Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechszehntes Capitel.
Trauer und Freude.


An der anfang- und endelosen Welt hieß der Tag, zur Erkennung und Wiedererkennung – wie ein Hirt seine Schafe zeichnet und zählt – und somit auch war den Menschen der Tag wirklich: der 27. August; ein sogenannter Mondtag, ja sogar »Mariä Himmelfahrt«; indeß kein Orangenbaum, kein Sperling auf dem Dache, keine Glocke, ja alle Thürme und Kirchen das Geringste davon wußten oder nur ahnten, sondern in der Sonne standen, hallten, blühten, schrien und flogen im ewigen Leben. Und der deutsche Kinderkreuzzug war »vorgestern«, den 25. August, an einem sogenannten Sabbath, in Genua eingezogen. Ogerii annales Genuenses.

Raimund ging mit seinem treuen Diener nach der schönen Straße Balbi, nach dem Palast seines reichen Handelsfreundes Vivaldi, welchen er auch seinem Freunde Savern zum Ort des Wiederfindens empfohlen hatte. Unterwegs sah er nur einige abgerissene blasse Kreuzzugsknaben an den Thüren betteln; auch Frauenspersonen – Frauenzimmer war zu nobel für sie gesagt. Sie sangen deutsche Lieder, die ihm hier in der Fremde vor Unglück um Brot gesungen – die Seele zerschnitten. Er schämte sich zu fragen, sie anzureden. »Hier muß was vorgegangen sein!« sprach sein leiblicher Geist.

Er ward wohl aufgenommen und prachtvoll logirt und bewirthet, denn der Handelsfreund war ihm schuldig! Raimund frug geschwind, ob nicht sein Freund, er heiße Savern, aus Aegypten angekommen sei, wolle Gott mit einem Frauenzimmer? oder, wollte Gott nicht: allein, und ob er gleich wieder weiter gereist?

Aber er hörte ein besorgliches Nein; daß aber zwei Schiffe in Pisa dieser Tage angekommen aus dem Morgenlande. Dagegen führte ihn sein Handelsfreund in den geräumigen Hof, und in einen Schuppen mit allerhand Kisten und Tonnen. Mitten darin stand eine gichtbrüchige Karrete, die ein Spötter einen Hundestall auf vier Rädern genannt haben würde. Und wirklich lag ein Hund darin, und wie die Vögel zum Schlafen oder zum Sterben, den Schnabel unter den Flügel gesteckt, so lag er zusammengerollt, die Schnauze unter das Hinterbein. Raimund schlug die Hände zusammen, und rief: Phylax! Phylax!

Phylax richtete den Kopf in die Höhe.

Raimund streichelte ihn, und der Hund leckte ihm die Hand; aber abgehungert und elend, konnte er nicht mehr aufstehen, und man sah nur, daß er mit dem Schwanze wedeln wollte. Raimund, vor Wehmuth außer sich, sprach mit tonloser Stimme: Nun, mein Phylax, erzähle mir Alles aufrichtig; denn es ist vor deinem Tode!

Und nun ließ er den Hund sprechen, und hörte andächtig den Worten zu:

Ja, ja, mein lieber Herr Raimund, lebt wohl! Ich, ich muß nun hier in der Fremde sterben, geschieden von meiner Heerde, die ich nie mehr wiedersehe auf Erden, und im Himmel erst recht gewiß nicht, wenn Schafe nicht auferstehen. Aber wir waren doch hier Schafe und Hunde, und gute! Grüßt mir meine Frau Diane auf ewig, und unsere sieben Kinder, besonders das jüngste, den geborenen Stutz; das wird ein Hund, so gut wie ich! Ich muß mir meine Leichenrede nur selbst halten! Nun sterbt Ihr auch einmal wohl! Einmal ist genug!

Darauf bellte Phylax wirklich selbst noch einmal, aber mit allen Kräften nur schwach.

Seine Wirthsleute mit ihren Kindern, Knaben und Mädchen, umstanden ihn, und die Knaben ergriffen einen Wagbalken, den verhexten Hund zu erschlagen. Aber Raimund wehrte ihnen und sprach: O, das ist noch gar nichts! Wie prophezeieten da erst andere Menschenkinder jetzt bei uns und überall. Es ist einmal eine Wunderzeit! Uebrigens ist das Erschlagen eines Todten beinahe überflüssig, sowie die todten Juden zu taufen – denn Phylax ist todt.

Er legte ihn sich zu Füßen, schob seine vor Schwachheit nicht angerührte Speise, eine Salamiwurst, beiseite, und setzte sich selbst in den Wagen, hielt auch dem todten Wagen die Leichenrede, und sprach:

Wie es von allen alten Thronen aller alten Könige, Pharaonen und Kaiser der Erde nicht Einen mehr gibt, sondern zuletzt bis auf den letzten vermorschten sie alle zerhackt und verbrannt worden, so steht nun hier todtenmüde im Gerümpelschuppen die ebenso heilige Karrete des Nikolas, in Grund und Boden zerfahren und zerrädert, mit ihrem in Fetzen herumhängenden Baldachin. Er war auch einmal in dem »1212« gescholtenen Jahre eine flüchtige, nichtige Erscheinung von Holz gewesen, wie Sesostris' von Königen gezogenes Fuhrwerk.

Er saß darauf ganz still. Die Thränen drangen ihm in die Augen, indem er an seine liebe Irmengard dachte; aber er getraute sich nicht nach ihr zu fragen, da er sich scheute, das Erbärmlichste, ihn Erbarmendste zu hören, am liebsten noch ihren Tod. Aber seine Wirthsleute, der Mann, die Frau und die Knaben umstanden ihn, und erzählten ihm den Aufruhr in ihrer Stadt diese drei Tage her abwechselnd in den Wagen hinein. Und die bewegte Frau sprach zuerst:

Was wir diese drei Tage her ausgestanden, das kommt in unsere Chronik! Schon lange summte es aus den Alpen: »ein unwiderstehlicher Kreuzzug kommt!« Dann war er über den Gotthard! ... Als er in Mailand sein sollte, ward unsern Herren Angst; sie schickten Boten über Boten; denn Niemand glaubte es, und der Schrecken habe sie nur Geister, und die Geister als Kinder sehen lassen! Aber unsere Waffenröcke besetzten dennoch die Mauern, und die Landthore wurden verrammelt. Unsere Herren hatten Ursache, sich vor den Deutschen zu fürchten. Denn wir hatten es mit demPapst gegen den Kaiser Otto gehalten, und die Rache dafür konnte zugleich durch den einen Kreuzzug mit abgethan werden, wie in Konstantinopel; denn so ein Herr hat ein Gedächtniß für Jeden, der nur ein unangenehmes Wort gesprochen oder nur eine Faust in und mit dem Schubsacke gegen ihn aufgehoben. Gott bewahre! Aber was war es? Wer kam?

Ja, Mutter, erzählte ein Knabe darein, wir liefen auf die Thürme und sahen auf der Höhe, ganz nahe über der Stadt, ein Heer Kinder, Kinder alle auf den Knien vor Freude weinend und Danklieder singend, daß sie das Meer erblickten, das uns nur ein silbernes Waschbecken ist. Unser Rath bekam da Muth, lachte und stieg selbst hinauf zur Höhe, und einige haben die Kinder befühlt und endlich geglaubt, daß es wirkliche natürliche Kinder wären, nur verhungert, zerlumpt, als wenn alle armen Deutschen ihre Bettelkinder in die Fremde gejagt.

Ja, sprach der Hausherr, so zogen sie dann mit Erlaubniß der Barmherzigkeit zum Thore hinein, füllten die Straßen und Märkte und setzten sich; denn sie konnten nicht mehr auf den Beinen stehen. Und, du lieber Gott, da ließ der Herr Petrus über sie regnen – daß sie aus guten Gründen aufstehen mußten.

Ich hätte lieber Manna über sie regnen lassen, sprach eines der Mädchen, und die Sonne über sie scheinen, so warm, so warm!

Du gutes Kind, sprach der Vater, sie an sich ziehend. Aber wir weisen Herren waren gnädig, sie in die Häuser einzuquartieren, damit sie sich einmal nach lange wieder satt äßen mit warmen Speisen. Das war vorgestern, Sonnabend, aber am andern Tage mußten sie gleich weiter ins Feld rücken, als gestern, Sonntag. Und was konnten die armen Kinder anders, als gehorchen, weinen und betteln. Sie betteln zwar nur deutsch – aber wer versteht denn nicht: Lumpen, blasse magere Gesichter, tiefliegende Augen, und Blicke daraus, die Einem das Herz im Leibe schmelzen. Wie froh wurden da unsere guten Kinder und Weiber durch Geben und danken Hören! Ganz Genua war ein » Ora pro nobis« und ein » Benedictus qui venit in nomine domini!« Aber fort mußten die Kinder! und sie fielen auf die Knie, als unsere Herren durch Herolde mit Trompeten ihnen das verkündigen lassen mußten. Desgleichen Ogerii annales etc.

Und da begab sich ein Schauderhaftes, so eine Art Heiliges, schaltete die Mutter ein. Nämlich die Kinder liefen ans Meer, und wie Moses an den Felsen geschlagen, damit Wasser herauskäme, so schlugen sie mit ihrem Pilgerstabe auf das Meer, damit es verschwinden, vor ihnen zurückweichen sollte, um trocken hindurchgehen zu können. Und wahrhaftig: das Meer wälzte sich zurück! Wir hörten das unermeßliche Freudengeschrei in der ganzen Stadt bis in die Keller. Aber was war es: es war nur die Ebbe gewesen! Und als sie bezaubert die Stunden daran gesessen, als die Flut zurückrauschte, und die Wellen ihnen die Füße bespülten, sie gehoben und fortgeschwemmt hatte, da sie wie verzweifelt, bis unter die Arme umwogt, drin sitzen geblieben und gesungen und endlich unermeßlich geweint, wie unermeßlich betrogen – o weh doch, so ein Jammergeschrei wünsch' ich mir nicht mehr zu hören! Und sie mußten sich dazu bereiten, zu Lande weiter zu ziehen in die Ferne, durch Rom, bis nach Brindisi, oder nach Pisa, wo zwei große Schiffe bereit lagen, sie nach Joppe umsonst und wohlversorgt überzuführen. – Was essen nicht schon die Kinder in einem Hause! Und wir mußten in Genua eine Hungersnoth befürchten, denn es war schon jetzt kein Bissen Brot mehr in der Stadt. Da entschlossen sich Hunderte von Kindern, nach Hause, in die Heimat, in das wahre Gelobte Land zu pilgern, mit einem neuen, ihnen aus dem Herzen gequollenen Liede: »Fahre wohl, du Friedensstadt! Wir sind Welt und Alles satt!« Da wurden nun, wie auf einem Sklavenmarkt, Knaben, besonders Hirtenknaben, auf die Meiereien um die Stadt herum gemiethet, denn ein Schaf ist überall ein Schaf und ein Mensch ein Mensch. Andere wurden von Handwerkern aufgenommen, die Kranken zur Pflege guten Leuten übergeben, die von selbst sich willig dazu erboten. Das Kinderheer war entsetzlich geschmolzen, da unzählige verhungert und umgekommen waren, krank auf dem Wege zurückgeblieben, einsam verkommen und am Heimweh gestorben. Andere schöne, feine, treuherzige Edelknaben wurden sogar in vornehmen, aber söhnelosen, ja in den höchsten Familien an Kindesstatt aufgenommen. Petri Bizari Senat. Popul. Gen. Histor. Und so mußten denn die andern gesunden Kinder, nach dem reichlichen einen Sonntagsmittagsessen, alle wieder nothdürftig ausgeflickt und bekleidet, von unsern guten Genuesenkindern weit hinaus auf die Straße nach Pisa begleitet, wieder hinaus in die Welt auf die Eroberung des Gelobten Landes – mit neuen Pilgerhüten und Taschen voll Orangen!

Als Raimund so viel, für ihn wie nichts erfahren, da er über Irmengard nichts erfahren, sprangen die Kinder vor das Thorweg auf die Straße hinaus, wo indeß schellende Kameele gehalten, von denen schon zwei Männer abgestiegen und der eine schon in den Hof kam, der Niemand anders war als Savern.

Raimund erkannte ihn gleich, und hing noch an seinem Halse, als zwei von ihren Kameelen abgestiegene Türkinnen in das Haus geschlüpft vor dem neugierigen Volke, und in den Hof sich gleichsam retteten. Sie waren Beide in weiten gelbseidenen langen Hosen, mit Gürteln gegürtet, in gelben Pantoffeln, Beide in prächtigen Turbanen, die Stirn und den Mund mit kostbaren Tüchern verbunden, das Gesicht weiß verschleiert. Die weiten Mäntel mit viereckigen Kragen hatten sie draußen gelassen, und Raimund's Wirthsleute schienen erstaunt, als die eine Türkin den Raimund umschlang und im Schleier ihn küßte, als habe er im Morgenlande eine Freundin gehabt, die ihn aufsuche. Aber die Verschleierte weinte nicht allein vor Freuden, sondern sie lachte auch dazu. Raimund erkannte daran Gaiette und rief: Nun Gott sei gedankt! Du bist wieder da! Und meine Irmengard wird auch noch kommen.

Die Hausfrau führte die neuen weiblichen Gäste in ihre besten obern Zimmer. Raimund ließ abpacken und unter andern Sachen eine nur kleine, geschnitzte und blumenbemalte Kiste zu den Frauen hinauftragen. Dann ging er mit seinem Freunde Savern in sein eigenes Zimmer nach. Da warf er sich auf einen Divan; Savern ging vor ihm auf und ab und erzählte ihm Alles kurz, aber aus dem Kern, und sprach:

Ich bin glücklich in Aegypten, an seiner flachen weißsandigen Küste angekommen. Zu unserm Glück war der vielbeweinte Statthalter Maschemuch gestorben, was auch im Morgenlande, ja im Gelobten Lande, in Jerusalem, Bethlehem, und darum von jeher nirgend etwas Unerhörtes gewesen, noch jetzt sein soll! Ich habe den Leichenzug mit den vielen heulenden, weinenden Weibern gehört und gesehen, und seinen Sohn gesehen, dem als Sohn, wie jedem Sohne, des Vaters Harem heilig ist, ausgenommen dem Absalon damals auf dem Dache des Palastes David. Durch Vermittelung seines aufgesuchten und gefundenen, und wohlbeschenkten und bestochenen schwarzen Haremswächters konnte ich meine ausgemerzte Schwester desto eher für ihr doppeltes Kaufgeld, und ohne die leichte Gaiette opfern zu müssen, wiederkaufen, besonders da meine arme Schwester die ganze Zeit bei seinem Vater vor Traurigkeit, Kummer und Schmerz über ihren verlorenen, soi-disant ermordeten Gatten zum Schatten geworden, krank gelegen, und elend, blaß und mager ihm keinen Blick, kein Schnupftuch abgewonnen. Sie ward mir in meine Wohnung getreulich zurückgeführt, ja »mit Bürgschaft«, die mich doch erfreute, sodaß ich dem schwarzen Gebieter dafür einen Ring zu meinem Andenken verehrte. Das Wiedersehen mit meiner erlösten Isidore war herzentzückend und seelezerreißend. Sie lag ohnmächtig in meinen Armen und doch wankend zum Umfallen, und die schwarzen Hände des Mohren hielten sie mir mitleidig.

Während dieser Verhandlung habe ich mit meinen Augen die schönen französischen Knaben und Mädchen überall in der Stadt und auf den Märkten zum Verkauf ausstehen sehen, die der christliche Seeräuber Ferreus in den fünf großen Schiffen von Marseille glücklich geraubt und davongebracht. Und ich habe mir einen, einen jungen vornehmen Knaben aus Avignon, eines Geistlichen Sohn, für deren Mutter im Hause er die darauf gelegte Haushälterinsteuer bezahlt, zu Zeugen meiner Aussage daheim losgekauft, und einen schwarzen Knaben dazu, als sachverständigen Fütterer und Führer meiner Kameele. Die andern, hier und in Bugia unverkauften, prächtigen und noch beherzten lustigen Knaben – die vor Uebermenge bis zum Preise eines fetten Schöpses gefallen waren – sind für den Khalifen von Bagdad an Wiederverkäufer an den Küsten von Kleinasien ausgeladen worden.

Ach, aber nun kommt das Gefährliche! das auch mir Entsetzliche! Ich hatte meinem Diener und dem Mohrensklaven – den ich schändlicherweise gekauft, aber keinen Aeltern entführte – den Auftrag gegeben, uns Alle zur Fahrt nach dem Abendlande, nach Genua, auf dem nächsten dahin abgehenden Schiffe einzukaufen, ohne zu handeln; denn es griff hier nach uns Allen. Meine Schwester sehnte sich, jetzt vor Hoffnung weinend, nach Vater und Mutter, nach der Heimat am schönen Genfersee! Die Diener hatten das besorgt. – Wir steigen zu Abend ein. Die Frauen verbergen sich unten. – Früh gehe ich auf dem Verdeck umher, um von der wundervollen, unvergleichlichen gelben und grünen Morgenröthe und von der Sonne Aegyptens, der alten Jungfer mit ihrer Lampe, und Sklavin des Landes, Abschied zu nehmen – wer steht da, hinaus nach Abend gewandt? – der Goldlockenkopf! meiner Schwester angeblich ermordeter Mann! Und wer ist der Herr des Schiffes? Wie mir der fränkische Knabe ins Ohr zischelt: dort der Mann am Steuerruder, das ist der Ferreus! ... Wollen wir über Bord springen? oder soll ich ihm, wenn er sich über Bord lehnt, die Füße aufheben und ihn ins Meer stürzen?

Ich faßte mich und war gefaßt auf ein Aeußerstes; denn meine Schwester, die er elend gemacht und die ihn, als angeblich Beklagenswerthen, noch liebte, sie saß in Frieden unten. Die Lage war selten und schändlich, wie je eine von Menschen auf Erden.

Wie ich und der Goldlockenkopf gegeneinander gehend auf uns treffen, bleiben wir Beide wie angewurzelt voreinander stehen. Er legt die Hand an sein Messer im Gürtel. Ich, ich hatte mir gelobt, ihm den Kopf abzuhauen, und sei's am Altare! ... Aber ich legte ihm meine Hand auf die Schulter; denn er sah erbarmenswerth blaß und krank aus, weil er es war, und seine Augen ruhten gelassen auf mir, so, als wenn Ich und Er Beide keine Menschen mehr wären. O Mitleid! o Unglück! Aber gar erst du, du Mitleid der Unglücklichen mit den Unglücklichen! – Er fürchtete seinen Verrath durch mich nicht mehr.

So weit hatte Savern mir erzählt, als im Nebenzimmer der Frauen ein entsetzlicher Gall geschah. Denn wirklich, es war eine Herzensthat. Wir eilen herum. – Da hat meine Schwester die kleine Kiste aufgemacht, den vom Rumpfe gehauenen Lockenkopf ihres geliebten Mannes gesehen, an den Locken herausgerissen, und hält ihn hoch, wie allen Heiligen hin. Sie zittert und bebt, ihre Zähne klappern. Und ich springe sie zu umfassen, zu halten.

Endlich lange athmend fragt sie: Wer hat das gethan?

Und ich sage ihr, wie man solche Worte nur sagen kann: Ich, ich hab' es gethan! Ich, für dich! Höre und begreife: Du hast deinen armen Mann beweint, edel! Nun beweine dafür deinen Räuber, deinen Verkäufer, und du bist nebenbei blos die Dritte oder Vierte! Das stärke dich! Wenn nicht heute, doch morgen, oder zu Jahre – wenn der Verstand und der Haß die Liebe besiegt hat. Oder, sollte dein Bruder dich nicht nach Hause holen, da er wußte: du seist, für ein liebendes treues Weib, in der Hölle eines Harems?

Sie faltete die Hände und sank zu Boden, und Gaiette biß die Zähne zusammen und stand ihr bei mit schamvoll geschlossenen Augen, aber ihre Wangen glühten, sie küßte Savern die Hände und aller Uebermuth war ihr verstoben.

Aber um auf das Schiff zurückzukehren, erzählte Savern weiter: Der Goldlockenkopf mußte zu Bett gebracht werden, denn er bekam die Blattern und lag von seiner – Frau nur durch eine Bretwand geschieden, die seine gestöhnten Worte sogar hörte, aber nicht verstand. Er lag auf Bunden mit Straußfedern und Säcken voll Datteln, womit das Schiff beladen war.

Vor seinem Tod – denn auf den Kauffahrteischiffen sind nur die alten Matrosen die verwegensten Doctoren, die mit den unsinnigsten Mitteln curiren, die sie meist bedauern – nicht zu haben, – ließ mich der Sterbende holen, sah mich weichmüthig an, übergab mir einen Beutel voll Gold und bat mich, ja, er befahl mir, den Schatz seinen armen, fast verhungernden Aeltern in Konstantinopel zu schicken, deren Wohnung, Namen und hohen Stand er mir nannte. Ihnen zu Liebe habe er alles ihm Mögliche gethan, wie blind und herzlos gegen die ganze Welt. Er segnete mich mit den erschrecklichen herzdurchdringenden Worten: Behüte Euch Gott Euer Vaterland – das mir und uns die Römlinge genommen – denn ein Mensch ohne Vaterland ist wie welt-vogelfrei und zu allen Thaten fähig. Das merkt und sagt überall. Ihr habt es erfahren, und beruhigt damit meine Frau – Eure Schwester, die Schweizerin, ja! Da wird sie mich redlich beweinen, wie zuvor ihren – ermordeten Mann. Ich habe Euch Alles gestanden – nun ist mir wohl. Viel seien Eurer Jahre (πολλα τα ετιασας) und griff sich dabei in der Todesangst in seine viel tausend Haare.

Also, was war das Leid Alles gewesen? – Kindesliebe! Kindesliebe! also gewiß zu guten Aeltern. Welch ein Blick in die Welt und die Herzen aller Menschen! Ich lächelte mild zum Weltgericht. Als er gestorben war, und bald darauf schon im bloßen Hemd auf sein Leichenbret gebunden lag, um ins Meer für die Fische begraben zu werden, und auf seiner prächtigen Brust die darein gestochene und mit blau und rother Farbe eingeriebene Panagia erschien, und der Wind seine Locken hob, fiel mir mein Schwur ein, ihm das Haupt abzuhauen – aber der Schwur erlosch in Wehmuth. Aber Porcus gab mir ein Beil in die Hand und rieth mir: nehmt Euch ein Andenken mit! und ich nahm mir das Andenken! ... Es geschah ganz kurz vorher, ehe Porcus angebliche Erde aus dem Gelobten Lande – auf der Ziegeninsel, der Capraja – für den großen Campo santo in Pisa betrüglich einladen ließ. Aber »der gemachte Mann« sagte: Ihre Todten werden schon gut daraus aufgehen; sie streuen die Erde schon gläubig auf Brot und essen sie zu Buße.

So ward denn der ältern- und vaterlandsliebende Goldlockenkopfleib versenkt, den einzusegnen kein Geistlicher vorhanden war, und so erlaubte sich der alles für Scherz haltende Porcus mit einigen Seemannsflüchen ihn einzusegnen zu seiner Ruhe.

Die rührende Folge der Hauptserfindung aber war, daß Savern und seine Schwester noch Schmuck und Gold reichlich zulegten zu dem von Raimund noch strotzendvoll gefüllten Beutel, und ihn dem Hauswirth übergaben, um ihn durch ein sicheres genuesisches Haus an die Erben des Erblassers in Konstantinopel zu übermachen.

Savern hatte in Pisa, das viele hundert Kameele züchtete, sich sechs gekauft zur Landreise nach Genua. Diese theilten sie jetzt. Die Geschwister zogen mit dem Franzosenknaben nach Genf; Raimund und Gaiette aber nach Hause. Sie freute sich, als armes christliches Dienstmädchen geschieden, nun als Türkin auf einem läutenden Kameele, von einem Mohrenknaben geführt, in dem lieben Köln, unter dem Schleier lachend und weinend, doch seelenfroh einzuziehen – und jetzt sogleich ... dann den ganzen Winter und Zeit ihres Lebens vollauf zu erzählen zu haben.



 << zurück weiter >>