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Als sie nun hinaustraten, mußten sie vor Ueberraschung stehen bleiben und hören. Ein dumpfes Getrampel ließ sich vernehmen, ein dumpfes Gerufe, ein Gesumm und Gesaus und Gebraus; viel tausend Stimmen durch- und ineinander, aber alle als ein einziger Hall, wie von gedämpften Instrumenten, ein kicherndes Lachen von Fröhlichen, die sich den Mund zuhalten.
Das sind Masken! sprach Raimund zu seinem Begleiter; das hört sich an wie ein verschlossener Hühnerstall. Das erinnert uns, in einem Laden auch Masken vor unser Gesicht zu kaufen.
Sie drehten und wandten sich langsam durch das fröhliche Volk, fanden bald einen Laden, bemasketen sich und gackerten sich auch einen Augenblick an, von der Lachkrankheit angesteckt, wie der Doctor sagte, und um sich an ihren ganz anders klingenden Stimmen wiederum zu erkennen. In einem Spezereiladen kaufte er dann zu der morgen des Tages gleich vorzunehmenden Cur ein kleines Paket von seinem Hauptmittel, der Basis, das er zu sich steckte, und einen halben Centner »Adjuvans«, das er bezahlte und versprach, Morgens Sonntags früh gleich abholen zu lassen. Er kaufte zur Verwunderung so viel, weil viel tausend Patienten waren, von denen er sich zahlreiche Kunden versprechen durfte.
Wieder auf der Gasse, hörten sie in der Ferne mit Erstaunen die Glocken auf den Thürmen schlagen, aber ohne Maß und Takt, wie von mächtigen Schmiedehämmern oder Posseckeln, ... die Glocken schlugen nicht, sondern sie wurden geschlagen – zerschlagen. Näher hinzugeeilt, hörten sie an der nächsten Kirche die hohen Fenster mit Steinen einwerfen, mit Pfeilen und Bolzen von Armbrüsten und Rüstungen einschießen, daß sie droben gellten und die zerschmetterten Scheiben drunten auf den Steinen zerklirrten; und nach jeder solchen Salve scholl ein Gesammtlaut auf, wieder wie aus einem ungeheuer großen Hühnerstall, was deutlich anzeigte, die dumpfen greulichen Schreier schrien und lachten und krähten aus Masken.
Das ist Meute! Das ist nicht Lust, das ist Schadenfreude! sagten die Freunde zueinander. »Das sind die furchtbaren Wollenweber!« sagte eine Stimme eines Vorüber- und zu dem Aufruhr Eilenden.
Ein anderer kam, schon weislich entflohen, von dem gefährlichen Orte zurück, und sagte zu den furchtsam und müßig Dastehenden: Sie sind mit Waffen maskirt; Helme quirlen sich unter der Menge, Spieße erheben sich und Hellebarden – da sind denn auch unsere »Funken« dabei, die die Stadt und was drinnen ist beschützen sollen. Aber andere Funken wehren auch wieder selbst den Andern. Das verspricht dem Dinge ein baldiges Ende, wenn auch durch erbärmliche Schläge und Beulen und Wunden.
Ein Carnevalspaß muß sein! riefen Andere, aber nicht muthig, sondern mit Angst.
Und unter weiterwährendem Toben und Brausen, dem Fensterzerschmettern und Klirren und dem Glockenzerschlagen auf den Thürmen, eilten der Kaufherr und der jüdische Doctor mit seinem Heilgift aus dem Gedränge, das je ferner je dünner ward, nach dem großen, über tausend Menschen fassenden Hansesaal im Rathhaus.
Sie gelangten mit Mühe nur schon vor den Saal, dessen Thüren weit offen standen, und der große Raum stand vollgedrängt von Menschen. Vor ihnen drängte sich ein starker vierschrötiger Weinkärrner hinein, der rief: Hoho, hier kann ja kein Apfel zur Erde, geschweige ein Kürbis, und wenn eintausend von der Decke fielen, da wären wol dreitausend Kürbisköpfe darin. Hier kommt man nicht mit Füßen, nur mit Elnbogen hinein.
Und diese setzte er sogleich an, und hinter ihm in der Lücke gelangten sie mit hinein bis in die Mitte. Sie stellten sich auf die Zehen und sahen bei dem Scheine der vielen Kronleuchter an der Decke und der blitzenden Wandleuchter, daß an mehren Tischen dahinten doch Männer saßen, dicke und wohlhäbige, die ganz gewiß schon vorher bequem hineingegangen sein mußten. Alle waren in lebhaftem Streit. Einer erzählte, was draußen geschehen, noch geschehe, und gar erst die Nacht geschehen könne oder würde. Ein Anderer schaltete Nachrichten oder Ergänzungen ein. Viele widersprachen auf ein mal zugleich, und noch Andere erklärten den bloßen – so Gott will – »Pfutsch« – sich viel oberflächlicher, dagegen dort ganz Weise und Tiefsinnige die Sache sich weiser und tiefer. Darauf schwiegen durch Zufall Alle zusammen zugleich, und die Pause ward durch ein schallendes Gelächter erfüllt. Danach versicherte ein Judenfreund oder -Feind: das Ende vom Liede werde sein, daß man einige, gewiß bei Allem neugierige Juden scheinbar bei der That ertappen, ergreifen und einstecken würde, für deren Freistellung ihre Leute die Kirchenfenster würden machen lassen und die Glocken umgießen müssen.
Gut, daß das nicht alberne prasselnde Schloßen gethan haben oder die himmlischen Blitze! Was würde man mit denen allerhöchsten Personen thun? – Da ist es mit dem Einstecken nicht recht richtig und mit dem Bezahlen so eine Sache! rief eine stämmige Maske zu allgemeinem Gelächter darein, soweit man ihn gehört.
Du, vergreif dich nicht an Kirchensachen und an unschuldigen Kindern! sowie jetzt unsere Herren Kanzelredner seit Sonntag die ganze Woche in den Morgen- und Abendpredigten sich aus Menschenverstand und wahrer Seelen- und Leibes- und Lebensvorsorge an den jungen Kreuzfahrern, oder Kreuzfahrjungen und -Mädchen vergreifen, und an den alten armen Weibern, die unterwegs sich besser Brot erwarten, oder überhaupt nur welches, und wo möglich hoffen, gerade im Heiligen Grabe zu sterben. So rief ein Anderer, dem ein anderer Narr mit der Pritsche »auf das lose Maul« schlug, sodaß er schweigen mußte vor Lippenblutspucken, während ihn ganz anders Gekleidete in weißen Masken kichernd und bellend und miauend auslachten, von denen Einer nachher nur halblaut sprach: Der »Dülpner« hat es getroffen! Dasmal geht es gegen die Vernunft der Geistlichen, die Recht haben, wider den Kinderkreuzzug zu predigen. Was man alles erlebt: brecht ab! laßt das Wort fallen und zerstreut Euch im Saale!
Und sie folgten langsam und unauffällig.
Da brachten vier bewaffnete »Funken« einen verwundeten Mann in den Saal getragen, »englisch«, wie man es nennt, auf Händen. Der Mann in prachtvoller Narrenkleidung hatte keine Maske vor, sowie die Meisten im Saale keine, aber sein Gesicht sah doch wie eine Larve aus mit der dicken zerschlagenen Nase, geschwollenen Lippen und übel zerzausetem Bart. Alle erkannten ihn dennoch sogleich und schon an dem Wappen der Familie seines Herrn, Sr. Gnaden des Erzbischofs, in dessen Palast man vor Gedränge den armen Mann nicht hatte bringen können. Wo er vorübergetragen wurde, machten sie ihm eine Gasse bis an die hintersten Tische, woran die Herren saßen, und alle erkannten ihn und riefen ihm im Vorübergetragenwerden zu: Ach, du unser redlicher lieber Justus Jost! da bist du einmal » stultus in partibus Insanorum« gewesen! Du hilfst gern Allen; das ist auch eine Thorheit. »Die Klugen haben am meisten zu lernen; die Dummen brauchen nichts zu wissen.«
Die beiden Freunde gelangten hinter dem armen Mann her, und Raimund mit besonderm Interesse und aufsteigender guter Hoffnung. Denn der Jost, und richtig auch Justus Jost, war sein treuer lustiger Kamerad in der lustigen Jugend bei allen klugen und dummen Streichen gewesen, und hatte, wie er sah, sein vortreffliches Brot und das ehrenvollste wichtigste Amt durch seine höhere eigenthümliche Ausbildung gefunden, was Andern mit allem Ernst und aller Ernsthaftigkeit nur schwer oder selten und erbärmlich gelingt.
Einige der Herren standen sogar auf vor ihm, bedauerten und fragten ihn, was ihm fehle – und er zischte: O, ich habe es noch! Alles! und zeigte ihnen ein paar ausgeschlagene Zähne, und betupfte die Nase, und legte die Hand auf die Brust und sagte: ein folgsamer unschuldiger Stein traf sie mir nur! was will ich da sagen, als: memento mori! Und er lächelte mit dem entstellten Gesicht sehr freundlich und setzte noch hinzu: Auch die Welt sprech' ich schuldlos, und gar erst nun den Willen der Dummen kann ich nicht schuldig finden vor tiefstem Mitleid. Dummheit verdient nur die grausame Strafe, klug zu werden.
Diese Narrengesinnung rührte seinen Jugendfreund Raimund, daß er zu ihm kniete, seine Hände faßte und drückte, ihm klar und hell in das Gesicht sah, und ihn frug: Mein Jost, mein Justus Jost, kennst du mich noch?
Ach du! Du! du kommst noch zur rechten Zeit – noch vor Morgen! sprach Jost.
Morgen will ich ja zu dir kommen und zu wann vergönnst du es mir? Ich habe dich Schweres zu bitten, sagte ihm Raimund leiser.
Ich weiß, ich weiß, antwortete ihm Jost. Aber da muß ich dich bitten: komme früh! das hat so seine sterblichen Ursachen! Nun habe ich dich doch wiedergesehen – dich losen guten Schelm! Ein Jeder hat seine letzte Freude.
Darauf hielten sie sich an den Händen stumm.
Der jüdische Doctor aber rieth, wenn er sich erholt und die Straße ohne Gefahr worden, ihn in den erzbischöftichen Palast zu bringen, daß ihm Hülfe geschehe.
Die vier bewaffneten »Funken«, die ihn hergetragen, und Andere, die ihnen gefolgt waren, sperrten indeß durch ihre Stellung den Kreis, wo die Herren saßen, und wo es nun stiller ward, indeß es ferner im Saal noch Gewirr gab.
Nun was meint Ihr, lieber von Hompesch, zu dem Angriff auf die Kirche? da das Volk damit den Geistlichen glaubt an die Seele zu greifen; denn ohne Kirchen keine Kirche, ohne Hausrath kein Haus, ohne Geschäfte darin kein Leben, »das« ist keine ganz alberne Meinung; was meint Ihr, da Ihr gerecht und billig seid gegen Freund und Feind? So fragte ihn ein anderer vornehmer Patricier.
Ich meine, lieber Riedesel, erwiderte der stattliche gediegene Mann, unsere Geistlichen hier zur Stadt wie umher zu Lande sind mir bewundernswürdige redliche Leute, die ihre Pflicht, dem Volk zu helfen und zu allem Guten seine Diener zu sein, selbst mit Gefahr, dafür Leiden zu ernten, unverzagt erfüllen. Das zeigen sie klar daran, daß sie jetzt in den Häusern von dem Kinderkreuzzug abreden, in den Kirchen davon mit Thränen abpredigen, und wagen damit selbst ihr Verbleiben in der Stadt – damit nicht die wol zwanzigtausend Kinder Sicardi Chronicon . aus dem Rheinland und drüben aus dem nächsten Deutschland, – den Vätern und Müttern zum Gram in weiter nichts als unermeßliches Elend rennen!
Da sind aber Andere, die obschon gläubigen, zahlreichen, mächtigen Wollenweber oder Tuchmacher und Tuchknappen, die klüglich und vernünftig selber ihre Kinder zu Vernunft prügeln, die sie einsperren, um sie nicht zu den Umzügen und Processionen der Kinder laufen zu lassen, die sie zu fernen Anverwandten und Freunden, selbst bis nach Holland, bis Nürnberg und noch weiter heimlich fortführen, bis der alberne Sturmwind vorübergebraust; und was thun erst Alles die verschlossenen, unkennbaren »Reinen« oder Ketzer, von denen unsere Stadt halb voll ist – was thun sie? Sie ergreifen jetzt, für jetzt und für die Folge, die Gelegenheit, die so vernünftige Geistlichkeit überhaupt bei dem gläubigen Volke verhaßt zu machen, weil sie vernünftig sind. Ist so Etwas schon vorgekommen? Was meint Ihr dazu, unser alter Hardenberg.
Und der gelassene Alte sprach, aber leise: Ja! und wie verehrungswürdig und väterlich gegen alle seine Kinder, die ihm vom Himmel zur Erziehung anvertraut sind, erscheint da erst unser Heiliger Vater, der seinen Namen »der Unschuldige« mit dreifachem Recht führt. Unschuldig war er am Kreuzzug. Hätte er ihn verboten, so hätte das Volk ihn für einen Türken gehalten, wol abgesetzt. Er dürfte noch keine Kirchthür an dem alten einfallenden Peter an einem Heiligentage verschließen, das Volk sprengte sie auf ... nicht einer gemalten Muttergottes die Lichter vor ihrem Bilde an einer Straßenecke auslöschen lassen ... nicht einem Büßenden sagen: »Lieber Freund, oder liebe Freundin, kein Mensch kann eine Sünde vergeben, und Priester sind Menschen. Geh' reuig nach Hause und bessere dich – und Gott vergibt die Sünden unerforschlicherweise.« Seine Vorfahren wurden und waren nur mit aller Menschengewalt bekleidet, weil sie das Alles leiblich und zeitlich, und örtlich und hörbar, und sichtbar und fühlbar vor- und darstellten, was das Volk wollte, daß sie wären, und was es zu bedürfen schien, ja so wie es war, es wirklich bedurfte in seinem rohen unbeholfenen Leben voll tausend Mängeln in tausend Angst und Noth. Einem solchen armen Volke die Priester nehmen, die heilige Messe austilgen, daß nicht Gottes lieber Sohn täglich für dasselbe geopfert würde und der Welt Sünden auf sich nehme, damit sie wieder fröhlich von frischem strebten, wie neugeborene Kinder, das war unmöglich. Ohne letzte Oelung gab es keinen getrosten Tod, keinen Himmel; sie hätten gemeint in das Fegefeuer zu stürzen, unerlösbar ohne Fürbitten, und sterbend auf ewig vom Teufel geplagt in der Hölle zu schmachten unerlösbar. Wie wohlthätig ist solchen armen Seelen, so lange sie solche sind, ein göttlicher allmächtiger Stellvertreter Petri mit den Schlüsseln des Himmels auf Erden – und wie wohlthätig ein mächtiger Pfarrherr auf jedem Dorfe, ja nur eine Kapelle, weit umher zu sehen auf ihrem Berge ins Land hinaus – nur ein Glöcklein, das Abends Frieden ausduftet über das Land – und ein Kreuz am Wege, Tags im Sonnenschein, beglaubigt vom blauen Himmel droben, und des Nachts im Walde im Mondenschein, den verirrten Wanderer anleuchtend wie mit Gottes Auge, das getreu ihm zublinkt: »Sei getrost – ich bin da!«
Das ist wol wahr und hört sich recht lieb, ja schön an; sprach ein anderer Herr noch leiser, ein Rathsherr, an seiner Kette mit dem Stadtwappen in Gold geprägt erkennbar; das Volk will Alles, was ihm in der Wiege der Erde inwendig einkommt in seinem Schlafe, auch auswendig in der Welt sehen, es will es greifen; es will in eine trauliche Kammer vernagelt sein; es will für die unendliche Zukunft ein Ende der Welt, ein Weltgericht, da es nichts ohne Ende begreifen kann – es will für alle Sünden einen Vergeber, für alle Uebel nur Einen Erlöser – für alle Begebenheiten, ja Träume, eine Zeit und einen Ort – für alle Heiligen je ein besonderes Bild – für alle besondere Noth einen besondern anrufbaren Namen – und für sein enges Herz die ganze Welt in der Nuß, in der Erdenpilgertasche – in der Scarsella. Aber Eins ist noch wahrer, noch entsetzlicher wahr: das ist die Trägheit, die Faulheit, die willige Versunkenheit, wie ein früh Erwachter wieder aus der blendenden Morgensonne unwiderstehlich in den seligen Schlaf sich begräbt. – Ein gewisses faules Leben gefällt Allen! Wozu sich übermäßig plagen? ... Die Welt hat Zeit! ... und die Plage hat kein Ende. Darum plagen wir uns im Schatten, auf dem Bauche liegend, und rufen wie die vormalige faulgewordene römische Jugend: »Ach wäre das doch arbeiten!«
Manche lachten und drohten ihm mit dem Finger. Und ein sehr klug aussehender bürgerlicher Herr aus dem weitern Rathe mit der nur silbernen Kette sprach: Draußen schon sagte mir unser alter kluger und schlauer Metternich, Herr auf Metternich: »Da ist wol auch ein anderer Einwurf mit in die Berathung aufzunehmen, warum die vorsorglichen frommen Herren den Kinderkreuzzug erst recht nicht wünschen, ja fürchten: denn reisen, weit und lange reisen, das macht klug über Das, was ist, was sein kann, und was nicht! Und nun gar unter fremden Völkern sehen und sich überzeugen, daß ein gewisser Gott sie segnet, daß sie Frau und Kinder haben, und seelenruhig froh und glücklich leben voll Hab und Gut, Aecker und Vieh wie andere Menschenkinder, und zuletzt alt und lebenssatt selig sterben auf ihre Art, ohne je das Alles oder nur Etwas davon zu glauben, was der Reisende für einzige Bedingung des Lebens gehalten hat ... und bedenklich wird, sehr bedenklich, selbst über die Gräber, die so heilig im Scheine der Sonne, von Rosen und Jasmin umblüht, in Frieden stehen, und zu denen sichtbarlich-fromme schöne Menschen, Frauen und Jungfrauen, Männer und Kinder kommen, um diese ihm sonst entsetzlichen Todten, als menschliche Teufel erschienene Todten, endlich zu beweinen. Da bricht wenigstens die Duldung aus dem rohesten Gemüth, die Verwunderung aus dem unverdorbenen ... und das Segnen aus dem für alles Schöne und Gute empfänglichen Menschen. Und nie kehrt ein Reisender unverwandelt wieder in seine Heimat; und Pilger sind auch Reisende! – und alle Heimgekehrten sollten unter Clausur gestellt werden, verordnete ich, um meines hergeschlafenen Lebens sicher zu sein, um keine Kirschen essen und keine morgenländischen Märchen, weitgläubig geworden, anhören und mich freuen zu müssen.«
Sage mir Einer was er will, setzte der alte Herr draußen noch hinzu: Alles ist Etwas für den Tag, und sehr viel für morgen und übermorgen. Die reife Aehre ist voll Körner. Und immer gibt es vorschauende Männer, die sich wenigstens nach den Wegen in dem Walde der Zukunft umsehen, und überhaupt doch ahnen, was die Menschen mit ihrem leeren und schweren Herzen gern hätten und wie sie gern lebten. Ich werde daher gleich in der Montagssitzung beantragen: den Bau der 300 Schiffe zu beschließen, die wir Stadt Köln, freie Reichs- und freie Hansestadt, zum Handel und zur Kreuzfahrerverschiffung um Gibraltar herum ins Werk setzen, womit wir zwei Fliegen zugleich schlagen: die geistlichen Herren in ihrem Werk unterstützen, und die mächtigen Wollenweber beruhigen, die nur mehr Gewalt in der Stadt und darum in den Rath wollen, um dann nur desto erfolgreicher dem Erzbischofthume zu widerstehen – blos weil es ihnen eine nicht besonders günstige und grüne, sondern wiederum aus seiner Pflicht oft stachelige starre Macht ist. Und ich sehe den Tag im Geiste voraus, wo die himmlischen Mächte, nach einer Kreuzschlacht aus der Stadt geschlagen, auswandern, oder wo die Wollenweber nach einer Weberschlacht mit zerbrochenen Weberbäumen und ihren ellenlangen, zerbrochenen, stählernen furchtbaren Tuchscheeren auf ihren Schifflein hinausschiffen müssen – aber ich sehe auch den Tag, wo sie dennoch wieder zurückkehren, die Stadt belagern und wenigstens sich die Aufnahme in den äußern Rath durch Unentbehrlichkeit und Reichthum ertrotzen. Dabei möchten denn viele Häupter des hohen Raths fallen! Wirklich geschah die Weberschlacht und die Belagerung nicht lange nachher. Wir leben also Alle in gar keiner spaßhaften Zeit.
Jetzt meldeten hereingekommene »Funken«, daß es nun möglich sei, auf gewisse Weise den Freund aller Kölner, den theuern Narren Jost, nach Hause zu bringen, um verbunden und geheilt zu werden, oder doch ruhig in seiner Kindesheimat, dem Bette, bei Frau und Kindern zu seiner traurigen Freude entsetzlich beweint zu sterben. Die gewisse Weise bestand aber darin: die Funken hatten auf der Straße einen vorübergetragenen Sarg aufgefangen und brachten ihn herein. Männer Einer Brüderschaft in gleichen Kappen und Masken ergriffen das Mittel, fütterten den Sarg mit Teppichen aus, baten den Narren, sich gefälligst in den Sarg zu bemühen, hoben ihn sanft, legten ihn sanft hinein, deckten ihn zu, erhoben ihn nur halb bis durch die Pforte hinaus, erhoben dann den nach Gebrauch offenen Sarg ohne Bahre auf die Schultern; einer der Ihren trug den Deckel nach; mehre Andere bildeten sogleich einen Zug, dem zwei Fackeln vorleuchteten. Ein Sarg hat selbst für einen Betrunkenen eine gar wunderliche Einwirkung, schneller wie ausgepreßter Kohlsaft. Sie begannen eine Lamentation zu singen; die Masken auf der Straße machten Raum für den Zug, und begleiteten in plötzlich fromm gewordener Weise den angeblich Todten, dem ein leiser duftiger warmer Frühlingsregen in sein offenes Gesicht sprühte, und der endlich selber in rührendem tiefen Baß seine Stimme erhob, das » Tuba mirum spargens sonum« begann und das » Requiem aeternam« wundervoll sang.
Aber gute Seelen liefen voraus, um seiner Frau zu sagen, sie solle nicht erschrecken! Der jüdische Doctor, als überall hülfreich, wo er durch Beistand und guten Rath oder auch nur durch eine Warnung nützen konnte, und immer ein kleines Besteck bei sich führte, hatte dem armen Narren das Geleit hinauf gegeben, und sein Jugendfreund Raimund auch. Sie hatten eine liebenswürdige gute Frau und liebe Kinder gefunden, zwei Knaben und ein Mädchen, die von des Vaters heiterm, klugem und witzigem Gesichte belebt, jetzt um desto mehr weinten und klagten, da es sein Leben galt. Beiden Männern war der Narr ein unersetzlicher Schatz durch seinen Einfluß bei dem als gut und lobens- und liebenswürdig bekannten alten Erzbischof. Dem Arzte war der Narr theuer aus Glaubensverwandtschaft mit dem zum Feuertode verdammten Juden; – dem Kaufherrn und jetzt zum Patricier und Vorsteher der Familie gewordenen Raimund aber durch Blutsverwandtschaft mit der verunglückten schönen Frederune. Die Träger und die Geleiter des klugen Leichenzugs zogen mit dem Sarge, von der Frau bedankt und beschenkt, wieder ab. Die Freunde aber blieben und schieden erst, als der Arzt Umschläge über die Nase gemacht, eine Ableitung auf die Brust gelegt, ihm Ader geschlagen und zuletzt ihm noch die beiden unversehrten Zähne auf frischer That wieder eingesetzt, und den Kindern, die bei dem Vater wachen wollten, gesagt: Kinder, sagt nur dem Vater immer: »Vater, beiße die Zähne zusammen!« Und der arme Narr hatte den Freunden gesagt: Wer einem die Nase curirt, der hat ihm mehr als den Thurm wieder aufgebaut, der gen Damascus schauet; und mit den Zähnen hat er einen Stein, ja zwei Diamanten bei ihm im Brete – das heißt diesmal: im Munde. Uebrigens freue ich mich zuerst auf die blaue – dann auf die grüne – dann auf die gelbe Nase durch alle Dur- und Molltonarten der Maler, als Musikanten für die Augen. – Es wäre meiner Frau nicht lieb, wenn ich noch mit heutiger blutiger rother Nase im Sarge paradiren müßte; denn ich habe heute die Reden noch nicht vergessen und die Schläge von meinen weinenden Tanten nicht, daß ich meine alte Großmutter unversehens in ihren allerletzten Tagen etwas furchtbar mit einem spanischen Rohre über ihre große edle Nase geschlagen, die sie blau mit gen Himmel genommen. – Also morgen früh auf Wiedersehen, und hoffentlich meinerseits nicht auf ein einseitiges, ein bloßes Gesehenwerden.
Sie verbanden ihm noch den Mund, zu ruhigem Anwachsen der Zähne in ihren Kapseln, und begaben sich wieder nach dem Hansesaal im Rathhause, wo es räumlicher und stiller geworden und worin sehr Viele vor Hitze ihre Carnevalmasken abgenommen hatten. Die beiden zurückgekehrten Männer brachten Hoffnung und Trost über den theuern Jost wieder; aber wunderlich genug: auch das schlug Mehren ihre Freude an einem Narrenbegräbnißzuge nieder, den sie sich unterdeß ausgesonnen, ja schon zum Theil hingemalt, und die Rollen den Personen zu- und ausgetheilt hatten. Das ward nun Alles muthwillig sogleich untereinander gewirrt und verschoben, und mit neuer Begeisterung sogleich ein Maskenzug zum Scheiterhaufen, zu der Hurd, im Ganzen und in den Theilen festgestellt, damit das Ganze sehenswürdig sei und ihnen Ehre mache, ja die tausend Zuschauer erheitere! Denn, sprachen sie, unter der Maske ist nichts mehr wahr und ernsthaft, wie kein Schauspieler mehr in keiner Rolle, nur ein sogar sich selbst bewußtes Gespenst, und alles zum Spiel Erhobene ist Spiel – ist Welt!
Raimund fand von seinen alten Bekannten noch mehre, und diese hinwieder machten ihn mit den andern bekannt, so viele der heimlichen Katharer, oder von den Reinen da waren, die Niemandem gestatteten, Jemanden ums Leben zu bringen, also auch dem Scharfrichter und Henker nicht. Alle Unterdrückte haben von jeher eigene Zeichen, daran man sie erkennt; Unterdrückte zeigen zur Erde hängende Köpfe, zornige Gesichter, zu Zeiten geballte Fäuste und langes Wartenlassen auf Fragen. Andere haben Zeichen, um den Gleichen sich erkennen zu lassen und zu erkennen zu geben. Raimund's Glaubens- und Lebensbrüder gaben sich zu erkennen und erkannten sich verdachtlos an einem besondern Anblicken und an einem schnellen, Andern kaum bemerkbar, also unverdächtigen Bewegen der Lippen. Und so war er bald von einer entschlossenen Schar gleichgesinnter Männer umgeben, und fühlte sich froh in ihrem Kreise wie in einer Mauer von Lebendigen. Der jüdische Doctor aber war wiederum seinen Leuten wie auf das Leben empfohlen, und sie unterstützten die beiden Angekommenen redlich dabei, als die Klage darauf gekommen, daß der Stadt und Umgebung und dem ganzen Lande weit und breit so viele Kinder, Knaben und Mädchen der Vornehmen und Geringen, der Reichen und Armen, auf dem für sie unsinnigen Kreuzzuge umkommen, verdorben werden und den Aeltern kaum zurückhaltbar verloren gehen sollten! Selbst die Juden, die doch frei von dieser Kindersteuer sich fühlten, und deren Kinder gesteinigt worden wären, wenn sie sich unterstanden hätten, sich auch nur im Scherz ein Kreuz auf die Schulter zu heften, sie auch lobten die so menschenfreundlichen, väterlich gesinnten redlichen Geistlichen, die sich so unschuldig die Rache nur herrschsüchtiger Menschen zugezogen. Die andern Gläubigen aber gelobten Geld über Geld einem Doctor, der die wahnsinnig gewordenen Kinder von ihrer Thränensucht und ihrer Seelenkrankheit heilen könnte, aber noch schleunig in Zeiten! Raimund deutete auf den Arzt und erbot sich gleich von morgen früh an auf sein Schloß hinaus Alle für die Cur hinauszunehmen, so viele Mütter oder Väter oder Schwestern und Brüder ihm solche geisteskranke Kinder bringen würden.
Die hochwichtige Angelegenheit wurde dann unter ihnen vertrauensvoll und geheim näher besprochen und Alle schieden von Hoffnung beseelt. Die beiden Freunde kehrten nach ihrem Hause in der Stadt zurück, woraus Raimund's todter Bruder, Aldewin, Irmentrud, seine Witwe, ihre Tochter Irmengard und Frohmuthe hinaus auf die für den Sommer wohleingerichtete Lindenburg schon fort waren. Und sie folgten ihnen um Mitternacht, nach diesem überraschend schweren Tage voll kaum glaublichen, aber wahrhaften Leides.