt hat, wird, was ältere Idylliker und neuere Dorfnovellisten von der Wahrhaftigkeit und Gutmütigkeit, von der Redlichkeit, Treue und Ehrsamkeit des Volkes zu singen und zu sagen wissen, nur mit etwelchem Spottlächeln anhören. Schöne und schönste Blüten des deutschen Geistes, edle und edelste Früchte der deutschen Sitte sprossen und reifen nur im Umkreise der deutschen Bildung. Was deutsche Volksroheit und Massengemeinheit vor der englischen oder französischen, italischen oder russischen voraushaben sollte, vermag nur Unverstand oder Selbstbetrug anzugeben. Wenn, wie in unseren Tagen häufig geschieht, in deutschen Landen grüne Phantasten oder berechnende Pöbelschranzen das »Volk« als das »immer gutmütige und großherzige« lobpreisen und beschmeicheln, so wird der denkende und erfahrene Mann diese Faselei als das werten, was sie ist.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen beginne ich sofort meine Erzählung. Möge das bisher Gesagte dartun, daß sie, wenn auch fest in dem Gefühle des Vaterlandes wurzelnd, dennoch eine unbefangene sein wird.
Die Übersichtlichkeit des Ganzen zu erleichtern, bequeme ich mich der herkömmlichen Einteilung der deutschen Geschichte in drei Zeiträume: Mittelalter, Reformationszeit, Neue Zeit. Die erste Periode charakterisiere ich näher als die katholisch-romantische, die zweite als die protestantisch-theologische, die dritte als die menschlich-freie Zeit. Die Darstellung der Vorzeit, welche ich selbstverständlich da beginne, wo von historisch bezeugten Zuständen die Rede sein kann – die Stein-, Bronze- und Pfahlbauerzeit gehört nicht der Geschichte, sondern der Altertumskunde an –, die Darstellung der Vorzeit möchte ich als die in möglichst verjüngtem Maßstab aufgeführte Vorhalle meines kultur- und sittengeschichtlichen Bauwerkes angesehen wissen. Indem ich den Leser zum Eintritt lade, sei mir der Wunsch gestattet, daß er darin vaterländischen Sinn und geschichtliche Treue nicht vermissen möge. Ich werde viel Schmerzliches, Demütigendes und Furchtbares, aber auch viel Tröstliches, Erhebendes und Ruhmreiches zu berichten haben. Jenes wie dieses soll seinen vollen und rückhaltslosen Ausdruck finden. Denn ich diene ja nicht unter der Modefahne jener Golem-Historia, welche die Pfaffen der Erfolgreligion aufgerichtet und »wissenschaftlich« zugestutzt und aufgeflittert haben, um diese schamlose Buhlerin des Despotismus an die Stelle der keuschen und strengen Weltrichterin zu schmuggeln. Auf hofhistoriographischen und hofphilisophasterschen Kathedern verkündigt und von Feuilletonschwätzern, deren Wissen noch kleiner als ihr Gewissen, ausgeposaunt, stellt sich diese modernste »Geschichtewissenschaft« mit breiter Unverschämtheit auf den Satz, das ethische Moment im weltgeschichtlichen Prozesse sei nur eine lächerliche Illusion; Recht oder Unrecht gäbe es in diesem Prozesse so wenig wie in der Bewegung der physischen Welt, und gerade wie in dieser käme und ginge alles, wie es kommen und gehen müßte. Die Evolutionen und Revolutionen in der moralischen Welt vollzögen sich nach so unveränderlichen Gesetzen wie der Auf- und Niedergang der Gestirne. Folglich sei es »unwissenschaftlich«, von historischen Tugenden und Lastern, Verdiensten und Verbrechen zu sprechen, weil als einziger Maßstab der Erfolg oder Nichterfolg zulässig, und demnach sei die Weltgeschichte keineswegs das »Weltgericht«, wie ein gewisser Schiller in seiner »Unwissenschaftlichkeit« gemeint habe, sondern sie sei vielmehr nur eine Registratur. Die Aktenstöße dieser Registratur aber hätten die Bestimmung, für Hofhistoriographen, Hofphilosophaster, Kronsyndici und Feuilletonschwätzer das nötige Material zu liefern, wann dieselben, entweder »in höherem Auftrag« oder aus Antrieb der eigenen Jämmerlichkeit, beweisen wollten, daß »alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig« und demnach die brutale Tatsache der Macht allzeit die »in die sinnliche Erscheinung getretene« Idee des Rechtes sei.
Damit wäre denn jener Stein des Anstoßes für das mehrbezeichnete geschichtefärbende und geschichtefälschende Gesinde glücklich aus der Weltgeschichte hinweggetan: die Verantwortlichkeit. Denn woher noch sollte diese kommen, und wie sollte sie irgend statthaben können, wenn die Feinde des Menschengeschlechtes aus und mit derselben Notwendigkeit frevelten, womit die Gestirne auf- und niedergehen?
Diese logische Schlußfolgerung aus der Voraussetzung einer einseitig und roh materialistischen Weltanschauung würde die Gesellschaft schließlich wieder in die Bestialität zurückwerfen, aus welcher sie sich mittels einer harten Kulturarbeit von Jahrtausenden allmählich emporgerungen hat. Wem solche Wiedervertierung als Endziel der Menschheit gefällt, mag an die »Geschichtephilosophie« der Materialisten glauben und, wie es ja dieser Glaube verlangt, in stupidem Fatalismus die Hände in den Schoß legen. Wir anderen wollen, ein jeder an seiner Stelle und nach Maßgabe seiner Kraft, weiterarbeiten an dem großen Werke der Vermenschlichung unseres Geschlechts – weiterarbeiten selbst dann, wann wir zum Pessimismus uns bekennen, d. h. zu der Überzeugung, daß dereinst ein Tag kommen muß und wird, wo die Tragikomödie des Menschendaseins »wie ein leeres Schaugepränge erblaßt« und die tote Erde nur noch als Planetgespenst im unendlichen Raume kreist, ohne daß zuvor die große Rätselfrage nach dem Warum? und Wozu? des menschlichen Trauerlustspiels beantwortet worden wäre. Wir wissen, wie die Rolle des einzelnen Menschen, so wird auch die Rolle der Menschheit selbst einmal ausgespielt sein, ohne daß wir oder unsere Nachfahren bis ans Ende der Tage die Motive und den Endzweck des Spieles erfahren. Aber wir ergeben uns darum doch nicht einer aus der traurigen Botschaft des Materialismus mit Naturnotwendigkeit resultierenden Blasiertheit, und wäre es auch nur darum nicht, weil wir fühlen und sehen, daß der Mensch und die Menschheit nicht allein vom Brote, sondern auch von Illusionen lebt. Diese, d. h. die Ideale sind der armen Menschheit unbedingt nötig, wenn sie ihre Rolle in dem tragikomischen Drama ihres Daseins mit Anstand, mit einiger Würde durchführen soll.
Die Blasiertheit verneint diese Frage, der Pessimismus bejaht sie. Ganz natürlich! Denn Pessimismus ist höchstes Schönheitsgefühl, Blasiertheit tiefste Gleichgültigkeit. Der Pessimist legt den Maßstab des sittlichen Ideals an die Erscheinungen der Welt und muß die Überzeugung von der Nichtigkeit derselben gewinnen, weil die Wirklichkeit nicht nur den Ideen des Guten, Wahren, Schönen nirgends ganz entspricht, sondern auch denselben häufig geradezu widerspricht. Die Blasiertheit dagegen will von Idealen gar nichts wissen. Sie hebt mit selbstsüchtiger Genußgier an und hört mit dem Ekel der Ohnmacht auf. Der Pessimist ist »von der Menschheit ganzem Jammer angefaßt«, der Blasierte nur von dem eigenen Katzenjammer. Der Blasierte ist faul, der Pessimist tätig; jener feig, dieser tapfer. Nichts kann dem Pessimisten verächtlicher sein als die gefrorene Gleichgültigkeit des Blasierten; denn der Pessimismus ist ganz wesentlich Gefühl und Leidenschaft, heißer Wunsch und Wille, das Elend des Daseins zu mildern und die Schäden der Gesellschaft zu bessern. Er weiß sehr wohl, daß all sein Bemühen, das Weltweh aufzuheben, in letzter Linie eitel ist; aber darum läßt er doch nicht ab von seinen Lebens- und Leidensbrüdern. Mit Ernst, Eifer und Enthusiasmus arbeitet er, das Rätsel des Daseins seinen Mitmenschen wenigstens leichter und erträglicher zu machen, und wenn er bei seiner durchaus selbstlosen Arbeit mehr nur negativ-kritisch als positiv-schaffend zu verfahren vermag, so ist zu beherzigen, daß es immerhin auch kein kleines Verdienst ist, die Lüge und den Unsinn immer und überall zu verneinen und mittels Zerstörung aller Dummheitsschranken und aller Götzentempel für die Entwicklung freien Raum und offene Bahn zu schaffen.
In diesem – falls das Wort gestattet ist – sittlich-pessimistischen Sinne habe ich mein Buch zu schreiben mich bemüht.