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Funfzehntes Capitel.
Die mehr als tödtliche Wunde.


Raimund, der treue Bruder, hatte einen sichern Ort im Walde unfern der Straße gefunden, seinen Diener auf dem Wege zurückgeschickt, um voraus berichten zu können, wenn die Tochter des gleichsam für sie gestorbenen Vaters käme. Da sie aber gewiß nicht die Nacht, noch bis Spätabend reisten, so mußte er die Aufhebung am Tage, also gleichsam im Fluge vollbringen, und seine redliche Seele befahl ihm obendrein: Niemand dabei zu tödten. Endlich erst den letzten Tag der Woche berichtete der Diener eilig herbeifliegend: Sie kommen! Sie sind es!

Er erblickte sie gegen Abend. Er und seine Leute ritten mit ihnen, als von einem Seitenwege kommend; sie grüßten sie und unterhielten sich zutraulich lange mit den zwei Reitern. Endlich war die Straße weit hinauf und hinab frei von Menschen. Und es kostete dem guten Raimund eine menschenunwürdige Ueberwindung: die getrostgemachten Reiter auf einmal zu überfallen und als Feinde – ja von ihrem Widerstande gezwungen – als Todfeinde gegen sie aufzutreten; ja sein redlicher, wahrheitredender Geist im Leibe wollte sie sogar warnen, und er bannte ihn nur mit Gewalt, da er Frederune aus der Sänfte rufen hörte. Sie hatte ihn also erkannt. Er foderte kurz mit blankem Schwert, daß sich die Führer ergäben, indem er, abgestiegen vom Pferde, auf den vordersten eindrang. Und sichtbar übermannt von den Andern ergab er sich. Wie aber Raimund ihn binden wollte, stolperte er, fiel auf das Gesicht und der andere Führer stach ihn mit seiner Lanze in den Nacken, in den Sitz des Lebens, bis auf das Mark. Er blieb ohne Verstand liegen; aber seine Leute banden den Führer und dessen gefangenen Gefährten mit Stricken, knebelten sie, führten sie hinter die vordersten Bäume des Waldes und banden sie fest, jeden an einen besondern Stamm, daß keiner den andern losbinden, aber sich später Hülfe erschreien könnte. Drauf schlossen sie die Sänften mit den den Wächtern vom Halse abgenommenen Schlüsseln auf, sahen hinein, und bedrohten die von Rom Erlösten, drinnen zu bleiben; schlugen die schwarzen Kreuze und Todtenfahnen vor den Sänften, banden den haltlosen verwundeten Ritter Raimund auf eins der Pferde, und so eilten sie schnell von der Straße rechts hinein auf die zuvor gewählte Straße im Thale der Aar hinauf.

Raimund kam erst am andern Morgen im ersten Nachtlager in einer einsamen Mühle zu deutlicher Besinnung. Er hatte wenig Blut verloren, und die Freude des Wiedersehens mit der erretteten Tochter seines Bruders, und ihr und ihres Geliebten Dank für die Errettung war unaussprechlich und wurde nur geweint. Die Befreiten ließen ihre entsetzlichen Kleider in die Aar werfen und vertauschten sie mit Kleidern von Bäuerin und Bauer. Sie fuhren dann, zu schwach zum Gehen, auf einem Schweizerwägelchen weiter, und an nächster einsamer Stelle verbrannten sie die Sänften und verschenkten die Maulthiere an arme Leute. So gelangten sie nach Lausanne und fuhren im Schiffchen über den See nach Genf, von den selbst Unglücklichen, Vater und Mutter Savern, mit Thränen und mit der Hoffnung aufgenommen, daß ihrem guten Sohn auch seine Rettung – aber einer gewiß auf zeitlebens unglücklichen Tochter – gelingen werde. Das gerettete Paar aber war noch und blieb so furchtsam, daß sie vor jedem Kreuze schauderten und die Augen zudrückten, vor Glocken sich die Ohren zuhielten und schon darum nach der Meierei übersiedelten, weil an ihr kein Weg hin oder her, noch vorüberführte; wo kein Thurm, keine Kapelle rundum sich sehen ließ, noch ein Kreuz nur – wie aus Schonung ihrer gepeinigten Seelen – es wagte, wo im Walde zu stehen oder von einem Berge in das ihnen heilige Thal zu blicken.

Hier war kein Feiertag, kein Sonntag; sie hörten keine Glocke, als eine selige Schafglocke oder eine wie himmlische Kuhglocke. Sie lebten hier unbeneidet in wahrer treuer Liebe als bloße natürliche Menschen in Hirtenkleidern – und machten Käse. So hoch hatten sie sich sogar noch über die Katharer da draußen, über die Reinen erhoben und unter dem treuen, blauen, stillen, klaren Himmel verklärt.

Raimund, wieder leidlich bei Kräften, meldete der Mutter der geretteten Tochter, in nur ihr verständlichen Worten, nach Köln die Ursache zu größter Freude; gab den jungen glücklichen Leuten einen Schatz an Golde, der auf Lebenszeit für sie langte; sehnte sich nach dem zerstörten Beziers, wollte auch seine noch außenstehenden Gelder einziehen und reiste über Lyon, die Rhone hinab, und pilgerte, als sicherer Kreuzfahrer verkleidet, von Montpellier nach der schaudervollen Stätte der Asche seiner Gabriele und seiner Kinder.

Das ist das große allgemeine Glück, die sicher und froh machende Naturgabe, daß sich Alles, was lebt, für klug und verständig hält: die Menschen, die Männer und Weiber alle, die Blinden und Tauben, die Kinder wie die Alten, sogar Bär und Schlange, Spinne und Biene, ja, daß selbst die Irrsinnigen gar nicht wissen, daß sie nicht bei Verstande sind. Und das wußte Raimund auch nicht. Sein eigenes Schicksal, das grause Geschick der Seinen in der Fremde, der Tod seines Bruders, und die Ursache, warum er gestorben, und zuletzt der Stich mit dem Schwert in den Sitz seines Lebens hatten ihm gleichsam die Erlaubniß erwirkt, nicht mehr bei richtigem Verstande zu sein; also Unvernünftiges – jedoch immer noch mit angeborener Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit zu thun; aber Unmögliches zu wünschen und Vergangenes mit Zukünftigem oder Gegenwärtigem zu verwechseln. Er saß ganze Nächte bei Mondenschein in den Trümmern seines Hauses, er sah sein junges Weib wieder wie sonst darin wandeln; sie vor ihm stehen bleiben, ihm die Hand auf das Haupt legen; ja, sein geheimer Geist sprach als ihre Gestalt zu ihm, und er zerschmolz in Thränen. Es war ihm einst, als wenn ein Licht in ihn falle, und da in der That sein Weib oder Mädchen der Irmengard sehr ähnlich gesehen, so war Irmengard nun sein Weib geworden oder gewesen, und sein Weib, sein zu Kohlen verbranntes Weib, war nur Irmengard; was ihn mit frohem Schauder durchzuckte und mit betrübter Sehnsucht nach dem Engel durchglühte, der den Kindern gepredigt hatte und jetzt ihm verloren war. Aber er hoffte auf ihre Wiedererscheinung und unbestimmtes Glück und Leid. Er fand in den Kohlen seiner Kinder schwarze Knöchel – er fand seines Weibes braune Hand und noch ihren Ring daran, den sie ihm zu schenken schien und den er ansteckte. Ihm war heilig und gewiß: diese Gestalt konnte nicht verloren sein! sie mußte wo sein! wer sein! sie konnte Irmengard sein, die vielleicht vorher nicht gewesen, es erst geworden, oder von den Todten herauf- oder vom Himmel herabgestiegen, als er sie zuerst gesehen und leider sie so geschmäht und gescholten! Und er konnte es nicht mehr in der verkohlten schwarzen Stadt aushalten. Aber diesen ihm tröstlichen Wahnsinn glaubte er nun, und er zog mit ihm fort.

In Marseille vernahm er von tausend Augenzeugen die Einschiffung des Hirtenknaben St.-Etienne mit seinem Kreuzzugsheere in sieben großen Kauffahrteischiffen der beiden verdächtigen Männer, des Hugo Ferreus, oder des eisernen Hugo, und des Wilhelm Porcus Albericus., welche die Kinder für Himmelsgesandte gehalten, weil sie ohne Fahr- und Kostgeld ins Gelobte Land, und so bequem, ohne einen Schritt thun zu dürfen, großmüthig sie aufgenommen. Er hörte auch, daß zwei überladene Schiffe voll Kinder bei der Insel San-Pietro, an der Spitze von Sardinien, gescheitert und untergegangen, und die See die kleinen jungen Leichen alle der Erde auf ihr grünes Ufer geschwemmt. Es ging ein Schiff nach Cagliari, welches dort ausladen und mit neuer Ladung von dort nach Genua steuern wollte, und er ließ sich auf der kleinen Insel aussetzen, wo die Bauleute eine Kirche »der neuen unschuldigen Kinder« Albericus. gründeten, wozu zwölf Präbenden kommen sollten. Umher lagen über die Tausend Kinder begraben. Aber in einem Gewölbe besonders lagen nur beigesetzt in steinernen Särgen einige Knaben und Mädchen, die wie vom Tode nicht berührt unverwandelt frisch und wunderbar rührend dalagen; vor Allen der prächtige Knabe St.-Etienne, an dem kein Auge sich satt sehen konnte. Ohne an einen Heiligen zu glauben, konnte Raimund sich nicht enthalten, dem vom Geiste geführten Seligen die Hände zu küssen. Kann ein Wahn so schön sein? Kann er solch Rührendes auf der wahren Erde, unter der wahren Sonne, wie eine Himmelserscheinung für die Sterblichen hervorbringen? fragte er sich. Er vertauschte heimlich seinen Rosenkranz mit ihm – und zum Erstaunen sprach sein Geist dazu: »Schlag' ihm doch lieber einen Zahn aus! der ist etwas Wahreres, Leibliches.« Aber des himmlischen Knaben todte Mutter, die Allen für eine Heilige gegolten und jetzt gleichsam getreulich in der einfachen Kleidung einer Hirtin von der Loire neben ihm ebenso unverwandelt dalag, sprach jetzt sehr sanft und anschauernd: »Lasse den Todten ihr Todtes! Wir Todten sind so schon bettelarm.« Und er gab ihrem Knaben seinen Rosenkranz wieder in die Hände.

Ueber alle die Trauer hatte er sein Gold und seine Schuldner vergessen.

Das Schiff holte ihn ab, und er stieg wie aus einem Traume in Genua ans Land.



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