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Dionys-bácsi

1

Ich war zum erstenmal auf Besuch bei meiner seit drei Jahren in Ungarn verheirateten Schwester und saß nach dem vortrefflichen Abendessen mit dem Schwager und Baron B., einem Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, beim Wein. Die hohen weißen Flügeltüren waren auf den Altan geöffnet, zwischen dessen schlanken Säulen ein paar breite Stufen in den Garten führten. Büsche und Bäume standen regungslos im Mondlicht. Ich hatte den späten Nachmittag zu einer kleinen Rundfahrt benutzt und im stillen über die Lebhaftigkeit gelächelt, mit der meine Schwester sich mir als sichere Lenkerin der flinken, hübsch angeschirrten Pferde zu zeigen beflissen war. Eben trat sie, die ihren kleinen blonden Buben zu Bett gebracht hatte, in einem duftigen Sommerabendkleid herein und mischte sich nach einigen abwartenden Augenblicken, während deren sie eine Zigarette entzündete, mit ihrer wohllautenden munteren Stimme in das zwischen den Unvertrauten nicht allzu flüssig rinnende Gespräch. Sie hatte sich einen der tiefen Armstühle an den behaglichen runden Tisch gerückt, auf dem, da das alte einsame Haus der neueren Einrichtungen entbehrte, unter ihrem dichten Schleierschirm eine hochstielige Petroleumlampe brannte.

Baron B., um so wortkarger, als er das Deutsche nur mit Mühe sprach, fragte plötzlich, warum die Fackelzwinge ihm gegenüber an der Wand nicht in Gebrauch genommen worden sei.

»Weil das höchst ungeschickt und überdies gefährlich wäre«, meinte die Hausfrau lächelnd. Obwohl sie nicht leugnen könne, daß der abenteuerliche Reiz der Kienfackel sie fast zum Versuche verlocken möchte. »Im übrigen«, fügte sie, sich rasch umwendend, hinzu, »habe ich den häßlichen Haken dort entfernen lassen ...«

»Sie haben den Haken entfernen lassen?« Er hatte das in einem Ton gefragt, der mehr als Überraschung, der Schrecken, fast Entsetzen ausdrückte.

»Ja, die Resa«, fiel jetzt mein Schwager ein, dessen jugendlichen Zügen ein mächtiger dunkler Backenbart das Gepräge reifer Männlichkeit zu verleihen sich vergeblich bestrebte, »die Resa ist eine mutige Person, sie hat's gewagt, den Dionys-bácsi Bácsi, Abkürzung von Bâtya = Oheim; vertrauliche Bezeichnung eines älteren Bekannten. Néni = Tante. zu bannen. Wir werden ja sehen, wer stärker ist, die Resa oder der Dionys-bácsi.«

»Kann ich erfahren, worum es sich handelt?« fragte ich, indem ich mich bemühte, möglichst unbefangen zu scheinen, obwohl es mir, ich weiß selbst nicht warum, bei diesen geheimnisvollen Worten etwas unbehaglich zumute geworden war, zumal da sich Baron B., ersichtlichermaßen verstimmt, ja verstört, aus dem Lichtkreis gerückt hatte. Sogar die Zigarette hatte er ausgehen lassen; er legte sie mit einer ungemein schmerzlichen Bewegung seiner schmalen Schultern in die gläserne Aschenschale und lehnte seinen feinen Kopf im tiefen Lehnstuhl hintenüber, so daß er im Schatten saß.

Die leichten Löckchen über der schönen steilen Stirn meiner Schwester bewegten sich, als sie sich jetzt in ihrer raschen Art mit einem Ruck in ihrem Sitz zu ihm herumwarf.

»Da haben Sie was Schönes angerichtet, Baron B.«, fuhr sie ihn heiter an. »Der Antal hat mich schon genug deshalb geputzt. Daß Sie die Geschichte aber gar so tragisch nehmen, könnte einen ja fast ängstlich machen ... Du mußt nämlich wissen«, wandte sie sich an mich, »daß es hier wie in jedem Schlosse spukt.«

»Ich bitte dich, Resa, nenne doch die Hütte da nicht Schloß!« fiel ihr Mann ihr ins Wort.

»Na freilich ist es nicht einmal ein Schlössel«, gab sie zu. »Aber das wir's statt unsers Schlosses nun einmal bewohnen ...«

Nun war es an dem Schwager, zu erklären: »Das einstöckige Gebäude da drüben hinterm Garten jenseits der Landstraße, das du gesehen haben wirst ...«

»Wo wir in die Gänseherde hineingefahren sind«, ergänzte Resa.

»So? Die große Künstlerin?«

Eine rasche Röte flog über die Wangen meiner in ihrem Kutscherstolz gekränkten Schwester, die sich selbst verraten hatte.

»Es war nicht so arg. Sie machten nur ein solches Geschrei.«

»Ich erinnere mich«, bemerkte ich, »ein nicht allzu schönes Haus.«

»Ein alter Kasten«, rief mein Schwager, »der längst bloß als Schüttboden verwendet wird. Aber es ist das Schloß von D. Daran läßt sich nichts ändern. Vorläufig können wir's nicht herrichten ...«

»Nun, und was hat es mit dem Spuk für eine Bewandtnis?« lenkte ich ein.

»Laß dir sagen ...« nahm der Schwager das Wort.

Aber Baron B. wehrte plötzlich lebhaft ab. »Ich bitte dich«, sagte er, »erzähle deinem Schwager die Geschichte ein andermal.«

»Was haben Sie, Baron B.?« rief meine Schwester. »Nun wird mein Bruder Gott weiß was sich einbilden.«

»Ich gestehe, daß ich einigermaßen neugierig geworden bin, Näheres zu vernehmen.«

»Erlaube, István-bácsi«, bat der Schwager, »daß ich dem Gottfried die Sache kurz berichte.«

In diesem Augenblick ging ein Luftzug durch das Zimmer, der das Licht der Lampe schwinden, ihren Umhang schwanken machte. Auf dem Altan raschelte er an einer niedrigen Hecke hin und erstarb.

Der Schwager hatte sich erhoben: »Der Dionys-bácsi meldet sich doch wieder. Resa, du hast verspielt.«

Eine Minute lang horchte die junge Frau mit vorgeneigtem Haupt. Dann aber richtete sie sich mit den an den Armstützen fest zugreifenden Händen rasch in die Höhe und rief: »Ich ergeb' mich noch nicht!« Und mit dem heitersten Lächeln an ihr Gegenüber gewendet: »Nun aber müssen Sie selbst erzählen, was Sie wissen. Es hilft Ihnen nichts.«

Da auch ich, schon um das Peinliche des unheimlichen Erlebnisses verwischen zu helfen und selbst zu verwinden, auf das inständigste in den Baron drang, konnte der Höfliche, wollte er nicht geradezu durch unartige Hartnäckigkeit die mühsam gerettete Stimmung neuerdings zerstören, nicht umhin, der Hausfrau und dem Gaste den Gefallen zu erweisen. Man merkte ihm wohl an, wie schwer es ihm ward, aber er bezwang sich und begann in seiner stockenden Art, vorzugsweise an mich die Rede gerichtet: »Sie wissen, daß wir uns hier nicht auf dem Grunde der alten Familie befinden, der Antal und sein Vater Béla entstammen. Es ist das Nachbargut von Antals Mutter aus dem Hause der Grafen A. Das sogenannte Schloß von D. war noch von ihren Eltern bewohnt gewesen, weist übrigens auch einige Heimlichkeiten auf, so einen unterirdischen Gang, der zu dem niedlichen Rokokoschlößchen P. führt. Es soll einst der Mittelpunkt einer weitverzweigten Verschwörung gewesen sein. Tatsache ist es, daß in der Kapelle von P. eine Steinplatte den Eingang zu einer verfallenen Treppe verbirgt. Die Eltern von Antals Mutter aber haben das Schloß bezogen zu einer Zeit, da von diesem Hause hier, so wie es jetzt dank der unübertrefflichen Geschicklichkeit und dem vorzüglichen Geschmack der Frau Therese sich darstellt, nur die Grundmauern und einige Seitenwände gestanden haben, und zwar als Überbleibsel des durch eine Feuersbrunst zerstörten früheren Gebäudes, das vormals durch Jahrhunderte der Erbsitz des gräflichen Geschlechts von A. gewesen war. Wir befinden uns also hier tatsächlich im Stammschloß von Antals mütterlichen Ahnen, wenn auch nur auf dessen Grund. Und das Zimmer, in dem wir sitzen, ist der Teil, der so ziemlich vollständig noch dem alten Raum entspricht.«

»Woher wissen Sie das so genau, Baron B.?« fragte die Hausfrau.

Antal antwortete für den Freund. »Weil er der größte Historiker und Altertumsforscher im ganzen Komitat ist und insbesondere die Geschichte unserer hochberühmten oder, wenn du lieber willst, berüchtigten Familie genau kennt.« Er lachte und stürzte ein Glas Wein hinunter.

»Mit dem Historiker hat's gute Wege«, lehnte der andere bescheiden ab, »daß ich mich aber mit den alten Erinnerungen und den leider nur zu spärlichen Aufzeichnungen der Gegend als Liebhaber befasse, hat seine Richtigkeit. Das Zimmer hier jedoch ist nicht nur mir, sondern jedem Ihrer alten Dörfler wohlbekannt, denn es weist ja die verrufene Wand auf, die uns heute leider beschäftigt.«

Ich blickte mit gemischten Gefühlen die weiße Wand an, an der ein schönes altes Bord mit Schaustücken aus Zinn behaglich sich erstreckte, und auf die ein großer Strauß von frischen Rosen in einem hellgrünen Glaskrug seinen freundlich schwebenden Schatten warf.

»Ich gestehe, daß ich niemals darüber nachgedacht habe, daß diese Wand ein Überbleibsel des alten Hauses sein möchte«, sagte meine Schwester mit einem leisen Bedauern in der Stimme.

»Ich will auch nicht mehr auf meinen Vorwurf zurückkommen«, fuhr der Baron fort, »bloß berichten, und auf das kürzeste, wie die Sage von jenem Haken geht.«

Mein Schwager war aufgestanden und verhandelte auf der Schwelle zum Altan mit einem Diener, der sich alsbald mit einer Verneigung in den Garten entfernte.

»Graf Dionys von A., der Urgroßvater von Antals Mutter, hatte zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hier einsam gehaust, ein verwegener Reiter, ehemaliger Offizier und, wie es heißt, wegen seiner Grausamkeit und Strenge bei seinen Leuten gefürchtet und verhaßt. Um so erstaunter war die Dorfschaft, als er eines Tages mit einer jungen Frau heimkehrte, die er im Ausland sollte geheiratet haben und von der es hieß, daß sie die Landessprache nicht verstand.

»Also gewissermaßen mein Vorbild«, sprach Resa, indem sie zu lächeln versuchte.

Der Baron wehrte heftig ab: »Sie sprechen ja bereits wie eine Eingeborene, gnädige Frau!«

»Dazu fehlt noch viel«, meinte meine Schwester. »Aber es wäre doch wirklich eine Schande, wenn ich in den drei Jahren mich nicht einigermaßen auszudrücken sollte gelernt haben.«

»Sie kann alles, was sie will«, sagte mein Schwager mit einer Ritterlichkeit, der ein leichter Spott das Gepräge gab, und beugte sich über die Lehne auf sie hinab. Resa entzog sich seiner ironischen Zärtlichkeit.

»In keiner Weise Ihr Vorbild«, nahm der Baron wieder das Wort. »Es heißt weiter, daß die Gräfin sich in der neuen Heimat nicht behagte, daß sie während eines Jagdausfluges ihres Gatten sogar einen Fluchtversuch unternahm, der aber mißglückte. Seither galt sie den Leuten als eine Gefangene. Man sah sie nie mehr im Dorfe, obwohl man zu wissen meinte, daß sie das Haus nicht wieder verlassen hätte. Eines Tages fand man den Grafen Dionys erhängt.«

»Und an einem Haken, den man mir hier gezeigt hat«, wandte sich meine Schwester lebhaft an mich. »Begreifst du nicht, daß ich das unheimliche Mahnzeichen so rasch wie möglich habe entfernen lassen? Und obwohl man mir, freilich erst nachher, gesagt hat, daß das nicht hätte geschehen dürfen, daß das Unheil bedeute und dergleichen Unsinn mehr.«

»Es muß nicht gerade angenehm sein, sich durch ein solches Ding beständig an eine so düstere Begebenheit erinnern zu lassen ... Ja, aber weiß man, warum sich der unglückselige Ehemann auf so häßliche Weise aus der Welt geschafft hat?«

»Er soll seine Frau, die ihm Grund zur Eifersucht gegeben hatte, in einem Wutanfall erschlagen und nachts heimlich mit eigenen Händen im Garten unter einem Holunderbusch begraben haben«, sagte Antal. »Also nimm dich in acht vor mir, Resa, und ärgere mich nicht! Ich spüre manchmal so etwas Dionysisches in mir.«

»Da hast du wirklich recht«, rief meine Schwester. »Es ist nur gut, daß ich den Baron B. immer zu meinem Schutz in der Nähe habe.«

»Vielleicht ist das minder gut, als du meinst«, scherzte der Schwager. »Denn die Eifersucht ist auch ein Erbübel. Und der Holunderbusch steht immer zur Verfügung ...« Und er beugte sich abermals, diesmal mit einer fast wild anmutenden Zärtlichkeit zu seiner Frau nieder, die sich, nicht eben angenehm berührt von dem nicht allzu geschmackvollen Zwischenspiel, dennoch gegen seine Umarmung nicht wehren mochte.

Der Diener war auf dem Altan erschienen.

»Was gibt's, Pali?« fuhr der Hausherr ihm entgegen. Und nach ein paar raschen ungarischen Sätzen zu mir: »Die Zigeuner sind eben heute von einer ihrer musikalischen Reisen zurückgekehrt.« Er wechselte wieder einige Worte mit dem Diener. »Leider fehlt noch der Zymbal, aber er soll ihn holen, der Daniel. Er hat ihn, weil er ihm zu schwer war, im nächsten Dorf gelassen.«

Der Bediente erhielt einen Auftrag und ging.

»Und nun wollen wir uns die Gespensterschauer wegfiedeln lassen und dazu etwas Lustiges trinken. Ja, richtig: wir haben die Pointe der Geschichte vergessen, Gottfried. Der Dionys-bácsi spukt seit seiner Untat. Und allnächtlich wiederholt er sie, erschlägt sein Weib, schleicht zum Holunderbaum, begräbt sie, kehrt zurück und erhängt sich hier im Zimmer. Aber seit er den Haken nicht mehr hat, scheint's Schwierigkeiten zu geben. Die Resa hat's mit ihm aufgenommen, trotz dem Fluch, der daran haftet, daß der Haken entfernt werde.«

»Und siehst du, Gottfried, das ist eben das, was mich an der ganzen Sache ärgert«, beteuerte meine Schwester auf ihre stürmische Weise. »Bis vor kurzem hat noch ein Bild an dem Haken gehangen, der einmal zu einer Fackelzwinge gedient haben soll. Wie oft hat Baron B. dem Bild gegenüber gesessen, ohne etwas davon zu erwähnen!«

»Warum hätte ich von der Sache sprechen sollen, gnädige Frau?«

»Und warum haben Sie plötzlich heute davon gesprochen? Ich meine nicht die Geschichte. Um die haben wir Sie ja selbst gebeten.«

Vier dunkelhäutige, schwarzhaarige Kerle, vor denen man sich hätte fürchten mögen, waren, die Mützen in der Hand, unter vielen Bücklingen auf dem Altan angelangt, und ihnen folgten einige Mädchen vom Hause wie die ganze Dienerschaft in der kleidsamen bunten Volkstracht. Der Schwager stand schon unter dem flüsternden Schwarm. Plötzlich erhob sich seine Stimme zu schneidendem Ton. Meine Schwester war aufgesprungen und hinausgeeilt. Sie schien ihn begütigen zu wollen.

Baron B. erklärte mir, daß es sich darum handle, den Zymbalschläger um sein Instrument nach Hause zu schicken. Der Ort sei etwa zwei Stunden entfernt. Der Mann habe offenbar nicht Lust, den Weg noch in der Nacht zu unternehmen. »Dem Antal darf man nicht widersprechen«, fügte er hinzu.

Mir tat der Mensch leid. Und eben trat auch meine Schwester in größter Aufregung herein. »Ich bitte Sie, Baron B.«, rief sie, »sagen Sie dem Antal, er soll den armen Kerl nicht dazu zwingen. Auf mich hört er ja nicht. Und du, Gottfried, sprich auch mit ihm.«

In seiner leisen Art hatte der Nachbar alsbald unternommen, worum ihn, seinem eigenen Gefühl begegnend, die Hausfrau gebeten hatte. Auch ich legte mich zögernd und ohne Zuversicht ins Mittel. Es hatten sich mehrere Diener eingefunden. Die Szene machte im Mondlicht einen fast theatralischen Eindruck.

»Du kennst ihn nicht, Gottfried«, jammerte meine Schwester. »Er ist so jähzornig. Und auf die Zigeuner hat er's abgesehen. Erst neulich hat er mich in den größten Schrecken versetzt. Er jagt sie immer vom Hof. Und da war vor einigen Tagen so ein armes Weib mit seinem Kind im Arm unglückseligerweise hereingetreten, als er, den kleinen Gyula zwischen den Knien, zum Tor hinausfahren wollte. In seiner Tollheit hat er das Weib, das beiseite gesprungen war, an den geöffneten Flügel gedrängt und es, eingezwängt zwischen dem Wagen und dem Zaun, vor den Augen des Buben mit der Peitsche so geschlagen, daß wir alle auf das Geschrei hin herbeistürzten.«

Ich stand, entsetzt über diese Geschichte; noch heute, nach zwanzig Jahren, ist mir die Vorstellung der fürchterlichen Szene, als hätte ich sie selbst erlebt, ebenso scharf, wie ihr Eindruck gewesen war, in die Seele gegraben.

Mittlerweile hatte sich der Zigeuner kopfschüttelnd und jammernd zu dem entschlossen, wozu den Wehrlosen ohnehin die Furcht trieb. Er machte sich auf den Weg.

Die übrigen setzten mit heftigen Strichen ihrer Geigen ein; eines jener von Schmerz und Wahn lebenden Tanzlieder strömte dahin, das, wie es gewaltsam in die Glieder gefahren ist, sie nicht mehr ausläßt und ihre krampfhaften Bewegungen zu bacchanalischer Raserei hinreißt. Der Altan füllte sich mit den Mädchen und Knechten des Hauses und den Dirnen und Burschen des Dorfes, die, anfangs zögernd, bald aber dahingenommen von der strömenden Musik, der dunkeln Lust ihres jungen Blutes sich ergaben. Auch ich hatte, da sie auf einen Wink ihrer Herrin verschämt und freudig zugleich an mich herangetreten war, die hübsche Jungfer meiner Schwester umfaßt und versuchte mit langsam weitausgreifenden Walzerschritten auf meine österreichische Weise in den Jubel dieser seltsam schwärmenden Töne mich zu fügen. Baron B. schwebte in vornehmer Sicherheit mit meiner Schwester hin. Antal aber stand, die Hände in den Taschen, in der Helligkeit des Türrahmens und schwang und schleuderte, nicht von der Stelle weichend, die Beine in den rhythmischen Wendungen des Nationaltanzes, während die Geiger, befeuert durch das Beispiel des Herrn, immer wütender die Saiten strichen ...

Es war spät geworden, als ich endlich glaubte, auf mein Zimmer verschwinden zu dürfen. Der Kopf dröhnte mir noch von dem tollen Lärmen, auch hatte ich nur zuviel des feurigen Weines genossen, der so flüssig die Kehle hinuntergleitet. Meine vergitterten, weinlaubumrankten Fenster gingen auf den Garten. Sie standen offen. Jenseits zog sich ein welliger Höhensaum. Darüber lag das Weben des verblassenden Mondlichts. Vom Altan her drangen die Geigentöne gedämpft herüber ... Ich suchte, ohne Licht zu entzünden, mein Lager auf. Aber der Schlaf mied mich. Ich überdachte die Geschichte dieser abenteuerlichen Ehe.

Kaum noch dem Knabenalter entwachsen, aber körperlich und geistig längst in ungewöhnlicher Art gereift, hatte der fremde Mensch vor vier Jahren meine Schwester, die er in einem Badeort kaum hatte kennen lernen, buchstäblich erobert, sie gegen den Widerstand sowohl ihrer wie seiner Eltern durch herrisches Ungestüm heimgeführt, die sonst so Ablehnende überrumpelnd und erbeutend. Dann hatten sie eine Zeitlang in Italien, später in der Nähe der Hauptstadt bei Verwandten gelebt und waren endlich, zwei Jahre nach Gyulas Geburt, da sich sämtliche Beteiligte mit dem nicht mehr zu Ändernden abgefunden hatten, auf das Gut von Antals Mutter gezogen, wo sich das lieblich gelegene weiße Haus unter den begnadeten Händen meiner Schwester binnen kurzem zum behaglichsten Heim gestaltete. Der Schwiegervater, der überhaupt vom ersten Augenblick an der aufmerksamen und gewandten jungen Frau seine nicht eben leicht zu erwerbende Zuneigung geschenkt hatte, pries das vernünftige und häusliche Wesen, die fürsorgliche Geschicklichkeit seiner neuen Verwandten einmal über das andere; er wußte sich nichts Besseres, als auf den feinen und doch so bequemen Stühlen in D. zu sitzen, den kleinen Gyula auf den runden Knien zu schaukeln und sich von der in anmutigen Kleidern um ihn flatternden Resa mit gelehrigem Eifer um allerlei Erfahrungen des Landwirts, des Züchters, des Gärtners befragen zu lassen. Sein altmodisches Herrenhaus hinter den wohlgepflegten Rebenhügeln schien ihm seither um ein Erkleckliches düsterer, und nur der Sonntag, wenn im gelben leichten Kutschierwägelchen die Kinder zum üblichen üppigen Festschmaus angefahren kamen, war ihm aus der dumpfen Eintönigkeit seiner sonst vergrämten und verschlummerten Tage auf das glänzendste herausgehoben. Ich wußte das alles aus den lebendigen Schilderungen meiner guten Mutter, die nicht verfehlte, trotz der beschwerlichen und langwierigen Reise ihr Sorgenkind – so oft es sich tun ließ – auf ein paar Tage aufzusuchen, und jedesmal, zwar mit neuer schwerer Sehnsucht beladen, dennoch aber befriedigt von dem empfangenen Eindruck und mit der tröstenden Genugtuung zurückkehrte, die unbesonnen, ja leichtsinnig geschlossene Ehe lasse sich je länger, je sicherer an ... Mir ging die reizende Mädchengestalt meiner gescheiten und bei aller Gefälligkeit anspruchsvollen Schwester auf, ich dachte der zahlreichen mehr oder minder leidenschaftlichen Bewerber um die durch Laune und Lebenslust, Witz und Geschmeidigkeit fesselnde Erscheinung, ich sah in die fernsten Tage unserer glückseligen Kindheit zurück, hörte den Kanarienvogel über ihrem niedlichen Nähtischchen in der tiefen Fensternische des wohligen Zimmers mit den dünnen Stelzchen auf die schmalen hölzernen ›Sprießel‹ springen, sah den goldenen Sonnenschimmer um ihr feines Köpfchen fluten ...

Ein Geräusch an der Tür machte mich auffahren. Ich dachte des Blickes, mit dem der Zymbalspieler dem grausamen Befehl Antals gehorcht, mit fast noch größerem Schauder an den herrischen Ingrimm, der meines Schwagers Augen zu Steinen verhärtet hatte, an den Grafen Dionys, wie er in Wut über seine Frau herfällt, sie erschlägt ... Es war ein Augenblick, aber mir schlug das Herz bis in den Hals.

»Bist du noch wach, Frido?« Es war, fast flüsternd, die Stimme meiner Schwester. Ich fuhr aus dem Bett.

»Ist etwas geschehen?«

»Nein, nein«, erklang es lebhafter. »Ich hätte nur gern eine Weile mit dir geplauscht. Man hat einander so selten und fast niemals ungestört.«

Ich kannte die Neigung meiner Schwester zu solch nächtlichem Plausch noch aus heiteren und melancholischen Tagen, die mir heute mit einem seltsamen Zauber im Herzen dämmerten.

»... Du mußt aber noch einen Augenblick ...«

»Mach keine Geschichten«, rief sie mit der ganzen lieben Schalkhaftigkeit des Mädchens. »Kriech wieder ins Bett und empfang mich, wie du bist.« Und schon stand sie im Zimmer (mir fiel es nachträglich als warnende Mahnung ein, daß ich weder den Schlüssel im Schloß umgedreht noch den Riegel vorgeschoben hatte), einen langen Spitzenschal um den bloßen Hals, die Wangen von Tanz und Wein nur unter den schönen großen blauen Augen leise gerötet, sonst von der gleichmäßigen Blässe übergossen, die oft nach langen Ballnächten der zarten Siebzehnjährigen ein geisterhaft entrücktes Wesen verliehen hatte. Sie setzte sich auf die Randseite meines Bettes und reichte mir die heiße Hand.

»Wird Antal nicht ...?«

»Was? Etwa gar eifersüchtig sein auf den Bruder?«

»Das nicht. Aber ich weiß nicht, ob er diesen nächtlichen Besuch ...«

»Er braucht ihn nicht zu erfahren ...«

»Und wenn er plötzlich käme?«

»Er wird nicht kommen. Der Zymbal ist da, und er vermißt mich nicht.« Es lag etwas Bitteres, fast Gehässiges in dem Ton, mit dem sie lächelnd diese Worte sagte. – »Sprechen wir jetzt nicht von Antal, sondern von uns und von zu Hause. Was macht Mama? Wie geht es Stixl (meinem alten Bulldogg, den ich ihr nicht hatte mitgeben wollen)? Hast du noch immer mittags Schinkenreis und Erbsen? Und geht Papa jetzt schon jeden Abend in die Lesehalle? Du weißt, erst war's bloß Samstag, dann Samstag und Mittwoch gewesen.« Und Fragen über Fragen sprudelten hervor, lauter zufällige Fragen nach Nichtigkeiten, nach den allerkleinsten heimlichen Fädchen unseres einstigen Zaubergespinstes, das uns drei, Mama, Resa und mich, von der Welt abgeschlossen hatte. Ich gab, so gut ich konnte, Auskunft über das geliebte Alltägliche, an dem die nun schon so lange davon Getrennte mit der Inbrunst des Entbehrenden zu hängen schien.

»Und du, Resa? Du bist doch glücklich?« Sie sah mich nicht an, sondern spielte mit den Enden ihres Schals und schob ihr Kinn in die zur hoch hinaufreichenden Schlinge verknüpfte Halsberge: »Ich habe meinen Gyula ...«

»Sonst nichts, Resa?«

»Das ist sehr viel, Frido«, sagte sie innig.

»Gewiß, aber ich meine ...«

»Du willst wissen, wie wir miteinander leben, Antal und ich? Ach Gott, wahrscheinlich ist das niemals anders. Wir sehen einander nicht zu oft. Er ist viel auswärts, hat mit seiner Politik zu tun, Wählerversammlungen und dergleichen Zeug. Manchmal kommt Mama herüber von K., und fast täglich sitzt Papa da und spricht kein Wort ... Aber ich habe viel zu tun im Haus und auch oft Besuch. Und ich fahre viel und spiele wieder Klavier und bin mit dem Buben im Garten und helfe im Dorf den Weibern, wenn sie mich nötig haben und ...«

»Resa, sag mir die Wahrheit!«

Da warf sie sich plötzlich in einem Tränenstrom an meinen Hals und schluchzte ununterbrochen wie in einem Krampf. Ich war verlegen, bestürzt, gerührt, erschreckt. Ich fuhr ihr bloß leise mit der Hand über den Kopf mit dem schönen kastanienbraunen Haar, Mamas Stolz ... Mama! Wie mochte sie jetzt an uns beide denken, sich der Zusammenkunft freuen in der sehnenden Vorstellung! Und wenn sie wüßte! Wie leid tat mir nun die gute Resa, die ich so oft um ihrer Eitelkeit willen, wegen ihrer leichtfertigen Lebenslust, die denn doch wieder nicht Lust, sondern fast ein Spiel gewesen war, sich selbst zur Täuschung, zur Betäubung andringender Zweifel aufgeführt, gezürnt, die ich manchmal geradezu heftig verurteilt, ja verdammt hatte. Was hatte sie von diesem scheinbaren Glanz, einem Glanz, der nicht einmal weithin leuchtete, von dem die Menschen, auf die es einem unterweilen kindischerweise als Zuschauer ankommt, so gar nichts wußten! Sie hatte ein altes Wappen auf dem Geschirr ihrer Pferde, und um den Hals lag ihr ein smaragdener Familienschmuck. Und Graf Dionys von A. spukte in ihren Zimmern ...

Sie hatte mich, unfähig ihrer Erregung sich zu bemeistern, verlassen. Ich wußte, daß sie sich die bittersten Vorwürfe machen würde, mir, gerade mir, dessen Beifall ihr über den aller andern ging, mir, vor dem sie so gerne fest und sicher auf dem Boden ihrer neuen Heimat hätte dastehen mögen, sich also schwach und hilfsbedürftig, ja bedauernswert gezeigt zu haben. Aber mehr als dieser Kummer ihrer Eitelkeit, diese Demütigung ihres Stolzes, dieser Zusammenbruch ihres künstlich und mit Mühe nur aufrechterhaltenen Selbstbewußtseins beschäftigte mich der Jammer selbst, den, mochten ihn schon manche Zeichen dieses Abends dem Mißtrauischen verraten haben, der peinvolle Auftritt mir so schonungslos enthüllt hatte. Und über allem Bangen schon um die nächste Zukunft, über aller Trauer, die mich in der seltsamen Stimmung der Nacht bewegte – noch immer schluchzten und jubelten die silbernen Geigentöne herüber –, erhob sich der Gedanke an meine arme Mutter. Mich quälte die Vorstellung ihres Gemütszustandes, wenn ich ihr das Schicksal Resas würde entdeckt haben. Aber durfte ich es ihr entdecken, durfte ich sie, die Kränkelnde, die Schwermütige, aus dem wohltätigen Wahn reißen, der ihr nach all dem Bangen um die einzige Tochter das Los der Fernen wenigstens gesichert zeigte? Und so sehr ich mich vom Gefühl dafür stimmen lassen wollte, ihr diese fürchterliche Enttäuschung möglichst lange zu ersparen, so sehr anderseits schien eben die – wie es sich mir aufdrängte – geradezu gefährdete Sicherheit der im fremden Land auf sich allein Angewiesenen ein um keinen Preis hintanzusetzender Umstand. Resa, das stand mir fest, ohne daß ich eigentlich wußte warum, war sobald wie möglich aus den bedenklichen Verhältnissen zu bergen, die sich, blieb sie hier, unentrinnbar um sie zusammenschlossen. Ich dachte an Baron B., der mir den Vertrauenswürdigsten Eindruck gemacht hatte. Aber konnte ich, ganz abgesehen von der Preisgabe eines Geständnisses, das dem Bruder wider Willen zuteil geworden war, dem fremden Manne, dem stillen Anbeter vielleicht der ehrerbietig behandelten Gattin seines Freundes, als Schutzbedürftige die Frau überantworten, die willens und willenskräftig genug war, ihre Verteidigung selbst zu führen, die jedenfalls um alles in der Welt nicht, ehe die äußerste Notwendigkeit sie dazu drängte, gesonnen sein mochte, die schwankende Grundlage eines Gebäudes zu verraten, das sie nicht zuletzt vor den bewundernden Blicken des ansehnlichen Nachbars zu errichten alle Kraft aufgewendet hatte? Und was war denn endlich geschehen, das mich so schwarzsehen ließ? Was gab mir, sah ich auch das Schwärzeste kommen, das Recht dazu, vor der Zeit einzureißen, was gegen alle Fährde vielleicht noch sich befestigen konnte? War ich nicht etwa kindisch genug, der gruseligen Hakengeschichte mehr Macht über meine Besinnung einzuräumen, als sich mit der nüchternen Erwägung der wirklichen Verhältnisse vertrug? Mochte Antal, wie er es nannte, noch so viel ›Dionysisches‹ an sich haben: eben dieser herrischen Natur war ja Resa wie unter einem Bann in ihr neues Leben gefolgt, sie hatte mit dem Mann ihrer Neigung – ich wollte das, was man für Liebe hätte halten müssen, mit dieser allgemeinen Fassung sich abfinden lassen – einige Jahre schon gelebt, sie mußte selbst am besten wissen, was von der Entwicklung des eigentümlichen Verhältnisses zu erwarten, zu hoffen, zu befürchten stand. Vielleicht, ja wahrscheinlich würde ich am Morgen alles anders erblicken ...

Beim Frühstück entfaltete Resa, der man nicht das geringste anmerkte, was auf die zum größten Teil schlaflos verbrachte Nacht hätte hindeuten können, den ganzen Zauber ihrer wahrhaft begnadeten Fürsorglichkeit. Sie zeigte eine so kindliche Freude daran, mich, den unverbesserlichen Genießer guter Dinge, mit allerhand köstlichen Bissen zu überraschen und zu vergnügen, war so heiter gesprächig und so unbefangen froh an ihrem großzügigen Hausfrauendasein, daß ich mir immer wieder sagen mußte: »Hätte ihr ein ihr gemäßeres Los zufallen können als solches unbehinderte Schaffen aus der Fülle weiblicher Wirtschaft?« Behaglich lächelnd saß Antal dabei, wie ein gezähmter Wilder kam er mir vor, der dankbar schmunzelnd von leichter Frauenhand sich gängeln läßt und sich nichts Besseres wünschen mag als die milde Breite solchen behaglichen Daseins. Ein Besuch ward gemeldet, der Verwalter. Die Männer zogen sich in das Arbeitszimmer des Hausherrn zurück. Ich blickte durch das Fenster in den von prächtigster Sonne erfüllten Garten, aus dem das helle Stimmchen Gyulas hereindrang. Und an die Brüstung tretend, erblickte ich denn auch den lieben Buben selbst, in sommerlicher Leinentracht, munter mit dem Sandwägelchen spielend, neben ihm die sorgliche ›Dada‹, eine schlanke, peinlich sauber gewandete Bäuerin, mit Zügen, die, wie die getrocknete Haut feuriger Weinbeeren, die rasch zugrunde gehende Schönheit südlichen Stammes aufwiesen. Resa war leise herangekommen. In dem Augenblick bemerkte uns das lebhafte Kind und jauchzte so selig sein aus tiefstem Herzen emporquellendes ›Mama!‹, daß mir die Tränen in die Augen schossen und ich ihr, die ihm mit dem ganzen Körper fröhlich winkte, gegen meine Art die Hand drückte: »Resa, du hast es doch gut!«

»Gott erhalte mir das Kind und mich ihm!« flüsterte sie vor sich hin und dann, meine Hand ergreifend und die großen schimmernden Augen in die meinen senkend: »Gottfried, versprich mir, daß du Mama kein Wort sagst von heute nacht. Versprich es mir!«

Durfte ich ihr den Wunsch versagen? Ich versprach, Stillschweigen über ihr Bekenntnis zu bewahren, fügte aber forschend hinzu: »Und wie denkst du dir das Weitere?«

Sie zuckte die Achseln, indem sie Gyula ein zärtliches Scherzwort zurief: – »Ich sehe manchmal schwärzer, als ich vielleicht Anlaß habe. Antal ist eben von anderer Art als wir, hat nicht soviel Herz. Und es ist vielleicht ein Ballast fürs Leben. Man muß sich abhärten.« Antal war wieder ins Zimmer getreten, aber nur um Resa um den Kognak zu fragen, mit dem er dem Verwalter aufwarten wollte. Das Klirren der kleinen Schlüssel entfernte sich. Ich stand in Gedanken ... Die Sonne lag so herrlich auf dem üppigen Grün, daß ich in den Garten zu gehen beschloß. Ich mußte durch das Dionyszimmer zum Altan. Mein Blick streifte die unheimliche Wand. Auch sie, an die sich einer der weißgerahmten verglasten Türflügel lehnte, war von der warmen Sonne bedeckt. Leise fuhr ich, wie segnend, mit der Hand darüber ...

Am Mittag fuhren wir alle zu Antals Eltern hinüber durch die heitere Landschaft.

Es gab ein nur allzu reichliches Mahl, und manche staubbedeckte alte Flasche köstlichen Tokayers ward geleert. Resa ließ dem Bruder die Ehre des gefeierten Gastes. Es tat ihr sichtlich wohl, sich hier als zur Familie gehörig zu empfinden, und sie betonte, nach meinem Gefühl vielleicht ein wenig zu augenscheinlich, diese Empfindung durch ein Gehaben, das von der Mutter, einer im Gegensatz zu dem schlichten Mann hochgebildeten und förmlichen Dame, wie es mir scheinen wollte, nur mit kühler Artigkeit begleitet wurde. Um so herzlicher war zweifellos der Schwiegervater gegen die junge Frau und das liebenswürdige Kind, während er den Sohn, so wie dieser ihm einigermaßen scheu begegnete, mit einer an dem Gemütlichen doppelt auffälligen Strenge noch wie einen Knaben behandelte. Mutter und Sohn verweilten späterhin in lebhaftem Gespräch. Ich sah den breiten Strohhut der fest Auftretenden immer wieder an dem Fenster vorüberziehen. Es war mir sonderbar, wie wir Geschwister uns fast wie zur Wehr gegen ein unausgesprochenes Bündnis seelisch an den Alten schmiegten, dem wir doch beide innerlich so fern standen. Aber das Kind saß auf seinen Knien und streichelte zärtlich seine vor ihm scherzend kauernde Mutter.

Als ich von Resa Abschied nahm – der Schwager brachte mich zur zwei Stunden entfernten Haltestelle des Schnellzuges –, kämpfte ich entschlossen gegen die mächtig emporwallende Rührung an. Und noch lange sah ich nach dem lieblichen kleinen Hause, das in den Strahlen der Spätnachmittagssonne immer höher auf seinem grünen Hügel sich über die weithin gedehnten Kukuruz- und Weizenfelder erhob.

 

2

Zwei Jahre waren vergangen. Auch ich hatte mich verheiratet und den Lieblingswunsch meiner Mutter erfüllt: sie durfte sich eines Enkels erfreuen, der nicht wie der erste ihrer Sehnsucht fern, sondern ihrer Liebe nahe war, dessen Entwicklung sie mit der zärtlichen Sorge erneuter Mütterlichkeit verfolgen konnte. Zum Sommeraufenthalt hatten wir als Mamas Gäste das alte Landhaus bezogen, das meiner Schwester und mir einst die Wonnen ungebundenen Kinderdaseins gewährt hatte, in dessen weitgedehntem Garten jedes Fleckchen mir von der seligsten Zeit meines Lebens erzählte. Um Mamas Glück voll zu machen, hatte sich Resa mit dem kleinen Gyula für den August angekündigt. Die Wochen bis dahin vergingen der in Gegenwart und Zukunft Beschäftigten in atmender Haustätigkeit, galt es doch, in dem bequemen, aber nicht allzu geräumigen Gebäude alles instand zu setzen, daß sich die verschiedenen Kreise nicht störend ineinander drängten. Zudem sollte Antal auf einige Tage seine Frau begleiten ... Und eines Tages ergab sich das so lang erharrte Ereignis: die kleine Gesellschaft, ›Dada‹, die Unentbehrliche, voll steifer Ehrerbietung im Gefolge, war wohlbehalten eingetroffen, und Mamas weißes Stirnlöckchen erhielt nunmehr unermüdliche Bewegung in leicht flatterndem Schwung. Antal betrug sich mit der gewohnten lauten Höflichkeit. Resa schien mir fast zu heiter. Sie plauderte unaufhörlich, es schwirrte von Namen besten Klanges, alle mit einer Vertraulichkeit angeführt, die den Außenstehenden auf die Dauer fast zum Ärger reizte. Ich nahm die Gelegenheit wahr, bei Mama über dieses törichte Wesen der mir dadurch immer mehr Entfremdeten mit harter Rüge Klage zu führen »Mein Gott, du kennst sie ja, Gottfried!« war die von einem Seufzer begleitete Antwort. »Sie ist in ihrem Element ... Und das ist ja gut für sie ...« Antal reiste nach ein paar Tagen ab. Er hatte mit Resa vereinbart, daß sie ihm nach Karlsbad, wohin er sich in vierzehn Tagen nach Beendigung nicht näher erörterter Geschäfte begeben werde, folgen sollte. Gyula mit der treuen Dada hatten die Rückkehr der beiden bei der Großmutter abzuwarten. Mama war glücklich über die Aussicht, den Enkel noch geraume Zeit bei sich behalten zu dürfen. Als Antal mit seiner immerhin anderen Art von uns geschieden war, machte auch Resas übertriebene Lebhaftigkeit einem insbesondere von mir angenehm empfundenen Gleichmaß Platz. Die jungen Frauen staken nunmehr zusammen; Agnes hatte zu meiner Freude ihre freundliche Zurückhaltung aufgegeben, und wenn sie sich mir gegenüber mit aufrichtigen Worten zu Resas Gunsten erging, erfüllte mich froher Stolz, ja, eine gewisse Zuversicht kam manchmal über mich, die die früheren Sorgen wegen Resas zweifelhafter, ja unsicherer Lage nicht aufkommen ließ.

Dennoch ergab sich ungesucht ein Anlaß, die Eindrücke von D. auf das unheimlichste in mir zu erneuern. Ein Eilbrief Antals, dem eine Depesche vorausgegangen war, hatte Resas Stimmung mit eins verdüstert. Mamas Augen ruhten mit kaum verhehlter Angst auf ihren mühsam gesammelten Zügen. Aber da Resa mit ihren Gedanken nicht aus sich herausgehen zu wollen schien, unterließ jedes von uns eine Andeutung. Nach dem in ziemlicher Einsilbigkeit beendigten Mittagsmahl erklärte Resa plötzlich, am folgenden Tag abreisen zu wollen. Mama, die schon wieder an einer ihrer zahlreichen Handarbeiten saß, nahm die Brille ab und fragte bekümmert und scheu zugleich nach der Ursache des plötzlichen Entschlusses. »Antal will, daß ich ohne Verzögerung nach Karlsbad komme.« – »Und was bestimmt ihn dazu?« – »Das ist nicht so einfach zu sagen, Mama«, meinte errötend die so unmittelbar zur Auskunft Gedrängte. »Er ist dort in Gesellschaft des Ministers G. und seines Anhanges und braucht mich ...« – »Braucht dich?« – »Ja, um ... mit mir Staat zu machen.« Ich senkte die Stirn, ein spöttisches Lächeln vor Mama zu verbergen. Diese aber war nicht gewillt, sich bei der sonderbaren Erklärung zu beruhigen. »Was willst du damit sagen, Resa?« Hilfesuchend wanderten Resas Augen über mich hinweg zu meiner Frau, deren stille kluge Miene keineswegs Befremden verriet. »Agnes wird mich verstehen«, wandte sich meine Schwester an die Schwägerin, die ihr in diesen Tagen so nahe getreten war. »Ich glaube, Mama«, sagte Agnes, »Antal ist eitel auf seine Frau ...« – »Das wäre schon recht«, meinte Mama zögernd. »Aber die ganze Sache klingt so befremdlich.« Resa hatte sich wiedergefunden. Die leichte Stütze hatte ihrer biegsamen Natur genügt. »Er will durch mich den Minister ganz für sich gewinnen. Das bildet er sich nämlich ein. Es ist ein alter Herr, der nicht alt sein will und gern hübschen Frauen den Hof macht. Und da soll ich ihm herhalten ...« Mama schüttelte den Kopf. »Ich kann mich in eure Verhältnisse nicht hineinfinden. Und ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß sie mir gefielen ...«

Ich war aufgestanden und auf die Terrasse hinausgetreten, wo die Nachmittagssonne brütend lag. Alle Wipfel des Gartens standen still. Nicht einmal an den Zitterpappeln rieselten die weißlichen Blätter. Jenseits des Gitters dehnten sich die gelben Felder. Den nahen Wald krönten dichte weiße Wolkenmassen, unbeweglich. Mit seltsamer Deutlichkeit sah ich das Dionyszimmer im Schloß von D. vor mir, die Ecke mit den vier schweren grünen Lehnstühlen, die weißen Flügeltüren, die Wand ... Gyula kam eben hastig die Treppe herauf. »Schau her, Frido-bácsi«, rief er mit seiner eigentümlich warmen Stimme, sich vertraut an mich drängend. Er hielt einen Maulwurf hoch, der sich in seiner kleinen Hand wühlend herumwand. »Der Miro, der schlimme, hat den armen Maulwurf totbeißen wollen. Aber ich hab' ihn so geschlagen, daß er ihn hat loslassen müssen!« – –

Resa war abgereist. Mama hatte geholfen, das Packen zu beschleunigen, als ob es sich um ihr Seelenheil gehandelt hätte. Die ernste Agnes konnte nicht umhin, ihrer verständnisvollen Bewunderung für die vielen kostbaren Kleider Ausdruck zu geben, die Resa mit sich führte. Und Mama, die bescheidene, fühlte sich genötigt, den Prunk zu rechtfertigen. Antal halte darauf, daß Resa in Karlsbad in Glanz erscheine. »Hörst du, Gottfried?« meinte meine Frau, »Antal hält darauf. Und du?« Sie gab mir einen Kuß. Nun hatte Mama zwiefach zu entschuldigen: Resa für ihre Verschwendung und mich für meine Sparsamkeit, wobei sich herausstellte, daß ich im geringsten nicht sparsam wäre, Agnes hingegen für sich selbst nie etwas verwenden mochte.

 

3

Im Herbst hatte ich die Aufgabe, Gyula und seine Dada nach Wien zu bringen, wo sie Resa in Empfang nehmen sollte. Mama konnte das ihr sonst so liebe Geschäft nicht besorgen, da sie ihre schwer erkrankte Schwester pflegte, Tante Marie, die ihren Badeaufenthalt hatte abbrechen müssen, um sich einer nur zu lang aufgeschobenen Operation zu unterziehen. Es waren trübe Tage für uns alle gekommen. Resa hatte erst oft und ausführlich, dann immer spärlicher und kürzer geschrieben. Daß sie nicht selbst gekommen war, den Buben abzuholen, befremdete alle, obwohl niemand etwas darüber sagte. Mama hatte ihr Haus den bewährten Dienstleuten übergeben und war zu Tante Marie in die Heilanstalt übersiedelt. Wir hatten demzufolge unseren Aufenthalt bei ihr abgebrochen, um heimzukehren. Mit tiefer Wehmut war ich noch einmal die stillen Wege gewandelt, hatte alte liebe Erinnerungen beschworen. An einer sonnigen Stelle fand ich die Kinder; denn der fast fünfjährige Gyula befaßte sich gern mit unserm kleinen Peter und bezeigte ihm oft geradezu stürmische Zärtlichkeit. Ich trat auf die an einem Sandhaufen gelagerte Gruppe hinzu. »Nun, Dada«, sagte ich zu der dunkelfarbigen Hüterin ihres vergötterten Pfleglings, der das straff zurückgekämmte schwarze Haar glänzend unter der breitmaschigen bunten Haube den feinen Kopf umspannte – »morgen geht's nach Hause. Da freut ihr euch wohl?« – Sie schüttelte in ihrer ausdrucksvollen Art das mädchenhafte Haupt, wobei sie die Augen zum Zeichen der Verneinung senkte. »Das Bubi hat's besser hier.« Ich wußte, daß sie ihr eigenes Kind bei Verwandten in der Heimat in Pflege hatte. Diese unbedingte Anhänglichkeit an das fremde, so bekannt mir der ererbte knechtische Zug an den Weibern ihrer Klasse auch war, überraschte mich dennoch als Erlebnis. Noch mehr aber die Sicherheit, mit der sie den Aufenthalt in einer ihr unvertrauten Welt dem in Gyulas geliebtem D. unter den Menschen vorzog, die ihr an Blut und durch Gewohnheit nahestanden. »Zu Hause ist es doch am besten«, erwiderte ich, obwohl ich den landläufigen Satz nicht eben mit persönlichem Gewicht hier anzubringen empfand. Sie schüttelte abermals den Kopf. »D. gut«, sagte sie, »hier besser. Mutter gut, Großmutter besser. Mutter bei Mutter zu Hause, nicht in D. Und Gyula gehört zur Mutter.« Verlegen beugte ich mich zu meinem Peter hinab, dessen Wärterin, eine alte Frau, das dumme Lächeln aufgesetzt hatte, das ihren Verkehr mit der Herrschaft kennzeichnete. »Der Peter soll mit«, rief Gyula. »Das geht nicht, Gyula«, erwiderte ich. »Was würde Peters Mama dazu sagen!« – »Meine Mama hat mich auch beim Peter gelassen!« – »Ja, bei der Großmutter«, wandte ich ein. »Und gern hat dich die Mama auch nicht einmal bei der Großmama gelassen. Sie möchte dich auch schon wiederhaben. Und morgen fahren wir ihr nach Wien entgegen.« –

Meine Frau kam den Kastaniengang herunter. Gyula eilte ihr entgegen. »Agnes-néni, laß den Peter mit nach D. fahren!« schmeichelte er. Ich winkte dem Knaben und ging mit ihm, der sich an meinen Arm schmiegte, den Weg am Wohngebäude vorbei zu den Glashäusern. »Wir wollen noch einmal durch den ganzen Garten gehen. Glaub mir, Gyula, auch der Frido-bácsi ist traurig, daß er schon fort muß.« Und so wandelten wir hinterm Hause den gewundenen Steig empor und bogen in den Obst- und Gemüsegarten ein. Es war feierlich still. Selten nur kam aus den Weinbergen der klagende Ruf der Wächterpfeifen. Die langen, geraden Gänge zwischen den von Stachel- und Johannisbeersträuchern eingerahmten Rebenpflanzungen gaben gerade uns beiden Raum, wie wir so aneinander hinwandelten. ›Eines fremden Mannes Kind‹, dachte ich unwillkürlich, ›meiner Schwester einziges Kind, mir nah und fern zugleich. Und wir zwei in dem alten Garten auf den Pfaden meiner eigenen Kindheit schreitend, die mir nah und fern zugleich ist. Was ist zwischen mir und diesem Kinde? Wie hange ich mit meinem Ich von einst zusammen, das ich immer wieder an mich selbst verliere und in das ich immer wieder aus mir selbst mich entferne?‹ Und meine Gedanken bemühten sich um die Vorstellung der mir durch ihren dermaligen Aufenthalt, ihre dermalige Umgebung entfremdeten Schwester, deren Sohn vertrauensvoll an meiner Seite ging, um die Vorstellung meiner Mutter, die jetzt in einem dumpfen Krankenzimmer neben der der bewußten Welt immer mehr entschwindenden Schwester saß und traurig durch das Fenster in den dämmernden Sommerabend hinaussah. Eine Last drückte mein Herz, gemischt aus Bangigkeit, Abschied und süßer Erinnerung. Ich hatte das Bedürfnis, dem kleinen Verlassenen neben mir etwas davon mitzuteilen. Aber ich sagte bloß: »Wenn in dem Garten hier die Äpfel und die Birnen, die Trauben und die Pflaumen reif sein werden, wird niemand von uns hier sein ...« Da der Lebhafte noch immer schwieg, blickte ich nach einer Weile auf ihn nieder. Die blauen Augen standen ihm voll heller Tränen. Aber der kleine Held hatte sie mir verbergen wollen. Wie ertappt, machte er sich von mir los und lief, da sich der Weg gabelte, zu dem alten Lusthaus, um dessen erblindete Fenster wilder Wein sich rankte ...

Die klare Stimme meiner Frau rief nach uns. Es war wie ein Licht, das in der Dunkelheit einer einsamen Wanderung plötzlich ausstrahlt ...

Ich hatte Resa ihren Buben wohlbehalten übergeben können. Sie hielt sich nicht lange in Wien auf, wollte uns nicht einmal besuchen und versprach, bald wiederzukehren. Wir speisten auf dem Bahnhof im Freien. Die Lichter zwischen den Kübelgewächsen, die Hast der Menschen, das Anrollen der Wagen – alles ebensoviel aufregendes Vergnügen für das Kind – machten auf mich nach der mehrwöchigen Stille des alten Gartens einen verstörenden Eindruck. Und Resas zerfahrenes Wesen verstärkte ihn, wenn es ihm nicht überhaupt zugrunde liegen mochte. Sie erzählte von den geräuschvollen Tagen, die sie in Karlsbad verbracht hätte. Mit welchem ihr an ihm unvertrauten Staat Antal aufgetreten sei. Wie man ihnen, da sie, eine größere Gesellschaft, den bekannten Minister an der Spitze, einen nahen Ausflugsort besuchten, dort geradezu wie Fürstlichkeiten gehuldigt habe. Namen schwirrten auf. Ich gedachte, peinlich berührt von einem sogar mir gegenüber, dem sonst gescheuten Urteiler, festgehaltenen Abenteurergehaben, der eigenen, noch immer nicht völlig überwundenen Gefallsucht, der zähen Wurzel mancher als Tatsache nicht schwerwiegenden, aber als Vorstellung drückenden Unwahrheit; schaudernd sah ich in der gefälligen Erscheinung eines jungen, wohlgebildeten Weibes das Zerrbild einer bösen Anlage, die, verachtet und bekämpft, aber unzerstörbar, auch in mir umging.

 

4

Im Spätherbst hatte ich mit den Meinen auf ein paar Wochen ein um diese Jahreszeit von lästigen Sommergästen bereits verlassenes Alpental aufgesucht. Ich freute mich der herrlichen klaren Tage in den langsam welkenden stillen Wäldern. Oft trug ich stundenlang den kleinen Peter, ruhig an der Seite meiner Frau über weichen Moosboden hinschreitend, den bald sprudelnd plätschernden, bald dunkel über riesigen Lattichblättern hingurgelnden Gebirgsbach entlang. Wir hatten einen Wagenausflug zu einer hochgelegenen Meierei unternommen, saßen auf grünen Bänken, eine verfallene Kegelbahn zur Seite, während Hühner uns scharrend umpickten, am einfachen Mahle, als das heftige Rumpeln eines heraneilenden Gefährtes uns aufschauen machte ... Mama! Mit was für Gefühlen ich ihr entgegenflog! Wie ich die Erschöpfte, die zu lächeln versuchte, die Peter stürmisch liebkoste, mit stummen und halben Fragen bedrängte! – Sie hatte sich am Morgen aufgemacht, war vormittags in Wien angekommen, hatte den nächsten Zug nach unserer Einsiedelei benutzt und war, da wir zu Hause unser Ziel hinterlassen hatten, alsogleich im Wagen uns nachgefahren. Sie, die ihr Hauswesen im Stich gelassen hatte, um sich mit Hintansetzung jeder Bequemlichkeit der Pflege ihrer Schwester zu widmen, war zu dem ihrer festen, geraden Art gemäßen Entschluß, mich unverzüglich aufzusuchen, durch einen Eilbrief bestimmt worden, der ihr Fühlen nun einzig beherrschte. Resa schrieb aus D., es wäre alles aus, Mama möchte sie heimholen. Sie wolle nicht unbegleitet von D. scheiden, damit ihre Abreise nicht einer Flucht gleichkäme und ihr etwa noch aus dem Umstände durch Rechtsdeutelei der Verlust des einzigen entstünde, was ihr geblieben wäre, ihres Kindes. Mama hatte mir den Brief gereicht, während sie sich, als schüttle sie einen Traum ab, mit größter Teilnahme Agnes und dem Enkel zuwandte. Ich las die fliegenden Züge der lange nicht erblickten Handschrift mit einem stillen Entsetzen, das mir die Kehle krampfhaft verengte. Ich starrte noch immer auf die feinen schwarzen Zacken des kleinen Krönchens über den dem Briefkopf aufgesetzten Anfangsbuchstaben, die violetten steilen Zeichen darunter schienen sich wie unter einem Hauch zusammenzudrängen ... Dionys-bácsi! ... »Resa, du hast verspielt«, klang es mir tonlos im Innern ... Mama war gekommen, mich zu bitten, für sie, die Tante Marie nicht verlassen könne, die traurige Fahrt zu unternehmen. Sie wüßte, welches Opfer ich ihr brächte, aber sie vertraute meiner Liebe zu ihr und Resa ... Ich war erschüttert, beschämt von der innigen Zaghaftigkeit, mit der sie sich mir gleichsam an die Seele legte. Gewiß, es stiegen sogleich peinigende Gedanken in mir auf: ich sollte meine Frau, mein Kind an fremdem Ort verlassen, mich auf die öde Fahrt begeben, unangenehmsten Eindrücken, unberechenbaren Ereignissen entgegen. Aber wenn ich auf dieses in mühsam beherrschter Qual erblaßte liebe Gesicht, in die flehenden Augen blickte, wenn der Schatten ihrer verzweifelten Sehnsucht nach der vielleicht gefährdeten Tochter über meine dafür nur zu empfängliche Seele hinflutete, da galt nur eines: das Unvermeidliche, das Selbstverständliche auch mit der Sicherheit zu vertreten, wie ich es notwendigerweise mir übertragen empfand.

Noch an demselben Abend trat ich die Fahrt nach D. an. Wie einst zu so manchem uns zwei schwere Herzen quälenden Abschied von Mama auf den Bahnhof begleitet. Es war völlige Nacht. Die Dunkelheit war an wenigen Stellen von armseligen Lampen kaum unterbrochen. Die kleine Haltestelle, fast menschenleer, hatte etwas unsäglich Trostloses. Wir schritten harrend hin und her die Schienen entlang. Der mit düsterroten Augen hereinstampfende Zug trennte endlich unser trauriges Gespräch. Heftig umarmte mich Mama. Mutig riß ich mich los. Der durchdringende Pfiff, dann das marternd zum erneuten Gestampf ansetzende Schüttern des schwerfälligen Eisengefüges ... Unter einer Laterne sah ich die schmale dunkle Gestalt noch einen Augenblick. Dann trat ich in das karg erhellte Innere des Wagens. Das lästige Gegenüber stumpf hindämmernder Mitreisender blieb mir erspart. Ich schloß mich in meinem kleinen Abteil ein, legte mich lang auf den Rücken, das Reisepolster unter den Nacken geschoben, entzündete eine Zigarre und starrte auf die halbverhüllte Lampenglocke, darin eine flackernde Flamme gluckste ... Nachmittags, noch vor wenigen Stunden in ahnungsloser Seelenheiterkeit in reiner hoher Herbstluft, Frau und Kind an meiner Seite und nun, von Sorgen und Sehnsucht verzehrt, im verhaßten Eisenbahnzug, der mich fernhin von meiner stillen Welt entführte, trüben, peinigenden Erlebnissen entgegen. Es war doch gut, daß der Mensch nicht vorauszuwissen verdammt war, was ihm bevorstand ... Und nun erst Mama! Aufgescheucht aus dem Dunkel der brütenden Gedanken wie durch einen Blitzstrahl, hatte sie sich aufgerafft, der Sorge für die sterbende Schwester entsagend, mit der Angst vor der opferheischenden Bitte beschwert, den Sohn seinem Glück entrissen, ihn, sich zur neuen Mühsal, in die Fremde gejagt, einer Aufgabe zu obliegen, die ihre Angst sie selbst zu erfüllen trieb; nun kehrte sie in der Oktobernacht, ein trauriger Gast, zurück in das aus seinem Frieden gestörte Hauswesen der Schwiegertochter, die sie am kommenden Tage heimzubringen übernommen hatte ... Ich dachte an den unheimlichen Abend nach Resas Hochzeit, die auf dem alten Landhaus stattgefunden hatte: die Neuvermählten waren, von mir und einem leicht angetrunken lärmenden Stiefbruder des Bräutigams begleitet, abgereist. Mama war unter den fremden Gästen zurückgeblieben; im ausgeräumten großen Zimmer nebenan bearbeitete ein bezahlter bleicher Musikant, der ehemals vielen unserer fröhlichen kleinen Tanzfeste schon aufgespielt hatte, das Klavier. Mietdiener boten vom Walzen erhitzten Mädchen, den Brautjungfern, beflissen Limonade. Zigarrendampf zog wölkend durch alle die reinlichen Räume, und Mama saß, todmüde von der Mühe dieser gehetzten Tage, mit einem erschlafften Lächeln um den schmerzverhängten Mund an der seines größten Schatzes beraubten, von allen guten Geistern verlassenen Stätte neben einem Husarenobersten, der sich gelangweilt in faden Höflichkeiten überbot, das Morgen, das öde, endlose Morgen vor den Augen der Seele ... Ich dachte an D., an Resa, an Gyula, an die Sommernacht, die erfüllt war von den schluchzenden Fiedeln der Zigeuner, an den Besuch der Schwester bei mir. Ich sah Baron B. vor mir, hörte ihn mit seiner zögernden Stimme die Geschichte des Grafen Dionys erzählen ...

Ich hatte noch in der Nacht Gelegenheit zur Weiterreise. Müde, wie ich war, und nach reichlichem Weingenuß durchschlief ich die Stunden trotz Rütteln und Stocken des langsamen Zuges und erwachte nach acht Uhr nicht allzufern von der Haltestelle, von wo man den Wagen nach D. zu benutzen hatte. Unwillkürlich sah ich mich nach Resas Kutscher um ... Es gelang mir, einen schlechten Wagen aufzutreiben, der sich dann rumpelnd mit mir in Bewegung setzte ... Wie fern lag mein Daheim, mein sonstiges Leben! Resa, die ich mir nun lebhafter vergegenwärtigte, erfüllte mir bereits das Gemüt ... Nach einer mehr als zweistündigen Fahrt tauchte endlich klein und weiß das Haus von D. am Horizont auf, und schwer lastende Bangigkeit erfaßte mein Herz. Langsam, in endlosen Windungen durch eintönige Felder, immer wieder an einsam aufragenden Ziehbrunnen vorüber, näherten wir uns dem ›Schlosse‹. Das weithin hallende Geräusch des Wagens mochte die in Unrast Harrende ahnungsvoll ins Freie gelockt haben; sie wußte ja, wann ungefähr man von der Haltestelle in D. einzutreffen die Möglichkeit besaß –: Resa stand wie einst beim Abschied an der Schmalseite des lieblichen Hügelchens, voll von der milden Mittagssonne beschienen. In den Farben des Herbstes prunkten um sie und hinter ihr Garten und Wald. Wortlos winkte sie mir. Ich grüßte mit dem Hute. Mir war seltsam, geradezu feierlich zumute ... Das Haus gewährte denselben friedlichen Anblick. Gyula kam auf einem Dreirad durch die offene Halle gefahren. Hinter ihm mit ernstem, nickendem Grüßen seine Dada. Er war wieder völlig zu Hause, erzählte mir sogleich von seinen Hühnern und Kaninchen und wollte mich zu den Fohlen und Schweinen ziehen.

»Laß jetzt den Frido-bácsi«, beschwichtigte ihn Resa. »Er ist müde und schmutzig von der langen Reise. Er muß sich waschen und umkleiden ... Nun, und nach der Großmama fragst du gar nicht?« – –

Ich mochte nicht mit Fragen auf die Schwester eindringen, die sich so mutig und gefaßt zeigte, deren Ruhe mich staunen machte. Nur Mamas Grüße hatte ich ihr übermittelt und mich erkundigt, ob man meine Ankunft und ihr Befinden der Besorgten depeschieren könne.

Erst als wir, während Gyula noch säumte, zum Mahle niedersaßen, das mit der gewohnten Trefflichkeit sich darbot, erfuhr ich in Kürze das Wichtigste dessen, was wir nach dem Essen im Dionyszimmer ausführlich besprachen.

Schon in Karlsbad hatte es heftige Auftritte gegeben, da Resa den ungemessenen Aufwand, den Antal trieb, mit zagenden Worten berührte. Er hatte ihr verboten, Gyula bei Mama abzuholen, auch ihre Briefe nach Hause überwacht. Als sie den Knaben nach Pest gebracht hatte, war er ihr mit Forderungen nach der Fertigung von Wechseln an den Leib gerückt, hatte sie, da sie sich weigerte, mit heftigen Drohungen eingeschüchtert und seinem Willen gefügig gemacht. In D. hielt er sie geradezu eingesperrt, während er tagelang abwesend blieb. Einmal war seine Mutter erschienen und hatte ihr in kühlen Worten nahegelegt, sich von Antal zu trennen, damit er eine reiche Heirat eingehen und seine zerrütteten Verhältnisse wieder in Ordnung bringen könnte. Sie hatte mit Geistesgegenwart erklärt, daß sie seinem Glück nicht im Wege stehen wollte, keineswegs aber gesonnen wäre, durch ein auch anders zu deutendes freiwilliges Scheiden ihm die schmähliche Lage zu erleichtern.

Ich hatte nach Baron B. gefragt. Der liege krank auf seinem Schlosse. Sie wünschte nun in aller Ruhe ihre Sachen zu packen und den Haushalt aufzulösen. Und Antals Vater? Der wisse von nichts. Ich war betroffen. »Ja«, lächelte sie bitter, »Mama ist aus dem Geschlechte der Grafen von A. Sie hat eine feste Hand und ein kaltes Herz« ... »Und soll ich nicht? ...« Sie fiel mir ins Wort. »Was wolltest du erreichen? Nein, nein. Da ist nichts zu machen. Und ich habe ja nur eine Sorge: daß er mir den Buben läßt!« Ich sah ein, daß wir diesem Einverständnis von Mutter und Sohn gegenüber wehrlos wären. »Wo ist Antal?« »Ich weiß es nicht.«

Der Tag verging, ohne daß wir Hand an die Dinge legten, welche abzumachen waren. Am Abend, nachdem Gyula zu Bett gebracht war, saßen wir um den runden Tisch. Die Lampe brannte ... Ich legte die Zigarette in die Aschenschale und horchte dem klagenden Gesang des Käuzchens ... Plötzlich sah mich meine Schwester mit angstverzerrten Zügen an: »Hörst du nichts?« Es war ein Lufthauch durch das Gemach gegangen. Wir horchten, mir klopfte das Blut in den Schläfen ... Die Lampe summte. Endlich ermannte ich mich. »Resa, du mußt fort«, sagte ich mit gedämpfter Stimme, als fürchtete ich, von jemand vernommen zu werden. Sie nickte mit dem Kopfe. Ihre Augen sahen ins Leere ...

Als sie mich auf mein Zimmer begleitet hatte und mich nach einem forschenden Rundblick, ob es mir an nichts gebräche, mit einem Gutenachtgruß verlassen wollte, fragte ich sie schüchtern, ob sie nicht wünschte, daß ich irgendwie in ihrer Nähe bliebe. Sie lächelte. »Meinst du, daß mir Gefahr droht? Antal wird mich nicht umbringen. Und wird sich nicht erhängen ...« In der Türe sah sie sich noch einmal nach mir um. Da war nichts mehr von jenem Wesen an ihr, das sie mir entfremdet hatte. Ihr Schicksal lag unter ihr. Sie schob es mit dem Fuße von sich.

 

5

Wenig geeignet, Resa im Ordnen und Packen ihrer Sachen beizustehen, hielt ich mich zu Gyula, saß an den schönen Tagen, die unseren Abschied erschwerten, mittags im Garten bei seinen Spielen und besuchte mit dem lebhaften Kinde die Stätten seiner Freude, Stallungen und Gehege, den Hühnerhof, die Schmiede, den Ententeich. Am Ententeich war es, wo uns Mezöfy Sándor aufsuchte, der Pate Gyulas, ein alter Mann in schwarzer ›Volkstracht‹, die engen Csismen Hohe Röhrenstiefel und der hohe Beilstock in sonderbarem Gegensatz zu der großen Hornbrille, die dem von einem vollen runden Bart eingerahmten Gesicht ein gelehrtes Aussehen gab. Sándor-bácsi besaß auch gerechten Anspruch auf solchen Schein, denn er war seines Zeichens Rechtsanwalt und Notar der Kreisstadt, Archivar und Altertümler aus Neigung. Ich kannte ihn von Verlobung und Trauung her, hatte ihn auch während meines ersten Aufenthaltes in D. besucht und es diesmal nur deshalb unterlassen, weil ich mich scheute, den Zweck meiner Anwesenheit ohne Not preiszugeben. Er wußte alles und drückte mir herzlich die Hand. Ich hatte es ebenso wie Resa bisher vermieden, den kleinen Gyula aus seinen Himmeln zu reißen. Um so mehr erschrak ich, als der Alte in seiner Weise – er mischte sein psalmodierendes Ungarisch brockenweise mit deutschen Wörtern – das Kind beschwor, der Heimat auch in der Fremde treu zu bleiben. »Und vergiß nie«, sagte er, indem er ihm wie einem Manne mit anhaltendem Druck die Hände hielt, »was du deinem Namen schuldig bist.« Gyula, eingeschüchtert von der selbst an dem stets Sonderbaren ungewöhnlichen Haltung, fragte ängstlich: »Warum soll ich denn von D. weggehen?« Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm, so gut es anging, zu sagen, daß er und seine Mama eine Zeitlang bei der Großmutter wohnen würden. Er sah mich forschend an. Der Alte hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. »Aber die Dada geht mit?« »Gewiß, die Dada geht mit«, beeilte ich mich zu versichern. Und Dada, die unhörbar in unserer Nähe verweilt hatte, bestätigte es in tiefsten Kehllauten. Den Vater hatte das Kind offenbar längst gelernt zu entbehren. Sándor-bácsi begleitete uns in das Haus und hatte mit Resa eine Unterredung, als deren Ergebnis sie mir mitteilte, daß er es übernommen habe, den Vater Antals zu gelegener Zeit von allem zu unterrichten, auch, was ihr besonders am Herzen lag, es zu rechtfertigen, daß sie im Hause einer Frau, die sie vertrieben hatte, nicht mehr erschienen wäre.

Antal hatte nichts von sich hören lassen. Als wir zum letzten Male den leichten Wagen bestiegen, dessen Kutscher in seinem kleidsamen Staat, die bunten Bänder von der zierlichen Kappe herabwallend, mir wie der symbolische Epilog dieses tragischen Spiels von einer unwahrscheinlichen Ehe dünken wollte, lenkte eben ein anderer Wagen um die Ecke. Es war Baron B., dessen Blässe sowohl wie die Mühseligkeit, mit der er sich, unterstützt von einem Diener, erhob, um uns zu begegnen, nur zu deutlich von der schweren Krankheit kündeten. Er ließ es sich nicht nehmen auszusteigen. Aber da Resa sich nun anschickte, mit ihm in das Haus zurückzugehen, hielt er sie am Arm davon zurück mit dem Ausdruck solchen Schreckens, daß mir sogleich der Eindruck des Entsetzens wiederkehrte, mit dem er damals die Entfernung des Dionys-Hakens aufgenommen hatte.

»Keinen Schritt mehr zurück!« sagte er, sie fast mit Gewalt an den Wagen drängend, und stellte sich wie zur Wehr vor die Erstaunte. Ich mußte an den Aberglauben denken, den Mama mir eingeimpft hatte, da sie niemals duldete, daß ich auf dem Wege zu einem Ziel umkehrte. Aber der Ernst, der sich in den feinen bleichen Zügen kundgab, bannte das in mir aufsteigende Gefühl der Überlegenheit. »Dieses Haus ist verflucht«, sagte er und richtete sich an seinem Stock und dem Arm des Dieners in die Höhe, der mit hingebender, fast zärtlicher Aufmerksamkeit den tastenden Bewegungen seine junge Kraft lieh. »Gott schütze Sie, Frau Resa, wie er Sie bisher beschützt hat!« Und er beugte sich auf ihre Hand nieder und drückte einen ehrerbietigen Kuß darauf. Dann drängte er meine Schwester, die, ergriffen, nicht zu antworten vermochte, sanft an den Wagentritt, nötigte sie wie ein willenloses Kind, wieder einzusteigen, drückte mir stumm die Hand und winkte mir, ihrem Beispiel zu folgen. Wir hatten wie unter einem mächtigen Zwang gehorcht. Der Kutscher wandte sich um. Baron B. rief ihm ein befehlendes Wort zu. Die Pferde zogen an ... Jetzt erst fand meine Schwester die Sprache wieder. »Leben Sie wohl, Baron B.«, rief sie, ein Schluchzen, das sie erschütterte, kaum bekämpfend. »Und Dank, vielen Dank für Ihre Liebe ...!« Der Baron hatte sein Haupt entblößt und grüßte schweigend mit leicht winkender Hand ... Gyula, neben Dada auf dem Vordersitz, hielt eine zahme Taube in den Armen. Als die Pferde um das Haus bogen, entriß sich das geängstigte Tier seiner Umklammerung und erhob sich flatternd über uns. In den Strahlen der sinkenden Sonne glänzte das weiße Gefieder wie Silber. Sie ließ sich auf den First des Hauses nieder. Gyula war im Begriff, heftig zu weinen. Aber ich faßte seine Hand: »Sei ein Held!« rief ich. »Zeig, daß du ein Held sein kannst. Helden weinen nicht.«


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