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Die Sängerin

Den blanken Zylinder mit der im Gelenk unnatürlich versteiften linken Hand wie zu verbindlicher Abwehr vorgestreckt, das Programm und die violetten Sitzscheine zwischen zwei Fingern der gleichfalls weißbehandschuhten Rechten, das glattgescheitelte Haupt über den ein wenig emporgezogenen Schultern hinabgeneigt, drängte sich Herr Alexander Schreiner, ein junger Beamter des Ministeriums für Verkehrswesen, durch das an den Sesselreihen gestaute Publikum der Stehplätze. Langsam nur, in kurzen Schritten, zögernd kam er weiter. Vor ihm schritt mit frei, leicht und stolz getragenem Halse seine Frau, eine hochgewachsene schlanke Blondine, in schwarzem, jettbesetztem Seidenkleide. Man machte ihr, die geradeaus sah und Fächer, Opernglas und Spitzenkopftuch nachlässig hob, beflissen Platz. Herr Schreiner, viel kleiner als die Gattin, fühlte sich zu Dank verpflichtet, empfand aber dunkel, daß man ihm darum nicht anstände. Dies verursachte ihm einige Verlegenheit. Er spürte, wie sich seine sorgfältig rasierten Wangen allmählich mit einer dunkeln heißen Röte überzogen, die er an sich nicht leiden konnte. Endlich waren sie, vom Saaldiener geführt, zu ihren Plätzen gelangt, die unangenehm genug gelegen waren: auf dem Podium selbst und in der ersten Stuhlreihe, so daß die Kammersängerin bei ihrem wiederholten Auftreten zweimal an Herrn Schreiner als dem Inhaber des linken Ecksitzes vorüberzugehen, ja sich mit einiger Unbequemlichkeit an ihm vorbeizuschieben gezwungen sein mußte. Als Herr Schreiner kaum seinen Platz eingenommen und, nachdem ihm ein höflicher Versuch, den allzu eng an den benachbarten anstoßenden Sessel etwas abzurücken mißlungen war, mit betonter Gelassenheit Bein über Bein gelegt hatte, so daß über dem um die starken Knöchel stramm wie ein Handschuh schließenden schmal geschnittenen Lackknopfschuh der straff angespannte durchsichtige schwarze Halbseidenstrumpf zum Vorschein kam und das tadellos gebügelte Beinkleid mit seinem tulpenförmig verbreiterten Ende vorn steif in die Höhe stand, trat auch schon hinter seinem Rücken die nach der ersten kurzen Pause nunmehr bei ihrer dritten Nummer angelangte Kammersängerin mit schwirrendem Rauschen ihrer seidenen Untergewänder wieder gegen die Zuhörerschaft hervor. Es schien Herrn Schreiner, als sei sie an ihm voll unverhohlener Verachtung vorbeigeschritten; jedenfalls hatte sie die verspäteten Ankömmlinge keines, auch nicht des flüchtigsten Blickes gewürdigt. Nun stand sie neben dem schwarzen, glänzenden Flügel im Lichte vieler elektrischer Glühlampen. Sie legte ihre Lorgnette und das Spitzentaschentuch hart an dem äußersten Rand auf dem mächtigen Instrument nieder – der Klavierspieler rückte rasch beide Dinge noch etwas weiter von sich weg, offenbar, auf daß die lange Perlenkette des Augenglases nicht irgendwie anstoße und störend mittöne –, verneigte sich leicht, mit einer fast unmerklichen Beugung des kräftig und gerade gewachsenen Nackens, räusperte sich, indem sie mechanisch wieder nach dem Taschentuch griff und es an die kurze Oberlippe drückte, wandte sich dann mit einem lautlosen Zeichen an den wartend zu ihr aufblickenden Begleiter und begann.

Sie sang ohne Notenblatt, die Finger im Schoße vor dem übermäßig eingeschnürten Leib gefaltet, und bewegte manchmal, als gäbe sie sich bezwungen der Gewalt der Töne hin, leise den Oberkörper in der Richtung zum Publikum. Sie trug ein mit blaßroten Blumen bemaltes und mit einzelnen ebenso gefärbten Bandschleifen bestecktes eng anliegendes weißes Kleid, das in ziemlich tief hinabreichendem keilförmigem Ausschnitt den durch eine dünne Tüllschärpe kaum geschützten vollen Busen sehen ließ. Ihr Rücken war geschmeidig, sein Schwung von den Schultern zu den Hüften von vollendeter Schönheit. Die Sängerin, unausgesetzt so nur im Profil zu sehen, konnte auf die Dauer nicht von angenehmster Wirkung bleiben. Wenn sich auch beim Singen die Backen sehr weich, fast zärtlich rundeten und die reizende Linie des Rückens für den vollen Anblick der reifen Frau entschädigte, so wirkte doch der ungewohnte Standpunkt im ganzen wenig vorteilhaft auf die Beurteilung ein. Das von entstellendem Öffnen des mittelgroßen, männlich festen Mundes begleitete ›beredte‹ Singen erschien nachgerade im höchsten Grad unnatürlich, die von Koketterie nicht freien wiegenden Bewegungen des Oberleibes gegen das Publikum hin waren geeignet, durch ihre Wiederholung zu verstimmen, und die breite Front der gedrängten Zuhörerschaft zumal störte und ärgerte zugleich. Da saßen in den vordersten Reihen meist ältere Herren und Damen von Rang und Ansehen, bemerkenswert durch gesellschaftliche Stellung und Glücksgüter, junge, im elektrischen Lichte fahl erscheinende Frauen in kostbaren Toiletten, mit glitzerndem Schmuck und den getrübten Augen übermüdeter Vergnügungssüchtiger, steife, schmalwangige Mädchen, denen die Gesangslehrerinnen den Besuch des Konzerts dringend angeraten hatten, alle in Positur, niemand in einer natürlichen Haltung, die Nachbarn einander wechselseitig beobachtend, jedermann dabei voll Begehren, selbst beobachtet zu werden. Diese Leute – Herr Schreiner stellte das mit Verachtung fest, obwohl er selbst zur ›Kunst‹ keine andere Beziehung besaß als die eines seinen Platz bezahlenden Theater- und Konzertbesuchers, – diese Leute neigten alle den Kopf ein wenig zur Seite und trachteten mit größerem oder geringerem Erfolg, sich ein sehnsüchtig-träumerisches Aussehen zu geben. Sie spielten die auf den Flügeln des Liedes dem Irdischen Entrückten, sie schwärmten mit zierlich verschränkten oder in eleganter Andacht ruhenden Armen. Sie hatten sämtlich eine unsäglich dumm-gerührte Miene, vielmehr eine Maske von holder Menschenfreundlichkeit und zerfließender Milde, die den Hohn geradezu herausforderte. Alles das in Verbindung gebracht mit der vorgeneigten Sängerin, die, wenn sie ihre Stimme zur schmelzenden Flöte versüßte, unwillkürlich und doch mit Bewußtsein (sie drückte die angespannten Lider ein) die Augen schloß, das dröhnende Beifallsklatschen nach jedem der kurzen Lieder, die Wichtigtuerei des notenblattwendenden Gehilfen, eines unruhigen jungen Menschen mit dichten Künstlerlocken und erregt leuchtenden schwarzen Kirschenaugen, ließen eine weihevolle Stimmung am wenigsten bei Herrn Schreiner aufkommen, der mit seiner anfänglichen Verlegenheit durchaus noch nicht fertig geworden war und nur allmählich versuchte, mit flüchtig streifenden Blicken sich des überfüllten Saales zu bemeistern. Auch Herr Alexander Schreiner gehörte zu den Menschen, die in der Öffentlichkeit nichts in seiner natürlichen Beschaffenheit aus sich herauslassen, die ihre echten Empfindungen und Bewegungen unter der Gewalt einer übermächtigen, weil als viel zu wichtig erachteten Außenwelt in einem spitzen Winkel, einer falschen Nuance brechen. Wenn er seine Arme ineinander legte, tat er es mit dem Gefühle: Jetzt lege ich meine Arme ineinander. Wenn er nachlässig seine Finger betrachtete, geschah es mit dem verschnörkelten Motto ›gepflegte Nachlässigkeit‹. Dazu kam, daß er seiner selbst nie ganz sicher war, immer irgendwelche eingebildete Gefahren bestand, sich immer irgendwelchen angstvoll gewärtigten Unannehmlichkeiten ausgeliefert sah. Er war sich jedes roten Flecks seines Gesichtes, jedes an seinen Handschuhnähten hervortretenden Fadenendes bewußt. Er bangte beständig um peinliche Toilettefehler, spürte die Blicke aller ihm im Rücken Sitzender etwa auf eine vom allzu hohen Kragen aufgeriebene und bereits entzündet schwellende Stelle seines Nackens gerichtet. Nicht am wenigsten fürchtete er die stillschweigende Kritik seiner gelassenen blonden Frau, besonders ihren nur durch ein feines Lächeln sich verratenden gutmütigen Spott. Heute beunruhigte ihn mancherlei. Zunächst sein allzu sehr den Blicken ausgesetzter Platz, dann die Nähe der Sängerin, endlich auch das Publikum im einzelnen, denn er hatte schon eine Anzahl, wie er meinte, teils mißgünstiger, teils lieber vermiedener Bekannter entdeckt. So saß er, aufgebracht über sein ängstliches Schwitzen und die ihm an sich überaus verhaßte Ausdünstung durch seine Aufregung nur noch steigernd, äußerst mißgelaunt, gedrückt, eingesunken neben seiner im Sessel schlankbequem zurückgelehnten Gattin. Er hörte die Lieder, die die Kammersängerin mit der gewohnten Meisterschaft absang, ohne den geringsten seelischen Eindruck. Herr Schreiner war leisen Erschütterungen seines bürgerlichen Gleichgewichtes sonst nicht abgeneigt. Heute aber starrte er geistesabwesend zumeist auf den schmalen Rücken des Klavierspielers oder in die blitzenden Kugelaugen seines Gehilfen, manchmal auch an der grauen glänzenden Wand empor, selten nur irrte sein banger Blick an der Gestalt der Sängerin entlang. Herr Schreiner liebte mit regen Sinnen die Schönheit weiblicher Formen. Er konnte einem wohlgebauten Bein, einem elegant beschuhten Fuß, namentlich wenn ihre Inhaberin die Röcke höher hob, als unbedingt geboten schien, mit Beharrlichkeit nachgehen, ganz versunken in den Anblick der immer wieder graziös sich aus den Kleidern entwickelnden Wade. Er konnte im Ballett mit angestrengter Aufmerksamkeit die Büste einer sich windenden und beugenden Tänzerin beobachten, einen straff über die Hüften gerafften, enggeschnittenen Frauenrock verfolgen wie ein Schweißhund das angeschossene Wild. Er ging auch – sonst nicht eben das, was man einen Schöngeist zu nennen pflegt – gern in Gemäldesammlungen und stand dort lange vor badenden Nymphen und mehr oder minder keuschen Susannen, er sammelte alle Lieferungswerke, die ›le nu au salon‹ oder ›la femme et son corps‹ in gelungenen und weniger gelungenen Bilderfolgen brachten. Auch war er auf die äußere Erscheinung seiner Frau bedacht wie eine zärtliche Ballmutter, suchte jeden Kleiderstoff, jedes Paar Schuhe, jeden Fächer für sie oder mit ihr aus und war eingeweiht in alle Einzelheiten der weiblichen Toilettekunst. Seine zahlreichen Freundinnen hatten ihn, als er noch Junggeselle war, als sachkundigen Beurteiler bei ihren Einkäufen herangezogen. Stolz berief er sich seiner Gattin gegenüber noch immer auf diese unwiderlegliche, höchst schmeichelhafte Tatsache. Übrigens liebte er, ein harmloser Epikureer, eine schmackhafte Küche, gute lichte Havannazigarren, bequeme Sitzmöbel, ein breites weiches Bett und konnte niemals heiß genug baden. Er besaß eine sehr feine, weiße und rote Haut, die leider Witterungseinflüssen und mechanischen Einwirkungen gegenüber von der äußersten Delikatesse war, so daß auch nur die geringste Reizung durch ein nicht genug scharfes Rasiermesser oder eine nicht ganz trockene und reine Fingerspitze unfehlbar auf ihrer Oberfläche entstellende Flecken und Finnen bewirkte. Die Unvorsichtigkeit, gelegentlich einmal einen Raseur aufzusuchen – gewöhnlich besorgte er dieses reinliche und peinliche Geschäft eigenhändig, und zwar mindestens einmal täglich und unter Anwendung aller möglichen Maßregeln zur Verhütung von Ausschlägen –, büßte er regelmäßig mit gleich zu Eiterbläschen aufgetriebenen Verletzungen der Poren, sein Körper war, wenn er den oft aus ihm hervorbrechenden Schweiß nicht alsogleich durch ein Seifenbad unschädlich machte, auch sonst zu derlei Hautverunstaltungen nur allzu leicht geneigt, seine gepflegte und vor den wechselnden Temperaturen beständig durch Handschuhe geschützte Hand versammelte bei der geringsten Erregung siedendes Blut unter ihrer Oberfläche, erschien dann dunkel gerötet und ließ sich feucht anfühlen. Auch schadete ihr entschieden zu heftiges Waschen. Dann ward sie rauh, und ihr Gewebe sprang in feinen Rissen. Äußerst empfindlich war Herrn Schreiners in den Flügeln sehr bewegliche, schön gestreckte, wenn auch etwas zu lange Nase. Nicht nur, daß sich auf ihr oft körnige Erhöhungen oder entzündete Flecken zeigten, sie empfand auch die Anwesenheit jedes Dinges in einer heftigen, zumeist beleidigenden Weise, indem der Geruchsinn bei Herrn Schreiner als zu einer geradezu krankhaft gesteigerten Intensität vervollkommnet bezeichnet werden mußte. Besonders die Frauen waren diesem Sinne greifbar nahe gebracht durch eine Empfänglichkeit für die allerfeinsten, flüchtigsten Elemente ihres duftenden Wesens, die dem Besitzer dieser maßlos entwickelten Eigenschaft zwar unerhörte Genüsse verschaffte, aber auch große Pein zu bereiten imstande war. Er erzählte selbst in vertrautem Kreise mit Vorliebe, daß er manche Ereignisse, die Nähe einer schönen Tischnachbarin, die Umarmung einer hingebenden Tänzerin, noch tagelang nachher aus den mit seinen Partnerinnen in Berührung geratenen Kleidern sich in plastischer Fülle in das sinnliche Gedächtnis zurückzurufen befähigt sei, ja, daß er, wenn er von seiner Frau, der er bei aller Scheu des geistig Tieferstehenden sehr zugetan war, einige Tage räumlich entfernt wäre, sich den Genuß ihres persönlichen Eindrucks durch eine Nase voll aus ihrem Kleider- oder Wäscheschrank zu bereiten begnadet sei.

An diesem Abend – heftig stürmten in der Stadt laue Märzwinde und wirbelten den Fußgängern den Staub der trockenen Gassen in die Augen und die Nasenlöcher – geschah etwas, das Herrn Schreiner aus der dumpfen Behaglichkeit eines seit Jahren traulich befriedeten Ehelebens herausreißen und ins Grenzenlose eines verheerenden Schicksals schleudern sollte. Als die Sängerin ihr viertes Lied beendigt hatte und sich unter dem üblichen Beifallstosen an jenem linken Eckplatz vorbei in das Künstlerzimmer des Konzertvereins begab – sie war eine hochberühmte Künstlerin und die seelenvolle Innigkeit ihres Gesanges von der maßgebenden Kritik ein für allemal festgestellt –, fiel der dunkle Blick ihrer schwermütig unter müden Lidern ruhenden schwarzen Augen auf Alexander Schreiner und blieb sekundenlang an ihm hängen. Herr Schreiner empfand dieses auch von seiner Gattin bemerkte unscheinbare Ereignis tief in der Magengrube. Ihm ward fast schwindlig vor dem Überschwang der in einem Aufruhr plötzlich gesträubten Nerven. Er sah seine Frau an, lächelte ein wenig, klemmte sein Monokel ein, ließ es blitzschnell über die zwei ersten Bankreihen funkeln, nahm es wieder aus der Augenhöhle, reinigte es sorgfältig mit seinem großen Taschentuch, wechselte die Beinstellung und schneuzte sich geräuschvoll. Dann starrte er, als sei nichts geschehen, an der grauen Wand empor. Kurz darauf erschien die Sängerin wieder auf dem Podium. Bei ihrer raschen Annäherung vom Rücken her befiel Herrn Schreiner ein Zittern, das seinen ganzen Körper durchdrang. An seinem kurzgestutzten Schnurrbärtchen zupfend, wagte er kaum aufzuschauen, wurde aber dazu durch das Verhalten der Sängerin selbst gezwungen, da diese ihn im Vorbeischreiten – sie hielt ihr rauschendes Kleid mit der Rechten an sich – abermals, und zwar, indem sie sich etwas zurückwandte, diesmal mit einem vollen, wenn auch raschen Blick ansah. Ihm war einigermaßen unheimlich zumute. Er rückte an seinem Stuhle, räusperte sich, legte die in den Handschuhen glühend heißen Hände ineinander, langte wiederum sein Monokel hervor und suchte, indem er es an der Gestalt der Sängerin auf und ab wandern ließ, sich zu fassen. Aber das Zittern seiner Glieder legte sich nicht. Er hob das Monokel ab und begann mit heroischem Gleichmut die kleine, bis tief in den Rücken hinab gebräunte Frau zu beobachten. Unwillkürlich blinzelte er dabei nach seiner Gattin hin. Doch diese saß ruhig, selbstsicher wie immer. Er behielt ihr feines blondes Profil. Es war wie ein duftiger Schatten neben ihm; er empfand es als einen Schutzgeist ... Seltsam erregte ihn jetzt das Lied, das die Italienerin sang. Es war ganz offenbar an ihn gerichtet. Jede ihrer Bewegungen war für ihn bestimmt. Und – das Blut schoß ihm in die Schläfen – alle Leute im Saale mußten das bemerken. Es war zu auffällig, wie sie, rückwärts tretend, näher und näher an ihn herankam, wie ihr Busen sich rascher und stürmischer hob, wie ihre Arme, sonst so ruhig, sich an den geschmeidigen Körper preßten. Er schloß die Augen. Da stieg das Lied körperhaft in sein Herz, schnürte es mit tausend Armen zusammen und preßte es dergestalt, daß er die Konvulsion schmerzlich spürte. Es war, als hätte die Fremde sich seiner bemächtigt, als wäre er nicht mehr sein eigen, willenlos der Gefangene dieser unheimlichen Frau. Sie war nicht einmal schön. Sie hatte nicht mehr die Elastizität der ersten Jugend. Auch schien ihre gelassene Vornehmheit nichts als Routine zu sein. Und plötzlich entdeckte er sogar einen gemeinen Zug um ihre Mundwinkel, ihren Stirnvorsprung. Daß sie dem Publikum so oft ihre üppige Büste entgegenreckte, erschien ihm abstoßend. So wehrte er sich gegen die Gewalt, der er zu unterliegen bangte ... Die beiden folgenden Lieder überhörte er völlig. Er wandte kein Auge von der kräftig-schlanken Gestalt, sah mit angestrengter Aufmerksamkeit, wie sie dem Klavierspieler ihre Zeichen gab, erwartete krampfhaft einen erneuten Blick des Einverständnisses. Diesmal versagte sie ihm den. Sie ging an ihm vorbei, als wäre er Luft. Aber daß sie sich mit ihrer Schleppe beschäftigte, glaubte er, eifersüchtig beobachtend, als einen Beweis ihrer Befangenheit deuten zu dürfen. Nun kam alles darauf an, ob sie, zurückkehrend, ihr Betragen ändern würde. Der Beifall wollte kein Ende nehmen. Sie mußte sich noch einmal zeigen ... Und sie kam. Raschen, festen Schrittes stieg sie die knarrenden drei, vier Stufen zum Podium herauf. Sie kam wie ein Fieberhauch. Er saß da, die Arme zu den Knien gestreckt, die Beine steif aufgestellt, den Blick, der geradeaus gerichtet schien, in sich selbst zurückgezogen wie in eine Scheide. Sie grüßte das Publikum mit einem strahlenden Lächeln, sie grüßte es abermals, sie verneigte sich tiefer und doch vertrauter, ein verwöhnter Liebling, und diesen großen breiten Blick des Glücks – eines gespielten Glücks, spöttelte zag sein Zweifel – schenkte sie mit einer raschen Wendung ihm. Er war getroffen, bis ins Innerste erschüttert ... Noch einmal im Laufe des Abends sah sie ihn an, und gutmütig lächelnd sagte auch seine Frau mit klarer Stimme zu ihm: »Du hast eine Eroberung gemacht.« Ihm war durchaus nicht wohl. Als er – der Saaldiener stand schon mit ihren Überkleidern vor ihnen, vorn, am Rande der Bühne, verneigte sich die bejubelte Sängerin wieder und wieder –, als er seiner Frau in den mit Spitzen besetzten Mantel half, wagte er es nicht, sie anzuschauen. In seiner Seele brannte das Bild dieser berückenden Italienerin, er sah ihre matt leuchtenden Schultern, die Haare, die sich ihr im Nacken ringelten, das bloße Stück des Armes über dem prall sich schmiegenden langen Handschuh. Und er sah in einer nahen, greifbaren Vision diesen ambrabraunen Körper, katzenartig behend, mit einem sonnigen Schmelz, sah die schlanken, vollen Beine, den Schwung der Hüfte, das scheibenrund aus weichem Fleisch auftauchende Knie, die gestreckte Wade, die feinen Knöchel. Ihm schwindelte. Stolpernd verließ er hinter seiner Frau das Podium. Er kämpfte mit sich, ob er sich nach der noch immer oben Verweilenden umsehen dürfe. Plötzlich riß es ihn herum. Dort stand sie lächelnd. Perlen schimmerten um ihren schönen Hals, das Weiße ihrer wundervollen Augen schimmerte. Sie neigte sich. Die vergleitende Busenfalte spielte flutend. Er war zitternd an seinem Platz verharrt. Vor ihm hielt ein junger Mensch mit zerrauftem Haupthaar und verschlissenem Hemdkragen. Er hatte sich mit den übrigen Besuchern jetzt, da sich die Sitzreihen leerten, nach vorn gedrängt. Heftig in die Hände klatschend, schrie er ihren Namen, einen kurzen Namen voll Orangenduft. Herr Schreiner wiederholte mit tonloser Stimme diesen Namen. Jetzt flog ihr Blick über die Menge weg nach seiner Seite hin. Ihn durchrann es eisig. Jetzt, jetzt! Sie mußte seinen brennenden Augen begegnen. Und da hielt er ihren Blick ... Oder hielt sie seinen? Es war wieder nur ein Moment. Aber ihm war wie in der Umklammerung einer schlüpfrigen Schlange ... Vor dem Hause, ehe er in den Wagen stieg, zündete er sich eine Zigarette an. Er tat es langsam, als wollte er sein Blut bändigen. Seine Frau kehrte sich nach ihm um. Er verzögerte seine Hantierung. Noch ein joviales Wort mechanisch zum Kutscher. Ein feiner Sprühregen ging nieder. Die enge asphaltierte Gasse blinkte im Scheine der Laternen. Die Tür fiel ins Schloß. Die Pferde zogen an.

 

In den Zeitungen las er, daß die Kammersängerin, Frau Lucia Wendtheim-Corma, ›der Liebling des Publikums‹, ›die Nachtigall von Belluno‹, sich ›auf allseitiges Verlangen‹ entschlossen habe, ein zweites, letztes Konzert zu geben. Tag und Stunde würden zeitgerecht kundgemacht werden. Also blieb sie noch am Orte. Eigentlich hätte er gewünscht, sie wäre mit dem Nachtzuge nach Paris oder London abgereist. Denn da sie geblieben war, mußte er ja nun zu ihr. Mußte er? Ihm fielen seine beiden blonden Mädchen ein, Grete und Hilda, vier und drei Jahre alt. Aber es war nur ein undeutlicher Gedanke, wie in Nebel gehüllt. Er saß vor seinem Schreibtisch. Mechanisch blätterte er in den Akten. Er ergriff die Feder und schrieb. Als er dreimal die Lettern Lucia Corma auf das grünliche Konzeptpapier gemalt hatte, zerriß er es und warf es hinter sich. In der Mittagspause ging er nicht nach Hause, sondern schlenderte in der Stadt umher. Wie gebannt blieb sein Auge an einer Plakatsäule hängen. In fingerdicken Buchstaben stand ihr Name da: Lucia Corma. Und – näher herantretend sah er's – das Abschiedskonzert fand zu Ende der Woche statt. Fünf Tage noch. Er hielt hinter der Plakatsäule, als suchte er dort Schutz und Deckung. Als er sich endlich von dem Magnet der Ankündigung losriß, wäre er fast unter die Räder eines schnell heranfahrenden Wagens geraten. Er taumelte zurück. Der Kutscher rief ihm etwas Grobes nach.

Alexander Schreiner ging gesenkten Hauptes und blickte bei jedem Schritt auf die Spitzen seiner Lackschuhe. Es war Zeit zum zweiten Frühstück. Er suchte ein Hotel auf, in dem er mit seiner Frau, wenn sie nicht zu Hause speisten, die Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Dienstbereit hatte der bekannte Kellner bei seinem Eintritt ihm die Mittagszeitung neben den Teller gelegt. Er blätterte die Fremdenliste auf. Ein Orakel. Sie mußte doch schon einige Tage hier sein. Es schien unmöglich, daß sie heute erst in der Liste verzeichnet wäre. Wenn sie jedoch ... Er durchlief rasch die kurzen Absätze, die die Passagiere der einzelnen Gasthöfe ›in Auswahl‹ aufzählten. Da: Hotel Kronprinz: Frau Lucia Wendtheim-Corma, Kammersängerin, und Begleitung, Nizza ... Ihm flimmerte es vor den Augen. Schicksal also?

Für diesen Abend hatte er schon vor einer Woche in einem Vorstadttheater eine Loge für sich aufheben lassen. Ihm fiel ein, daß er vergessen hätte, Elsen die Logennummer mitzuteilen. Er bat den dicken Zahlkellner, dies telefonisch zu besorgen, nachdem er sich, obwohl es bereits wiederholt geschehen war, durch einen prüfenden Blick auf das Billett abermals von der Richtigkeit seiner Gedächtnisangaben überzeugt hatte. Im Büro versicherte er sich zunächst, ob sein dort verwahrter zweiter Frackanzug nebst Zubehör in Ordnung sei, ließ dem Bedienten telefonieren, daß er ihm einiges noch Erforderliche rechtzeitig brächte, trank zu verschiedenen Malen des endlos sich dehnenden Nachmittags schwarzen Kaffee, schrieb ein paar völlig zwecklose Briefe, nahm öfters einen und denselben umfangreichen Akt ohne Ergebnis vor, streckte sich von Zeit zu Zeit in seinem tiefen Lederfauteuil ermüdet aus – ihm war, als sei sein Rückgrat geknickt – und begann sich endlich in Erwartung des zur Hilfeleistung sonst so bequemen Bedienten langsam selbst umzukleiden. Die Uhr tickte einförmig. Die verschlissenen Möbel standen in einer verzweifelt nüchternen Verfassung um ihn herum. Nun begann es zu regnen, was ihn noch melancholischer stimmte.

Als er in die Loge eintrat, war seine Frau noch nicht angekommen. Er nahm zuerst im Hintergrunde, dann an der Brüstung Platz, ließ sein Glas im Hause gedankenlos umherwandern und geriet in Unruhe, als das Orchester einsetzte und seine Frau immer noch ausblieb. Ob zu Hause – er war beiläufig um neuneinhalb Uhr vormittags fortgegangen – etwas geschehen war? Er sah auf die Uhr. Dreiviertel vor acht. Sie pflegte nicht eben pünktlich zu sein. Aber ihn peinigte der bohrende Gedanke, zur Strafe für seine bösen Absichten wäre seinen Kindern ein Unglück zugestoßen. Beim geringsten Geräusch fuhr er nach hinten herum. Ein beliebter Komiker betrat die Bühne und sang mit fetter Stimme ein geschraubtes Entreelied. Es handelte von der ungemeinen Lust der Ehemänner an tollen Seitensprüngen. Der Komiker schilderte diese Lust als ein ganz und gar harmloses Vorkommnis, rechnete behaglich mit einer verständnisinnigen Hörerschaft, zwinkerte vertraulich in das Parkett hinab und schlug sich etliche Male auffordernd auf die feisten Schenkel. Da wurde in der Loge nebenan die Tür aufgerissen. Schreiner verspürte den raschen Luftzug. Eine Dame war eingetreten und begann sich, mit heiterer Stimme flüsternd, ihrer Überkleider zu entledigen. Es half ihr niemand. Auch ließ sich bald darauf eine zweite Frauenstimme vernehmen. In Herrn Alexander Schreiners Körper fing mit eins das Blut zu kochen an. Er saß knapp an der Seite der Nachbarloge, denn er hatte seiner Frau den inneren Platz freigehalten. Unmittelbar neben ihm ließ sich hörbar atmend die Dame, die zuerst gesprochen hatte, nieder. Ihr weiß behandschuhter Arm schob sich fast auf Spannenlänge an den seinen heran. Nun begann sie behende an ihrem Opernglas zu schrauben, das – er sah es blinzelnd – an einem schimmernden Stiele befestigt war. Das Theater war stark verdunkelt. Die Musik hatte aufgehört. Eine Soubrette und der Komiker tauschten liebenswürdige Anzüglichkeiten aus ... Plötzlich fühlte Herr Schreiner, wie die Dame ihr Gesicht ihm zuwandte. Ihr Atem berührte seine Wange. Er blickte auf. Das Blut stockte ihm. Sie war es ... In diesem Augenblick öffnete der Schließer die Tür seiner Loge. In ihren Mantel eingehüllt, das Spitzentuch lose um den feinen Kopf geschlungen, stand seine Frau schmal und hoch einen Moment im Lichtschein, der vom Gang hereinfiel. Herr Schreiner hatte sich erhoben. Es konnte nebenan nicht unbemerkt bleiben, wie schlank er gewachsen war – die niedrige Loge trug ihr Teil bei zu dieser vorteilhaften Geltendmachung –, wie elegant seine lässige Höflichkeit sich gegen seine Frau äußerte. Er glaubte zu bemerken, daß die Dame aufmerksam seinen Bewegungen folgte. Deshalb ließ er einen Moment die entblößte, heute angenehm bleiche Rechte auf der roten Samtbrüstung aufruhen, ehe er sich völlig seiner Frau entgegenwandte. Diese war nicht eben gesprächig. Das verdroß ihn. Sie ließ sich jedes Wort herauspressen. Wie aus einer Zitrone, dachte er voll Unwillen. Oft, zumeist wenn er sich irgend im Unrecht fühlte und sich's nicht eingestehen mochte, überfiel ihn dieser bis zur Wut anschwellende Unmut gegen Else. Er suchte eigensinnig nach einem Vorwand, sie ins Unrecht zu setzen, ereiferte sich, stolperte gleichsam, kam immer mehr in Zorn und haßte sie endlich, da sie ihn durchschaute und mitleidig-schmerzlich übersah. Heute hatte er sie verstört durch das mehr als seltsame Zusammentreffen mit der Nachbarin, das sie sicherlich zu deuten unternehmen würde, empfangen und überlegt, ob er ihr die Anwesenheit der Sängerin, mit einem Scherzwort die Wirkung kurz vorwegnehmend, verraten sollte. Aber seine Aufregung ließ ihn die richtige Gelegenheit versäumen. Und da er, bei wachsender Feindseligkeit gegen ihre aufreizende Ruhe, angestrengt über eine Möglichkeit nachsann, seine Unbefangenheit in den Augen Elsens nicht zu gefährden, steigerte sich seine Scheu und ging wie eine Wolke von ihm aus und auf die Gattin über, die sich nur um so abwehrender in sich selbst zurückzog, gegen ihren bewußten Willen, wie sich etwa eine Pflanzenfaser, die als Fühler zielend vorragt, zusammenkrümmt unter dem beißenden Hauch starken Tabaks. Als sie sich niederließ, hatte sie auch schon die Insassin der Nachbarloge erkannt. In ihr war blitzschnell eine Trübung vor sich gegangen. Sie hatte sofort etwas wie eine unlautere Atmosphäre um sich herum empfunden, eine Atmosphäre, die sich verdichtete, schwer wurde und ihr das freie Atmen behinderte. Sie war den ganzen Weg über mit sorglichen Gedanken an ihre beiden Mädchen beschäftigt gewesen, die sie nicht gern in der wenig verläßlichen Obhut der Nurse zurückließ. Einige kurze Fragen ihres Mannes hatten ihre Unbehaglichkeit noch vermehrt. Seine Stimmung war ihr durchaus nicht verborgen geblieben. Auch war sie sich der eigenen Unliebenswürdigkeit bewußt und litt unter dem Eindruck, den sie auf den empfindlichen, zuzeiten sehr zärtlichen Gatten hervorbrachte.

Die Italienerin ihrerseits hatte das Ehepaar gleichfalls erkannt. Sie prüfte mit der Personen, die in der Öffentlichkeit zu stehen gewohnt sind, eigenen Unverschämtheit den Anzug der Frau, wobei sie sich sogar ihres an langer Perlenkette hängenden Lorgnons bediente, und wendete sich dann mit einem Ausdruck, der von Mißachtung nicht frei war – so schien es Elsen, die sich voll Empörung so beobachtet sah – wieder von ihr ab und der Bühne zu. Alexander Schreiner hatte seine Arme auf der Brüstung aufgestemmt – er markierte wieder einmal für den ›Pöbel‹ den aristokratisch lässigen Weltmann – und verfolgte mit seinem Opernglas jede Bewegung der jetzt in einen ländlichen Chor gesammelten Statistinnen. Er bezweckte, mit dieser Hingabe an die im allgemeinen freilich nicht allzu verführerische Weiblichkeit der Szene die Eifersucht der Nachbarin wachzurufen, gab aber sein Beginnen wieder auf, da er argwöhnte, er könnte sich's durch seine, übrigens nicht sehr sichere Bühnengönnermiene etwa gar bei der Corma verderben. Um sie zu versöhnen, blickte er sich nunmehr, mit stark übertriebener Unbefangenheit an seinem kurzgestutzten Schnurrbärtchen zupfend, nach ihr um. Wieder sah er dieses nicht eben scharf geschnittene, aber durch den dunklen Ton der Haut doch fein gegen die Umgebung abgesetzte Profil, den weichen vollen Arm im eng anschließenden Handschuh und die reife Büste, die für ihn etwas Berauschendes besaß. Langsam schob er seinen Arm näher an den ihren heran, indem er sich mit seinem Opernglase zu schaffen machte. Die trennenden Wände gingen nach unten zu in leichtem Schwung in das rote Lehnpolster der Brüstung über. Wenn sie ihren Arm auf die Scheide legte, konnte er ihn mit seiner Schulter streifen. Er suchte diese Berührung herbeizuführen, und es gelang ihm einmal. Er hielt den Atem an und wartete ... Der Arm bewegte sich nicht. Nun ließ er die gehemmte Luft heftig durch die Nase ausströmen, kehrte sich gegen Else und versuchte so, scheinbar ganz arglos, durch das Gewicht seines Rückens den Druck langsam zu steigern. Die Italienerin ließ den Arm gelassen herabgleiten. Er erbleichte ... Im Zwischenakt setzte sich Elsa in den Hintergrund der Loge. Er blieb an seinem Platz. Seine natürliche Schüchternheit vertrug sich nicht ganz gut mit den gewaltsamen Anstrengungen, Aufsehen zu erregen. Er empfand auch deutlich, wie viel ihn alle diese Mittel und Mittelchen kosteten, schämte sich nicht so sehr seiner unwürdigen Bemühungen als ihrer Halbschlächtigkeit und verstärkte nur immer mehr die leidige Befangenheit.

Die Italienerin plauderte ziemlich laut mit ihrer Gefährtin. Sie war augenscheinlich Gast in der Loge. Der Abend verstrich ohne dankenswerte Ergebnisse. Alexander Schreiners Unmut war zuhöchst gestiegen, als die Sängerin seinen letzten Versuch, ihr durch Aufrichtung seiner eleganten Gestalt zu imponieren – diesmal im weiten Abendpelz, den Zylinder auf dem Kopfe –, nicht zu beachten geruhte. Auf der Treppe konnte er sie nicht mehr erblicken, denn seine Frau war allzu rasch mit ihrer Toilette fertig geworden, so daß sie ihren Wagen erreichten, ehe jene aus der Tür getreten war, die aus dem Gange vor den Parterrelogen ins Foyer führte. Seine üble Laune entband bei der Gattin geheimen Groll, fast Feindseligkeit. Schweigend saßen sie im Wagen nebeneinander, schweigend schritten sie die teppichbedeckte Stiege zu ihrer Wohnung empor. Während Else noch mit dem Entkleiden beschäftigt war, lag Alexander bereits gegen die Wand gekehrt und schien fest zu schlafen. Dem war durchaus nicht so. Er sann auf Rache. Rache war es, ganz ausgesprochenermaßen Rache, die er erwog, Rache an seiner Frau. Morgen mußte er die Corma besuchen. Ja, er mußte! Schon um dieser da neben ihm zu beweisen ... Andere Männer taten ganz andere Dinge! Es war ja geradezu lächerlich, wie er sich da eingemummelt hatte in dieser Ehe. Unglaublich, wirklich! Aber das sollte anders werden! Er wollte dieser Frau zeigen, was es heißt, einen Mann, wie er einer war, nicht für gefährlich zu halten. Sie sollte ...! Doch nein. Sie durfte nichts erfahren. Das wäre im höchsten Grad unbequem gewesen. Aber genießen wollte er, in vollen Zügen genießen! Denn daß er der Italienerin nicht gleichgültig geblieben war, das stand ja fest. Morgen würde er sie aufsuchen. Und er sah wieder ihren Körper vor sich, hüllenlos, ambrabraun, duftend nach wundervollen Essenzen ... Jedenfalls würde er morgen zum Friseur gehen. Und nicht zu vergessen war, daß er ganzseidene Strümpfe anzöge ... Ob er Blumen mitbrächte? Nein, das wäre kindisch gewesen. Nachlässig wollte er bei ihr erscheinen, nachlässig, aber mit der unausgesprochen ersichtlichen Absicht, sie zu besitzen. Er wollte kommen wie ein geborener Sieger. Das mußte sie bestechen. Und er griff – den Schlafenden zu spielen, hatte er ganz vergessen – nach der Tube Vaseline, sein Gesicht, das, von innen heraus erhitzt, schmerzhaft brannte, mit der Salbe zu bestreichen.

Die Sängerin trank den Tee in der Gesellschaft ihres Freundes, des Freiherrn David von Fleischer, als ihr Herrn Schreiners Karte übergeben wurde. Sie las erstaunt den unbekannten Namen und reichte die Karte dann dem Baron, der schweigend die Achseln zuckte. »Ich lasse bitten.« Herr Schreiner trat ein. Er hatte einen dunkelgrauen Gehrock und hellgraue Beinkleider gewählt, die, im Oberschenkel wie Knickerbocker geschnitten, um die Wade herum eng, wenn auch nicht anschmiegend schlössen und kelchförmig über den Fuß hinabfielen. Seine weiße Weste mit breitem Überschlag warf keine einzige Falte. Er hatte sie erst knapp vorm Verlassen des Bureaus angelegt. Sie war vom Bügeln gekommen. Die Anwesenheit eines Dritten beunruhigte ihn, um so mehr, als er den Baron Fleischer längst vom Sehen kannte. Die Dame des Hauses wies mit einer einladenden Handbewegung die beiden Herren aneinander. Der Baron hatte sich lässig erhoben. Er war ein Fünfziger mit schon stark angegrauten gepflegten Backenbartstreifen und dichtem gestutzten Schnurrbart. Seine Kälte, die man unfreundlich nennen konnte, trieb Herrn Schreiner den Angstschweiß auf die unmittelbar vor dem Eintreten noch gründlich mit Teintpapier gereinigte Stirn. Die Sängerin lächelte. Sie hatte den jungen Mann sofort erkannt. Sie half ihm. »Wir sind wohl gestern abend Nachbarn gewesen.« »Jawohl, gnädige Frau.« Er fühlte, daß er seinen Besuch irgendwie zu erklären verpflichtet sei, und stotterte ein paar Phrasen, die diesem Zweck galten. Die Corma nahm es gnädig hin. Der Baron schwieg. Nun erging sich Herr Schreiner in mißfälligen Bemerkungen über die gestrige Aufführung. Der Baron sah nach der Uhr. Es war eine dritte Tasse gebracht worden. »Darf ich Ihnen ein wenig Tee einschenken?« fragte die im Nachmittagszwielicht müde und gealtert aussehende Frau und rückte sich ganz vom Fenster ab. Herr Schreiner trank verlegen seinen Tee. Die Sängerin sprach von den Theatern der Stadt. Ihre Stimme hatte einen stark fremdländischen Tonfall, auch suchte sie manchmal mit einiger Ziererei nach den Worten. Einsilbig beteiligte sich der Baron am Gespräch. Endlich erhob er sich. Herr Schreiner sprach sich Mut zu. Auf die Gefahr hin, diesem Herrn unausstehlich zu erscheinen, wollte er bleiben. »Meine Gnädigste«, sagte der Baron Fleischer zu der Dame des Hauses und sah ihr dabei voll ins Gesicht, »ich schicke also den Wagen um ein Viertel nach sieben Uhr«. »Tun Sie das, lieber Baron«, sagte die Corma und drückte dem Scheidenden, der mit der Linken den Rock schloß, lebhaft die Hand. Herr Schreiner glaubte einen Blick des Einverständnisses zu bemerken, der nach Spott aussah. Spott über ihn? Das ›Einverständnis‹ wäre nicht schwer zu erraten gewesen. Denn nur Herrn Schreiner unter den Tausenden, die Frau Lucia Wendtheim-Corma bewunderten und wie auf der Konzertbühne so in ihrem Privatleben mit neugieriger Aufmerksamkeit begleiteten, war es unbekannt geblieben, daß die Signora seit Jahren ein Verhältnis mit dem unverehelichten Freiherrn David v. Fleischer unterhielt. Von ihrem Gatten Wendtheim wußte man nicht viel mehr, als daß sie ihn einmal vorzeiten geheiratet hatte.

Der Baron empfahl sich steif von Herrn Schreiner. An der Tür – Herr Schreiner hatte sich wieder gesetzt – schien er noch einmal mit seinen Blicken gleichsam etwas zu rufen, denn die Sängerin lächelte, wie man lächelt, wenn man nicht wohl deutlicher antworten kann, da jemand störend im Wege sitzt. Dann ging er. Gott sei Dank, dachte Schreiner und war auf einige Minuten wieder voll Unternehmungsmut. Die Corma wandte sich nun mit der größten Liebenswürdigkeit ihm zu und fragte ihn, wie es Herrn Schreiner allmählich vorkam, etwas unverblümt nach seinen Familienverhältnissen aus. Als sie von seiner Frau sprach und ihre Erscheinung lobte, empfand er es äußerst peinlich. Er ging auch nicht auf dieses Thema ein. Noch unangenehmer war ihm die Erkundigung nach seinen Kindern, die in der allerunschuldigsten Form der Welt: »ob er Familie habe« gestellt war. ›So komme ich nicht zum Ziele‹, dachte der Aufgeregte. Er hatte bereits jede Zuversicht eingebüßt. Aber er konnte ihr doch um Gottes willen nicht jetzt plötzlich ins Gesicht sagen, daß er sie liebe, ganz abgesehen davon, daß dem durchaus nicht der Fall war. Er brachte das Gespräch auf den Baron und verriet mit den ersten Worten seinem Gegenüber, daß er keine Ahnung von den Beziehungen hatte, die die Dame mit ihrem Freunde verbanden. Sie überwand eine leise Befangenheit und plauderte dann um so sorgloser von dem liebenswürdigen ›alten Herrn‹. ›Was hat sie vor?‹ dachte Herr Schreiner. Die Jungfer erschien und meldete, daß das Bad bereit sei. Mit einem bezaubernden Lächeln – er erinnerte sich dieses Lächelns aus dem Konzert – entließ sie ihn ... Da stand er nun auf der Treppe und kam sich äußerst albern vor. Während er langsam die Stufen hinabstieg, hatte er allen Ernstes den Gedanken, diesen Besuch seiner Frau zu erzählen, möglichst unbefangen natürlich, so etwa mit: »Denk dir nur, wo ich heute war« zu beginnen. Aber er fühlte, er würde den klugen Augen seiner Frau gegenüber erröten, und dann war alles verloren. Dann hatte er Unfrieden im Hause, das heißt die gewisse unerträgliche bleischwere Stimmung, wenn seine Frau umherging, als ob er nicht da wäre. Und wozu auch? Ohne jegliches Entgelt auf der andern Seite. Denn dieser Besuch war ja ganz offenbar verunglückt. Ja, ja, verunglückt. Es war beim besten Willen nichts anderes herauszudeuten. Sie war höflich gewesen, aber nicht mehr. So hätte sie jeden anständig gekleideten Menschen empfangen, noch dazu einen, dessen Karte einen Mann aus halbwegs gutem Hause nannte: Ministerialbeamten und nichtaktiven Kavallerieleutnant. Er mußte die Sache von vorn anfangen. Aber wie, wenn er morgen wiederkäme und dieser Baron Fleischer wieder dasäße oder sie ihn gar in dessen Anwesenheit abweisen ließe? ... Ihm fiel ein rettender Gedanke ein. Er wollte ihr schreiben. Natürlich. Jetzt, nachdem er sie besucht hatte, war ein Brief das einzige Mittel, das die Hindernisse der Annäherung hinwegzuräumen imstande war ... Oder neue zu schaffen? Er verwarf diese Möglichkeit ebenso schnell, wie sie in ihm aufgetaucht war.

Zu Hause entwickelte er eine ungewohnte Beweglichkeit. Er turnte mit den hocherfreuten Kindern, pfiff. Den Blicken seiner Frau wich er aus. Da er ihr aber beim Abendessen gegenübersaß, begann er mit anschaulicher Beredsamkeit allerhand Belangloses zu erzählen. Sie verhielt sich dazu meist schweigend. Am nächsten Tag gab er folgenden Brief auf die Post:

»Gnädigste Frau!

Mein Besuch bei Ihnen ist mir eine peinliche Erinnerung. Ich war gekommen, Ihnen so viel zu sagen, und bin gegangen, ohne auch nur den Zweck meines unbescheidenen Erscheinens angedeutet zu haben. Dürfte ich hoffen, daß sie ihn erraten haben? Geben Sie mir Gelegenheit, meine Ungeschicklichkeit, die einer begreiflichen Befangenheit entsprungen war, wiedergutzumachen. – In dieser Hoffnung küsse ich, gnädige Frau, Ihre Hand als Ihr ergebener ...«

Als er mit eigener Hand dieses Schreiben in den Briefkasten steckte, schien es ihm, als warnte ihn eine innere Stimme vor dem törichten Beginnen. Er überhörte sie. Aber seine Laune war nichts weniger als gehoben. Nicht wie ein Held erschien er sich, sondern wie ein Besiegter. Er vermied den Gedanken an seine Frau, kaufte aber seinen Kindern in einer Spielwarenhandlung einige Kleinigkeiten, die er Auftrag gab, ihm bereitzustellen, da er sie selbst abzuholen willens war. Um sich zu zerstreuen, ging er zuerst zu einem Friseur, dann zur Maniküre, endlich zum Zahnarzt, der ihm die Zähne gründlich reinigen mußte. Von einem Bekannten ließ er sich ins Kaffeehaus führen, einem ihm seit Jahren ungewohnten Aufenthalt. Sie saßen bei Kaffee und Kognak und sprachen von ›alten Zeiten‹, gemeinsamen Kulissenerinnerungen und sonstigen galanten Abenteuern. Der Freund, ein bIondbärtiger Dreißiger, laut und breit, spottete über Herrn Schreiners zurückgezogenes Ehemanns- und Vaterleben. Nachdem dieser unzählige Zigaretten geraucht hatte, so daß sein Anzug – auch von der stickigen Atmosphäre des Kaffeehauses überhaupt – und sein Atem einen üblen Geruch ausströmten, begab er sich Iangsam nach Hause. Die Spielsachen für seine Kinder hatte er abzuholen vergessen, sie fielen ihm ein, als er schon fast vor seiner Wohnung angelangt war. Unter dem Vorwand, den Kindern diese Freude nicht zu verzögern, kehrte er um, nahm das Paket in Empfang und schritt wieder dieselbe Strecke. Die bereits angezündeten Laternen kontrastierten mit der Frühlingsstimmung des lauen Abends. Er empfand plötzlich Lust, mit seiner Frau ein wenig spazierenzufahren. Doch verwarf er sofort auch wieder diesen Gedanken, da er dunkel zu ahnen glaubte, daß sich dahinter etwas wie aufsteigende Gewissensbisse verbarg ... Der Abend zu Hause verlief ohne besonderes Vorkommnis. Die Kinder freuten sich über die mitgebrachten Sachen. Else hatte ihre Migräne und ging früher als gewöhnlich zu Bett. Er saß allein unter der Lampe und nahm einen französischen Roman vor. Es gelang ihm nicht, im Zusammenhang zu lesen. Seine Gedanken schweiften ab. Sie waren voll Bitterkeit. Daß ihn zum Beispiel seine Frau ersucht hatte, dem Abendgebet der Kinder fernzubleiben – es war sonst nicht seine Gewohnheit, zu dieser täglichen letzten Szene in der Kinderstube zu erscheinen –, hatte ihn verdrossen. Er gefiel sich einigermaßen in der Rolle eines Ausgestoßenen. Die höhnischen Worte seines Freundes fielen ihm ein. Er holte einen alten Jahrgang des Journal amüsant hervor und suchte sich an den frivolen Zeichnungen zu erheitern. Sie waren ihm alle zu wenig lasziv. Er kramte in seiner Bibliothek nach galanten Büchern, fand eine mehr als freie Ausgäbe des Boccaccio und spornte seine träge Phantasie blutig ...

Vormittags im Amte ließ ihn der Vorsteher rufen und erteilte ihm in gemessener Form einen Verweis wegen Nachlässigkeit in der Dienstführung. Er habe schon längst ein ernstes Wort mit ihm sprechen wollen. Er müsse ihn in seinem eigenen Interesse darauf aufmerksam machen, daß derlei Dinge, wie er sie sich in seiner Geschäftsgebarung habe wiederholt zuschulden kommen lassen, nicht angingen. Man habe sich auch bereits höheren Orts mißbilligend über dies und das ausgesprochen. Er fand keine Entschuldigung. Ein Gefühl tiefer Demütigung fraß sich in sein Herz. Am liebsten hätte er laut geweint. Er saß lange Zeit vor seinem Schreibtisch und starrte in den sonnenbeschienenen Hof des Hinterhauses ... Als auch am Nachmittag kein Antwortbrief sich einfand, ging er zum Hotel. Der Portier trat ihm in der Türe seiner Loge entgegen und fragte nach seinem Begehren. Die Signora sei nicht zu Hause. Sie sei ausgefahren. Langsam drehte sich Herr Schreiner auf den Absätzen herum. Es war ihm, als müsse er den Mann aufs Gewissen befragen, ob das auch der Wahrheit entspreche. Aber er nahm Abstand von diesem offenbar kompromittierenden Versuch, dankte mit betonter Nachlässigkeit, zwei Finger an der Hutkrempe, und ging. Er kehrte in das Büro zurück und ließ nach Hause telefonieren, daß er heute erst später kommen würde. Nachdem er einige Male vergeblich einen Anlauf zur Arbeit genommen hatte, schrieb er einen langen Brief an die Sängerin, überlas ihn und zerriß ihn. Ein Kollege trat ein und fragte nach dem Verlauf der Unterredung mit dem Vorsteher. Ärgerlich gab Herr Schreiner den Hauptinhalt zum besten. Der Kollege, ein magerer, glattrasierter, fast kahler Pole, war ganz seiner Ansicht, daß das Vorgehen des Chefs durchaus unbegründet, vielleicht überhaupt nur einer Laune entsprungen sei. Mit einer Empfehlung an ›die Gnädigste‹ entfernte er sich, nicht ohne nochmals wiederholt zu haben, Schreiner möchte sich nur ja kein graues Haar über die dumme Sache wachsen lassen.

Endlich kam folgender Brief zustande:

»Gnädigste Frau!

Sie haben meinen Brief erhalten und mir nicht geantwortet. Ich bin bei Ihnen gewesen, und Sie haben mich abweisen lassen. Wenigstens schien es mir so. Ich will noch einmal versuchen, ob ich mich in dem allen nicht vielleicht täusche. Es gibt ja solche Zufälle im Leben. Sie waren verhindert. Sie hatten vorgehabt, den Brief gestern zu beantworten. Sie hatten meine Adresse verlegt. Was weiß ich ... Ich weiß nur das eine, daß ich auf die Gefahr hin, neuerlich und unverkennbar abgewiesen zu werden, wenn ich auf diesen meinen letzten Brief wiederum keine Antwort erhalten sollte, morgen gegen fünf Uhr noch einmal zu Ihnen gehen muß. Sie haben mein Schicksal in Ihren Händen, die ich küsse.

A. Sch.«

Zu Hause fand er Gesellschaft vor. Die Schwägerin Anna und ihr Mann waren zu Besuch. Der Anblick des dicken gemütlichen Menschen erquickte Herrn Schreiner in der Seele. Er war in seiner behaglichen Nähe so sicher. Vor ihm erzählte er denn, mit humoristischer Färbung und mit einer verlogenen Schneidigkeit renommierend, den Auftritt beim Vorsteher. Er wußte, daß er hier gutmütigen Spottes über ein solches Vorkommnis sicher war. So rettete er auch die Geschichte vor seiner Frau, bei der sonst – das ahnte er – seine Erzählung ein stilles und ihm nur um so peinlicheres Verdenken erzeugt hätte.

Die beiden Schwestern waren in Hausfrauen- und Kinderangelegenheiten eingesponnen. Er trank mit dem Schwager Glas um Glas. Allen Ernstes hatte er die Absicht, sich heute zu berauschen, was ihm schließlich auch gelang. Er fiel ins Bett und schlief sofort ein.

Um so trübseliger gestaltete sich das Erwachen nach mehrmaligem Wecken des ungeduldigen Mädchens. Richtig hatte er sich auch heute verspätet. Atemlos wie ein Schulknabe kam er im Büro an. Der Schweiß stand ihm unter dem Hute, sein Hemd klebte am Körper. Der Herr Chef habe nach ihm gefragt, richtete, sich verneigend, der Diener aus. Eine Ausrede auf den Lippen, klopfte er bei dem grämlichen Vorgesetzten an. Dieser empfing ihn höchst ungnädig. Herr Schreiner stand vor ihm wie ein ertapptes Kind. Er schämte sich der unwürdigen Situation unsäglich ... Lächelnd kam der Kollege wieder. Er konstatierte, daß Herr Schreiner Pech habe. Leider hätte er, der Kollege, selbst die unangenehme Aufgabe gehabt, über Befragen melden zu müssen, daß jener noch nicht anwesend wäre. Der Chef habe seinen unleidlichen Tag. Herr Schreiner möchte sich nur nichts daraus machen. Er, der Kollege, habe derlei schon so oft einstecken müssen. Ob sie sich wohl auch so herauswachsen wollten im spätern Leben, wenn sie zu Würden gelangt wären! Der Kollege lächelte in freudiger Zuversicht und steckte sich eine neue Zigarette an ... Abermals war von Lucia Corma keine Antwort gekommen. Und er hatte diesen Brief doch durch einen Dienstmann sofort zutragen lassen, der – so gab er ihm zu verstehen – sich etwas verziehen könne, nicht alsogleich davoneilen müßte. Keine Antwort, auch mit der Post nicht. Und es wurde Nachmittag. Herr Schreiner wanderte in den Straßen umher. Ein Regenschauer fiel nieder. Er ging in eine Hutniederlage und ließ sich den genäßten Zylinder neu aufbügeln. Während er wartete, trat ein Herrschaftsdiener ein und stellte sich, gleichfalls wartend, neben ihn. Herr Schreiner empfand das wie eine Demütigung. Um dem Kerl mehr Achtung einzuflößen, setzte er sich auf die Pudel und schlenkerte mit den Beinen. Auch hantierte er laut an seinem silbernen Feuerzeug und erreichte damit, daß der Bediente nach schwedischen Zündhölzchen in die Hosentasche fuhr, was ihn wieder einigermaßen versöhnlich stimmte. Er dankte gnädig. Kaum war er auf der Straße angelangt, als sich der Regenschauer erneuerte. Er war, um nicht abermals den Hut zu schädigen, genötigt, in einen Hausflur zu treten, wo schon mehrere Fußgänger Unterstand gefunden hatten. Wagen auf Wagen rollte vorüber. Herr Schreiner begann sie zu zählen, gab es aber wieder auf. Der Zeiger der großen eisernen Standuhr rückte nur langsam weiter. Schließlich fuhr er mit einem Fiaker beim Hotel vor. Der Kutscher fragte, ob er warten solle. Dies schien ihm eine böse Vorbedeutung. Doch um nicht das Schicksal zu versuchen, behielt er das Fuhrwerk. Der Portier lüftete kaum die Kappe. Im Vestibül stand eine hochgewachsene Dame in langem, grauem Regenmantel, mit den Lippen an dem Schleier zupfend. Augenscheinlich eine Aristokratin. Herr Schreiner setzte sein Monokel auf. Es entglitt ihm und zerbrach auf den Steinfliesen. Die Dame wandte sich ab. Sie hatte gelächelt. Herrn Schreiner schoß das Blut in den Kopf. Er ging ein paar Schritte zurück, der Unbekannten zu beweisen, daß dieses lächerliche Mißgeschick ihm nichts bedeute. Ja, er brachte es über sich, mit dem Ende seiner Schuhe an die Splitter zu rühren. Ohne sich diesmal bei dem Portier erkundigt zu haben, stieg er die wenigen Stufen hinan zum Aufzuge. Der Liftjunge fragte nach der Nummer. Die wußte er nicht. »Erster Stock.« Als sie sich geräuschlos in Bewegung setzten, fragte er wie nebenbei: »Frau von Corma ist zu Hause?« »Ja«, sagte der Liftjunge. Eine schreckliche Angst warf sich mit zottigen Klauen auf Herrn Schreiners Brust: Jetzt mußte sich's entscheiden. Wenige Minuten später stand er vor der weißlackierten Tür. Er überlegte. Endlich klopfte er. Ein Griff nach der Krawatte. Die Tür öffnete sich. Die Zofe stand vor ihm. Das Wort erstarb ihm. »Die Gnädigste ist nicht zu Hause.« Ein Blick in den Vorraum hatte ihn einen Herrenüberrock bemerken lassen ... Das Mädchen schien ihn bis in die Knochen zu verachten. Er hinterließ seine Empfehlung. Dann stieg er schwerfällig die Stufen hinab ... Der Wagen wartete. Eilfertig riß der Kutscher die Decken von den nassen Rücken der Pferde. Er hatte eine längere Abwesenheit erwartet. Als er schon im Coupé saß, beugte sich der Fiaker herab. »Wohin, Euer Gnaden?« Er nannte seine Adresse ...

Zu Hause schien es ihm merkwürdig still. Auf zweimaliges Läuten – er hatte seinen Schlüssel nicht bei sich – erschien der Diener und lächelte verlegen. »Die gnädige Frau ist verreist.« »Verreist?« Sein Herz stand starr. »Es liegt ein Brief für den gnädigen Herrn auf dem Schreibtisch ...« In Hut und Mantel stürzte er in sein Zimmer. Dort auf der grünen Ledermappe mit den vergoldeten Ecken lag ein Brief. Die Züge seiner Frau. Mit dem Bleistift hingeworfen. Er riß den Umschlag ab. Ein violettes Briefblatt lag darin.

»Gnädige Frau! Wollen Sie bitte Ihrem Gatten sagen, daß seine Bemühungen mir lästig fallen. Ich glaube, Sie werden Mittel und Wege finden, ihn von weiteren Schritten abzuhalten, die für Sie und ihn nur von unangenehmen Folgen begleitet sein müßten.

In Hochachtung Ihre ergebene
Lucia Wendtheim-Corma,
Kammersängerin.«

Herr Schreiner hielt das Briefblatt in der Hand. Mechanisch wiederholten seine Lippen den Inhalt der kurzen, in liegenden Zügen geschriebenen Zeilen. Vor seinen Augen flimmerte es. In seinem Kopfe dröhnte es. Dann war alles still ... Er hielt sich an der Stuhllehne. Der Diener räusperte sich. Herr Schreiner fuhr herum. Die beiden Männer standen einander gegenüber, der Diener verlegen, dumm lächelnd, Herr Schreiner noch immer den Brief in der Hand. Er zwang sich zur Ruhe. »Wann ist die gnädige Frau abgereist?« »Mit dem Mittagsschnellzug, gnädiger Herr. Ich hab' noch den gnädigen Herrn benachrichtigen wollen, aber die gnädige Frau hat gesagt, es ist nicht nötig, der gnädige Herr weiß schon. Die gnädige Frau ist nach Hollbrunn gefahren.« Zu den Schwiegereltern natürlich. Er wollte fragen: »Mit den Kindern?« Aber er verschluckte die Silben. Der Diener fuhr sich mit beiden Händen an den Hüften herab. »Die kleinen Fräulein lassen den gnädigen Herrn vielmals grüßen.« Herr Schreiner fühlte, daß er eine klägliche Figur machte. Er wandte sich um, zog den breitlehnigen Stuhl unter der Schreibtischplatte hervor und ließ sich schwer darin nieder. »Es ist gut. Ich werde läuten, wenn ich dich brauche.« Langsam entfernte sich der Bediente. Er hörte an seinen knarrenden Schritten, daß er sich nach ihm umsah. Nun saß er vor seinem Schreibtisch. Die Bilder seiner Frau, seiner Kinder standen vor ihm. In ihren Gläsern spiegelte sich das Dämmerlicht des einfallenden Abends. Die Uhr tickte. Unten rollten Wagen ... Plötzlich kratzte es an der Tür. Der Diener hatte die drei Hunde in das anstoßende Zimmer gelassen, als ob er seinen Herrn zu trösten versuchte. Herr Schreiner erhob sich, öffnete die Tür. Die Hunde sprangen an ihm empor. Da rannen ihm – seine Brust hob sich stoßweise – dicke Tränen über die Wangen ... Er wanderte ruhelos durch die Zimmer. In der Kinderstube, wo ihm jedes Stück von einem verlorenen Leben erzählte, verweilte er. Er weidete seinen Schmerz an diesen stummen Zeugen eines jäh zerbrochenen Glücks. Der Nußknacker, der Nikolaus, der Krampus, die steirische Bäuerin: alle sahen sie ihn an. Diese steifen bunten Männer und Frauen drückten eine unsägliche Trauer aus. Er setzte sich auf eines der kleinen Stühlchen vor dem Kachelofen neben der großen Puppenwiege, preßte die Hände vor die Augen und schluchzte. Aber da er sich dabei ertappte, daß er seinem Schluchzen zuhörte, stand er wieder auf – es war unterdessen fast ganz finster geworden –, rief den Diener und ließ ihn im Ankleidezimmer den Smokinganzug mit allem Erforderlichen vorbereiten. Er konnte nicht zu Hause bleiben. Er mußte irgendwohin, unter Menschen. Die Luft dieser verlassenen Zimmer lastete immer schwerer auf seinem Herzen ... Anfangs hatte ihn eine Art von Trotz abhalten wollen, seiner Frau zu schreiben. Wie es ganz im Anfang dieser denkwürdigen Heimkunft mit ihm sich verhalten hatte, wußte er nicht mehr. Aber daß da keinerlei Trotz in ihm gewesen war, der erst später, durch einige Geißelhiebe von Erwägungen gereizt, sich emporgebäumt hatte, das fühlte er deutlich. Jetzt, nach dem Besuch im Kinderzimmer, nach diesen reichlichen Tränen, war er ganz Unterwürfigkeit, ganz Demut. Er schrieb einen langen anklagenden und flehenden Brief, stand ein wenig erleichtert auf und begab sich, mit sich selbst bis zu einem gewissen Grade zufrieden, in das ans Badezimmer stoßende Kabinett, wo der Diener schon alles bereitgelegt hatte und dienstfertig wartete.

Den Brief in der Hand, um ihn nicht etwa schließlich in der Rocktasche zu vergessen, trat er in den Abendnebel hinaus. Zunächst wollte er ein Theater aufsuchen, und zwar ein übermütiges, ganz ungebundenes Stück zu sehen. Er wählte ein Vaudevilleunternehmen der Vorstadt, erhielt richtig noch einen Platz in der ersten Parkettreihe und trat nach einem letzten Blick in den hohen Wandspiegel der Garderobe, das auf dem Wege gekaufte Monokel im Auge, den Spazierstock mit der Krücke über den linken Arm gehängt, an seinen weißen Handschuhen knöpfend, in den Zuschauerraum. Man war mitten im ersten Akt. Er musterte im Rampenlicht die Anwesenden. In der Parterreloge sah er den Grafen Verminges, einen ehemaligen Regimentskameraden, mit seiner Frau, einer kleinen, brünetten, beweglichen Person. Er erinnerte sich ihrer wohl. Die Heirat hatte damals im Regiment Aufsehen gemacht. Sie war die Tochter eines reich gewordenen Erzeugers ätherischer Öle, von Haus aus nicht eben wohlerzogen, aber bildsam. Im zweiten Akt besuchte er das Ehepaar, das sich augenscheinlich miteinander nicht zum besten zu amüsieren gesonnen oder in der Lage war, denn der Graf starrte zumeist mit seinem Glas in eine gegenüberliegende Loge, die Gemahlin wandte trotzig kein Auge von der Bühne. Ein verlegenes Zögern beim Eintreten überwindend, benahm sich Herr Schreiner als erfreuter alter Bekannter. Die beiden kamen aus einer kleinen Garnison. Wie er erfuhr, waren sie auf der Durchreise. Man verabredete ein gemeinsames Abendessen. Erleichtert atmete Herr Schreiner auf. Ein Teil der Nacht war vorläufig angebracht. Blicke des intimen Einverständnisses zur Loge empor – auf die Umsitzenden berechnet – gab er bald als erfolglos auf, denn Verminges hatte sich wieder seinen Betrachtungen gewidmet, aber es war ihm unterdessen doch gelungen, ein Gefühl der Sicherheit in sich heranzuzüchten, und die wiedergewonnene Behaglichkeit – er rüttelte nicht an ihrer dünnen Decke, unter der wie unter der leichten Eisschicht eines schmutzigen Gerinnsels allerlei Ungeklärtes schwamm – verlieh ihm so viel Selbstbewußtsein, daß er sogar eine hübsche Soubrette auf sich aufmerksam zu machen suchte, indem er des öfteren seine weiß behandschuhten Hände über den silbernen Stockgriff legte und hin- und herrückend sein Augenglas auffunkeln ließ. –

Im Hotel, das die Menage Verminges gewählt hatte, fand sich bald ein Freund des Grafen ein, ein junger Diplomat, der Herrn Schreiner mit gemessener Höflichkeit begrüßte, nur um sich desto lebhafter seiner Nachbarin zu widmen, neben der ein Platz sich als für ihn reserviert erwies. Herr Schreiner konnte bald bemerken, was niemand lang ein Geheimnis zu bleiben vermochte, daß die Gräfin und der junge Mann, der eine fade gelbe Physiognomie besaß und alle möglichen Menschen im Saale lässig scherzend grüßte, sich im vollsten Behagen miteinander befanden. Der Gemahl, der sich gewohntermaßen von seiner Frau aufgegeben sah, rückte an den Regimentskameraden heran, und die beiden leisteten ein Erkleckliches im Trinken und Zutrinken. Es war ein Viertel vor Mitternacht, als sich die Gesellschaft trennte. Der Diplomat, der bei Tisch Herrn Schreiner keiner erheblichen Ansprache gewürdigt hatte – dieser nannte ihn im stillen einen arroganten Laffen –, empfahl sich am Wagenschlag, Verminges aber hatte mit Alexander Schreiner eine gemeinschaftliche Nachfeier in einem Vergnügungs-Etablissement verabredet, wo er auch, als dieser kaum die letzte vorhandene Loge besetzt hatte, sehr aufgeräumt erschien. »Nun wollen wir lustig sein, Bruder!« Mit diesen vielversprechenden Worten übernahm der Graf die Führung, und rasch hatte sich an dem Tisch der neuen alten Freunde eine Anzahl tiefdekolletierter und hochfrisierter Dämchen eingefunden, die Backhühner mit Salat und gemischtem Kompott sowie unzählige ›Giardinettos‹ verspeisten und sich überaus toll betrugen. Zu vorgerückter Stunde, als der Zigarrendampf den Raum mit blauen Wolken erfüllte und die grellen elektrischen Lampen überschwelte, saß eine schwarze üppige Kleine Alexander auf den Knien und küßte ihn wiederholt auf den Mund, was er anfangs abgewehrt hatte, später aber aus Scham vor Verminges geschehen ließ, obwohl er – er wiederholte bei sich die sophistische Beteuerung – keinen ihrer Küsse erwiderte.

Auch der Graf hatte eine Schöne ausgewählt oder sich von einer wählen lassen und bereits einige Male Zeichen großer Ungeduld von sich gegeben, die Herr Schreiner, der nicht recht wußte oder zu wissen begehrte, wie das alles enden sollte, beharrlich mißverstand. Endlich erhob sich Verminges, rief dem Zahlkellner, man teilte nach einem nicht sehr aufrichtigen Abwehrversuche des Grafen die beträchtlichen Kosten der Unterhaltung, und nach einem kordialen Händedruck sah sich Alexander Schreiner plötzlich auf der Straße mit dem Mädchen, das, in einen roten Plüschmantel mit Pelzbesatz gehüllt und auf hohen Stöckeln herumtrippelnd, um sich gegen das Frösteln in der feuchten Nachtluft zu wehren, halb an seinem Arme, so als wäre das selbstverständlich, vor dem Portal des Etablissements nach einem der nahe haltenden Wagen zu rufen Auftrag gegeben hatte.

Ziemlich wirr im Kopfe, wie betäubt vom Dunste des Lokals und der Weiber, ohne rechte Besinnung, was geschehen sei, was geschehen werde, stieg Alexander ihr nach in das dunkle Coupé, ließ sich von der schauernden Kleinen an die liebebereite Brust ziehen, erwiderte, halb im Traume, den zärtlichen Druck ihrer Schenkel und kam erst zu sich, als der Fiaker, indem er die Pferde etwas verhielt, nach dem Ziele der Fahrt fragte. »Zu dir«, sagte die junge Dame. Das gab Herrn Schreiner wie mit einem Schlage die Herrschaft über sein aus dem Zügel gefallenes Innenleben zurück. Ohne sich auf weitere Erörterungen einzulassen, im Gefühle längst versäumter Pflicht, fuhr er die Zusammenschreckende an: »Wo wohnst du?« Als sie zögerte, wiederholte er die barsche Frage, erfuhr eine Gasse und eine Hausnummer, rief sie dem Kutscher zu und warf sich rückwärts in den Wagen, die Augen schließend, die Hände über dem Magen faltend. Das Mädchen saß einige Augenblicke verschüchtert da, dann hob es seine bereits zum Keifen schwankende Stimme und beklagte sich bitter über die Unfreundlichkeit ihres Kavaliers. Da dieser nicht antwortete, erklärte sie, mit dem Fuß aufstampfend, sie werde ihn um keinen Preis bei sich empfangen, da sie mit ihrer Mutter zusammen wohne und die Mutter nie und nimmer – sie wiederholte die wohllautende Phrase – zugeben würde, daß sie einen Herrn usw.

Seinen Hut aus dem Gesicht in den Nacken schiebend, griff Herr Schreiner nach der Wagenklinke. Da die Schöne fortfuhr, die über allen Zweifeln erhabene Lauterkeit ihrer Mutter gegen einen unbekannten Angreifer zu verteidigen, steckte Alexander den Kopf beim rasch herabgelassenen Fenster hinaus, ließ den Kutscher halten, sprang aus dem Wagen, warf jenem eine große Silbermünze hin und verschwand um die nächste Straßenecke.

Er hörte, daß der Wagen stehengeblieben war, vernahm ein erregtes Zwiegespräch und begann zu laufen. Er lief, als seien ihm Häscher auf den Spuren, er lief so, daß ihn ein Wachmann, der sich erst verwundert nach ihm umgesehen hatte, anrief. Er lief immer rascher durch unbekannte Gassen und stürmte endlich in ein kleines Kaffeehaus, aus dessen verhängten Fenstern der trübe Schein herabgedrehter Gasflammen drang. Hier ließ er sich völlig erschöpft nieder, bestellte einen schwarzen Kaffee und harrte mit Herzklopfen, ob seine Verfolgerin (denn nur eine Verfolgung hatte er wie eine Gefahr im Sinne) ihn an seinem doch nicht ganz sicheren Platz erreichen würde. Als der dampfende Kaffee von einem übernächtig stierenden Kellner aufgetragen war, zahlte er sogleich, netzte kaum die Lippen mit dem heißen dünnen Getränk und eilte ins Freie. Der ganze Aufenthalt hatte nur wenige Minuten gedauert. Die Straße war leer. Unter einer Laterne stand wieder ein Wachmann. Er trat auf ihn zu und – in seiner Nähe fühlte er sich sicher – fragte nach dem nächsten Einspännerstandplatze. Der Mann – es war derselbe, der ihn vorhin angerufen hatte; offenbar war er ihm gefolgt – sah ihn argwöhnisch an, da aber Alexander mit gutgespielter Gelassenheit ein Zigarrenetui hervorzog, ihm eine Zigarre entnahm und sich in aller Ruhe mit dem an einer langen Kette hängenden Taschengerät die Zigarre zurechtschnitt, ja den Angeredeten endlich gar um Feuer bat, gab dieser alle Einwände gegen die verdächtige Erscheinung auf und erteilte willig Auskunft. Inzwischen war in torkelndem Holpern ein nichtbesetztes einspänniges Fuhrwerk herangerumpelt. Herr Schreiner rief den schlaftrunkenen Kutscher an, und erst als die Scheiben der Wagentüren um ihn klirrten, fühlte er sich geborgen. Um vier Uhr lag er in seinem Bett. Totenstille umfing ihn. Allerlei Gedanken schwangen verwirrend im Frühlicht. Aber seine Müdigkeit war größer als ihre Macht. Er entschlief, ohne sich, wie ihm von seiner Frau angelernt worden war, die Zähne und den Mund vor dem Zubettgehen gereinigt zu haben.

Als Herr Schreiner erwachte, war es heller Tag. Ein schrecklicher Gedanke riß ihn aus der von dumpfem Kopfschmerz begleiteten Duselei empor. Er tastete nach der Uhr: sie zeigte die elfte Stunde. Er hatte also richtig verschlafen. Was war zu tun? Er klingelte dem Diener. Dieser erschien erst nach mehrmaligem Läuten. Offenbar hatte ihn die Köchin wieder einmal unmittelbar vom Lager holen müssen, auf dem er sich in jeder unbeschäftigten Stunde – und er schuf sich deren nur allzu viele – auszustrecken pflegte. »Warum hast du mich nicht geweckt, Kerl?« schrie den in der Tür Zögernden Herr Schreiner an. »Ich hab' vielleicht fünfmal geklopft, gnädiger Herr ...« – »Was sind das für dumme Ausreden! Du weißt wohl, daß ich unbedingt heraus muß!« – »Ich hab' geglaubt, daß der gnädige Herr heute – –« »Du hast gar nichts zu glauben, Trottel!« Und mit der Hilflosigkeit eines Kindes sofort in einen weinerlichen Ton verfallend, fuhr er fort: »Was soll man denn jetzt machen?!« Der Bursche erlaubte sich vorzuschlagen, daß er den gnädigen Herrn im Amt abmelden würde. (Seine militärische Vergangenheit ließ ihn immer die Fachausdrücke finden.) »Abmelden! Esel! ... Aber es geht ja nicht anders!« jammerte Herr Schreiner, der sich bereits mit dem Gedanken, weiterzuschlafen, vertraut gemacht hatte. Die lästige Pflicht zu schriftlicher Entschuldigung mußte umgangen werden ... »Gut.« Der Diener wollte sich entfernen. »Halt, dummer Kerl«, brüllte Herr Schreiner. Die rote Physiognomie des Bedienten erschien wieder in der Türspalte. »Mach die Tür zu und komm her!« Er tat es. »Wie du wieder aussiehst! Du hast dich gewiß wieder von der Mali erst wecken lassen!« Josef beteuerte seine Unschuld mit der sattsam bekannten Engelsmiene. »Schweig!« Der Diener wollte sich zurückziehen. »Bleib doch!« Josef stand steif. Das verwirrte Haar fiel ihm in die breite niedrige Stirn. Mit einem Blick des Hasses maß ihn Herr Schreiner. »Du wirst dich anständig anziehen. Nicht in Livree. Einen ordentlichen Zivilanzug, runden Hut. Aber Handschuhe, verstehst du!« Josef verstand. »Fährst hin und gehst zum Herrn Hofrat N... Zu wem gehst du?« »Zum Herrn Hofrat N.«, wiederholte Josef stramm. »Du fragst den Bürodiener, ob du selbst zum Herrn Hofrat hinein darfst. Und wenn er dich angemeldet hat, so sagst du dem Herrn Hofrat, daß ich krank bin und heute noch schreiben werde.« Der Bursche stand, gewitzigt durch die vielen Anrufe, still. »Also geh! Worauf wartest du noch?« Der Bediente verzog sein breites Gesicht zu einem freundlichen Grinsen und öffnete langsam die Tür. Er war nicht ganz sicher, ob ihm sein Herr schon alles gesagt hätte. Und Herr Schreiner überlegte auch. »Nein, es geht doch nicht. Ich muß heraus. Wart noch!« tief er. Der Bediente wandte sich triumphierend um. »Wart noch! Du kannst dich mittlerweile anziehen. Aber sofort und ordentlich, hörst du?« Der Diener, froh, jetzt sicherlich ans Ende der Unterredung gelangt zu sein, verschwand eiligst. Herr Schreiner erhob sich gähnend, fuhr in die gelben Schlafschuhe und den über die Stuhllehne gehängten blauen Morgenrock und schritt im langen Nachthemd durch die ungeheizten Zimmer. Während er ging, kam die ganze Jämmerlichkeit seiner Situation wie eine Sturzwelle Spülicht über ihn. Ihm war das Weinen nahe. Auf dem Schreibtisch standen das Bild seiner Frau, die Bilder seiner Kinder. Er nahm die Fotografien in ihren Glasrahmen und küßte sie mehrmals. Dann, als hätte er eine vorgeschriebene Handlung verrichtet, zog er die Lade auf, entnahm der Papierschachtel einen großen Bogen und setzte die Feder zum Schreiben an. Er mußte abermals gähnen; der Krampf tat ihm wohl. Er nieste kräftig. Daß er das Taschentuch nicht bei sich hatte, verdroß ihn. Aber er wollte nicht wiederum nach Josef läuten. So zog er den Nasenschleim hoch, seufzte tief und begann in langgestreckten Zügen den Entschuldigungsbrief an den Amtsvorsteher. Es ging ihm schwer vonstatten. Die Uhr zeigte 20 Minuten nach elf. Es war keine Zeit zu verlieren. Er beendigte das Schriftstück, das ihm beim Überlesen etwas viel an Unterwürfigkeit zu bieten schien, leckte den gummierten Rand des Umschlags – natürlich war der Markenbefeuchter wieder einmal nicht mit Wasser gefüllt! –, schrieb eine umständliche Adresse und übergab den Brief dem Bedienten, der unterdessen geräuschlos hinter ihm eingetreten war. »Du gibst das draußen ab und wartest eine Weile. Vielleicht bekommst du Antwort, aber es ist keine nötig ...« Sollte er sich wirklich noch einmal zu Bett begeben? Die Sonne schien wundervoll warm. Auch verspürte er einen nicht geringen Frühstückshunger. Aber was blieb ihm denn übrig? Ausgehen konnte er doch nicht ... Seiner Frau schreiben? Er verwarf den Gedanken erschreckt. Es würde wohl das klügste sein, sich auszuschlafen. Auch schmerzte ihn jetzt der Kopf heftig. Er warf den Bildern Abschiedsblicke zu, denen er einen süß-schmachtenden Ausdruck gab, und verfügte sich in das Schlafzimmer zurück. Das bedeckte Bett Elsens gab seinen Gedanken wieder die unerwünschte Richtung. Auch hatte er sich in der Zerstreuung eine Zigarette angezündet, die ihm den Rest der Schläfrigkeit zu vertreiben nur allzu geeignet erschien. Er schleuderte sie weg und warf sich auf das zerwühlte Lager. Er zog die Decke hoch hinauf und schloß die Augen mit Nachdruck. Aber es gelang ihm nicht mehr, einzuschlafen. Und je länger er lag, um so beunruhigender wurden die einander treibenden Gedanken. Plötzlich schoß ihm das Blut in die Schläfen, so siedend, daß er die Augen öffnete und sich im Bett aufsetzte. »Um Gottes willen, wohin soll das führen?« fragte er sich, und er wiederholte diese Phrase mechanisch mehrmals. Der gestrige Abend, die wüste Nacht stiegen wie gräßliche Gespenster vor ihm auf. Er kam sich geschändet vor, verworfen, wie ein Verbrecher. Er griff sich an den Kopf. »Wenn jetzt ein Fieber käme! Wenn jetzt ein Fieber käme!« flüsterte er. Er begann ein Gebet um Fieber an Gott zu richten, ein wohlgesetztes Gebet, in dem alles aufgezählt war, was ihm zugestoßen sei, und Gott darauf aufmerksam gemacht wurde, daß er diesen einzig richtigen Ausweg aus den Drangsalen ihm in seiner großen Güte eröffnen möge. Denn ein Fieber, eventuell sogar Lebensgefahr ... Lebensgefahr! Er frohlockte bei der Vorstellung, daß man seiner Frau ein Telegramm nachzusenden sich genötigt sehen würde, daß sie daraufhin ›umgehend‹ zurückzukommen veranlaßt wäre ... Aber nein, das war ja unmöglich! So etwas konnte nie und nimmermehr geschehen! Im Gegenteil. Es mußte immer ärger und ärger kommen. Daß seine Frau mit ihrer Abreise einen übereilten Schritt getan haben konnte, war ihm noch nicht einen Augenblick eingefallen. Jetzt dämmerte etwas Ähnliches wetterleuchtend durch sein Gehirn. Aber die drückende Schwüle der Atmosphäre, als ein dunkel lastendes Sichverdichten von Massen über ihm, war gleich wieder da ... Scheidung! Diese Möglichkeit fiel plötzlich wie ein Wetterschlag auf ihn herab. Scheidung! Natürlich! Daran dachte sie. Die Abreise war die Einleitung zum Auseinandergehen. Er wand sich in Qualen unter der Wucht dieser Vorstellung. Eine lebhafte Szene spielte sich vor den Augen seiner Seele ab. Er sah sich jammernd, winselnd, um Gnade flehend. Dumpfe Wut grollte im Hintergrund seiner Brust. Und der Haß wollte sich erheben. Da schoben sich die lichten Bilder seiner beiden blonden Mädchen lautlos an seiner Seele vorbei, glitten langsam, wie auf Nimmerwiedersehen scheidend, vorüber ... Er sah sich auf die Knie stürzen, die Hände ringen, hörte seine ohnmächtigen Schreie ... Er warf die Decke ab. Sein Gesicht glühte. Aus der Nachttischlade holte er einen Handspiegel hervor und betrachtete sich lange, eingehend, mit Forschergenauigkeit. Wie er aussah! Gedunsen, rot, die Augen trüb, glasig, verquollen, das Haar fettig, wirr, schütter, an Kinn und Wangen Bartstoppeln, die Nase aufgetrieben, die Nasenlöcher voll Schmutz. Er schneuzte sich, prüfte wie ein Schnupfer das Ergebnis. Schmutz. Und sooft er sich wieder schneuzte, rußiger Unrat. Sein Blick fiel auf seine Finger. Sie waren gleichfalls rot. Die Nägel hatten schwarze Ränder. Er hauchte in seine Hand. Sein Atem stank. Er empfand einen grenzenlosen Ekel vor seiner Person. Dann warf er das Nachthemd ab und eilte in das Badezimmer. Der Ofen war noch warm. Er ließ das Wasser in die Wanne stürzen und begann sich einzuseifen. Während er das Messer am Riemen glattzog, dachte er so lebhaft an seine Frau, daß ihm Tränen in die Augen traten. Haß gegen sich selbst erfüllte ihn, indem er den Abend, die Nacht wieder überlief. Verminges! Was hatte er diesen blöden Kerl treffen müssen! Natürlich die ›Gräfin‹ hatte ihn gelockt! Diese – Dirne! Und er gefiel sich darin, auf die Unbekannte allerlei Schmähungen zu häufen. Plötzlich errötete er heftig. Die Küsse jenes Mädchens brannten auf seinen Wangen. Er wusch sich mit Gewalt in dem bis an den Rand gefüllten Becken des Waschtisches, ließ die Brause über seinen Kopf gehen, rieb sich immer wieder die Augen, den Mund, die Nase. Hoch aufatmend ging er ans Rasieren, seifte sich nochmals gründlich ein. Seine breite Brust dehnend, zog er die Wange mit der Linken übers Kinn straff. Er setzte das Messer an. Es ging gut. Kaum daß er sich ein Haar aussprengte. Da klopfte es. Der Bediente. »Nun?« Der Herr Hofrat lasse sagen, er erwarte den gnädigen Herrn morgen bestimmt. »So, danke, es ist gut.« Was das bedeuten mochte? Eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Das Frühstück verzehrte er in trüben Gedanken. Er aß und aß, ließ sich zum Schluß noch ein Glas Sherry reichen, trank es gierig auf einen Schluck, trank außerdem zwei, drei Gläser Wasser. Die Post hatte zwei Rechnungen gebracht und ein Modejournal für seine Frau. Er zog es aus der Umschlagschleife. Da fiel ihm ein, ob sie wohl jemals wieder selbst diese Schleife entfernen würde, hier in ihrer Wohnung, bei ihm? – Seine Brust ward von neuem bedrückt von all den quälenden, auf Unheil zielenden Gedanken ... Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb an Else. Er schrieb Bogen um Bogen, fast eine Stunde lang ... Ihm fiel ein, daß er nachmittags im Büro erscheinen, daß er alles wiedergutmachen könnte. Er würde sagen, daß er sich zum Kommen gezwungen, sich am Morgen sehr schlecht befunden hätte ... Was für eine Krankheit er wohl nennen sollte? Kopfschmerzen? Zahnweh? Er sann auf etwas Erheblicheres, unbedingt Mitleid Erregendes. –

 

Herr Schreiner hatte es doch nicht ausgehalten. Er war gegen vier Uhr ins Büro gekommen. Als er sich nach dem Vorsteher erkundigte, erfuhr er, daß dieser sich bereits entfernt hatte. Das bedeutete eine Enttäuschung für ihn. Denn nun war sein Märtyrergang eigentlich ganz überflüssig gewesen. Anderseits war er der Notwendigkeit enthoben, eine Krankheitsgeschichte zu erzählen, bei der ihn die Verlegenheit gewiß übermannt haben würde. Lügen war seine schwache Seite. Am nächsten Tage war die ganze Sache so gut wie vergangen. Da blieb nicht viel mehr zu tun übrig, als sich einfach zu melden. Freilich mußte er irgendwie, ohne aber etwa damit zu prunken, anbringen, daß er bereits am Nachmittag gekommen wäre, krank, wie er sich gefühlt hätte. Aus Pflichteifer ...? Würde ihm das jener glauben. Nicht nur eine Komödie vermuten und um so unbarmherziger verfahren? Hohn war Herrn Schreiner ja noch lieber als die gewisse stillschweigende Nichtbeachtung. Er war nicht ohne schüchternen Ehrgeiz. Er wollte von Zeit zu Zeit sogar als Arbeitskraft hervorstechen, und es verdroß ihn dann, wenn man diese Betätigung nicht allzu ernst nahm. Es lastete ein Fluch auf ihm. Man wollte ihn nicht als Beamten gelten lassen. Und das Böseste an der Sache war, daß er sich eigentlich selbst ja auch nicht dafür hielt, wie er sich überhaupt immer nur in Rollen und Situationen zu ›fühlen‹ imstande war. Er ›fühlte‹ sich als Lebemann, wenn er um zwölf Uhr nachts, das Monokel eingeklemmt, mit Freunden das eine oder das andere Mal im Jahr ein Nachtlokal betrat. Er ›fühlte‹ sich als Reiter, wenn er auf vier Wochen zur Waffenübung eingerückt war, ›fühlte‹ sich als Sportsmann, wenn er einem Tennismatch zusah. Nichts Ganzes kam aus ihm heraus, weil er selbst nirgends ganz darinsteckte. Was war er denn eigentlich? Und er quälte sich, wie so oft, eine Formel zu finden für diesen unglückseligen, von Launen gepeinigten, befangenen und ungeschickten Menschen, der er im Grunde war. Gelernt hatte er auch nicht allzuviel. Ihm fehlte immer da und dort etwas. Er beneidete die aristokratischen Jünglinge um den kräftigen Schatten, den sie im Leben warfen. Diese ›hochmütigen Buben‹, die so oft es nur irgend anging, ihren bürgerlichen Bekannten verleugneten, wenn es zum Grüßen kommen sollte, wegsahen oder sich angelegentlich schneuzten, diese sehr gut gekleideten ›Ach-und-Krach-Absolventen‹ von Fortbildungskursen und Ackerbauschulen, diese Rekordraucher und geborenen Jäger: wie wundervoll sicher waren sie doch alle! Und er, Herr Schreiner, der gebildete (war er übrigens gebildet?), der vermögende (sie war doch eigentlich nur eine halbe Sache, seine Vermöglichkeit, zu viel und zu wenig, wie man's nahm, jedenfalls nicht genug für die ›Welt‹, für einen Bürgerlichen in der ›Welt‹), der gut Placierte, der Verheiratete, der Hübsche, der Elegante (er traute auch seiner Eleganz nie recht, sah sie immer in Wirklichkeit und ›bildlich‹ prüfend im Spiegel an, verglich, argwöhnte, ahmte nach, verwarf wiederum, wechselte), der Wohlgeborene (das konnte ihm doch niemand nehmen: er war aus guter Familie, man hatte sogar ein Wappen im Hause!), er, er war nie etwas, er imponierte niemand, ja, er fügte sich nicht einmal gut ein, er stieß an, er war im Wege, er gefiel nicht. Das war sein größtes Unglück. Er hätte sich alles verziehen, wenn er gefallen hätte. Aber er gefiel nicht. Seine Eitelkeit ließ ihn das immer wieder übersehen. Um so schwerer empfand er dann die schlagenden Beweise von der Richtigkeit seiner tiefinnerst verborgen kauernden Überzeugung. Damals, als er der ägyptischen Tänzerin in die Garderobe gedrungen war, noch als Gymnasiast, und sie ihn mit zornflammenden Augen hinausgewiesen hatte, während er doch wußte, daß allabendlich sein Freund, der Kadett Graf Eugen Bodde, ihr bei der Toilette Gesellschaft leistete! ... Das war ja wieder so ein eklatanter Fall, das mit dieser Lucia Corma! Was war sie denn eigentlich? Eine alternde Person, eine Frau mit Vergangenheit und ohne Zukunft als Weib. Und er war doch immerhin Herr Alexander Schreiner mit den gerade gewachsenen Beinen, dem schlanken Hals, der hohen Taille, dem schön geschnittenen ›französischen‹ Gesicht. Sie war eine berühmte Sängerin. Gut. Aber was war schließlich daran? Man konnte sich seinen Sitz bezahlen, und nun saß man da, und sie sang vor. Und da sie eine wohlklingende, gut geschulte Stimme hatte und immer wieder sang und die Zeitungen sie seit Jahren lobten, kam ›alles‹ in diese Konzerte, und man ›riß‹ sich um die Billette. Das war ja immerhin nichts ›Soziales‹. Sie war eben doch jemand, der für Geld sich auf ein Podium stellt und etwas zum besten gibt. Und der und jener durfte derweil mit seiner Nachbarin plaudern und brauchte gar nicht einmal hinzuhören auf diese ältliche Dame, die ein Lied nach dem andern heruntersang. Nun sagte man zwar, sie habe ›Seele in ihrem Gesang‹, und so weiter. Was schon diese Zeitungsschreiber davon wissen! Seele, Seele! Er konnte das nun einmal gar nicht finden. Ja, einen schön geschwungenen Rücken hatte sie. Und überhaupt – eine prächtige elastische Figur. Und Augen ...! Herr Schreiner verlor sich in diesen Augen. Sie starrten ihn aus den Winkeln des Zimmers an, sie wuchsen aus diesen Winkeln hervor, sie kamen ihm näher, sie gingen in ihn hinein ... Als er sich erraffte, stand in dem einen Winkel ein Spucknapf, in dem anderen nichts. Spucknäpfe, philosophierte er, stehen eigentlich immer hinter diesen schönen Dingen ... Herr Schreiner besah, was auf seinem Schreibtisch sich angesammelt hatte seit gestern abend ... Gestern abend! – Eine Welt lag dazwischen. Er seufzte unwillkürlich. Ob die Akten diesen Seufzer mit beeinflußt haben mochten, zog er nicht weiter in Erwägung. Jedenfalls waren sie geeignet dazu! Herr Schreiner war ganz unwillig geworden. Es war wirklich zu arg. Natürlich hatte man nun gerade ihm wieder alles das da hingelegt! Und was noch dazu! Da war wieder so eine entsetzliche Konzessionsgeschichte! Der dickste Akt sicherlich, der seit Monaten ins Einreichungsprotokoll gelangt war. Und – Herr Schreiner hob ihn, der reichlich ein Kilogramm wog, näher zum Auge empor – stand denn auch wirklich sein Zeichen darauf? War er denn wirklich gerade ihm wiederum zugeteilt worden? Ja. Da stand es. ›S‹ mit Bleistift flüchtig geschrieben. Ihm war diese Höllenmaschine zugewiesen, ihm ganz allein. Da galt kein Zweifel ... Ein Gedanke stieg in ihm auf, ein teuflischer subalterner Gedanke. Wie, wenn er dieses Zeichen änderte? ... Ihm wurde heiß und kalt bei dem Gedanken. Aber es war ihm wirklich unmöglich, sich jetzt durch diesen Akt durchzubeißen. Und er war sicher, daß man ihn antreiben würde. Er fühlte sich unfähig, irgend etwas zu arbeiten. Mit erneuter Heftigkeit drang, durch diese Erwägung herbeigelockt, der Kopfschmerz aus seinem Versteck hervor ... Aber die seiner arglosen Natur völlig unangemessene Niedrigkeit dieser Überlegung enthüllte sich auch sofort in ihrer ganzen scheußlichen Nacktheit. Er fragte sich mit fürchterlichem Ernst, ob er wirklich fähig wäre, eine derartige Unerhörtheit zu begehen? Ganz abgesehen davon, daß es ja der reine Wahnwitz gewesen wäre, da man unfehlbar hätte darauf kommen müssen und das Ärgste an maßregelnden Folgen in einem solchen Falle zu befürchten stand, ganz abgesehen von dieser praktischen Unmöglichkeit der Ausführung bei einigermaßen heller Vernunft, hatte er sich die Frage zu beantworten, ob er, wenn sich dieser Betrug hätte ermöglichen lassen, imstande gewesen wäre, ihn zu verüben ... Ihm schwindelte. Er mußte sich an den Schreibtisch halten, obwohl er auf seinem bequemen Stuhle saß. Er versank ins Bodenlose der menschlichen Verruchtheit. Eine solche Möglichkeit war ja Grund genug zum Selbstmord! Wenn er sich dieser Möglichkeit überführte, mußte er zum Revolver greifen. Denn wo war die Grenze? Was für schauderhafte Abgründe schlummerten in seiner Seele?! Er war einer Ohnmacht nahe ... Und mit eins warf die Erinnerung an die entsetzliche Kette wüster Geschehnisse der letzten Tage ihren wachsenden Schatten auf sein zerstörtes Gemüt. Was war aus ihm geworden, ihm, Alexander Schreiner, dem glücklichen Ehemann und Vater, dem guten Sohne, braven Beamten, behaglichen Genießer der unschuldigen Freuden des Daseins! Ein von seiner Frau verlassener Verbrecher, ein von seinen Kindern entfernter Wüstling, ein Lügner und beinahe ein Betrüger! Dieses ›beinahe‹ stieß einen Dolch in sein Herz. Beinahe! Alles im Leben war ›beinahe‹ ... Und schließlich war die ›Ausführung‹ ja Nebensache. Die Möglichkeit war das Furchtbare. An was für dünnen, haarfeinen Fäden hing man über dem Verbrechen! Wo fing denn eigentlich der Wille des Menschen an, wenn solche Dinge möglich waren wie die Geschehnisse dieser Tage? Es war gut, daß der bewußte heitere Kollege erschien, wohlwollend, wie immer die sind, die sich augenblicklich im Vorteil fühlen, die einen Vorsprung sahen in diesem Schnecken-Wettbewerb: Bürgerliches Dasein. Herr Schreiner konnte über den Akt jammern, und da war die ganze Geschichte wie weggeblasen. Es war ja eine Lächerlichkeit, solche Angelegenheiten ernst zu nehmen, gar tragisch! Und Herr Schreiner gewann es, wiewohl mit einigem Schaudern, über sich, seine fürchterliche Idee als einen guten Witz preiszugeben. Er versicherte dem lächelnden Kollegen, daß er soeben nachgedacht hätte, ob er nicht das Zuteilungszeichen S in den Anfangsbuchstaben P seines, des Kollegen, Namens verwandeln solle. Er stieß dabei den Kollegen freundschaftlich in die Seite und schüttelte sich vor Lachen. Der Kollege lächelte auch, aber Herr Schreiner schien es, als lächelte er nur äußerlich, als faßte er ihn schärfer ins Auge, als sähe er in Kammern voll verbrecherischer Möglichkeiten hinein. Sein Lachen brach sich. Er fühlte, daß seine Augen ihn verrieten, daß es in seinem Kopfe zu bohren begann. Er war verlegen geworden und schwieg. Auch der Kollege, der plötzlich eine sehr ernste Miene angenommen hatte, schwieg, und man trennte sich, Herr Schreiner mit dem Gefühl, daß hier eine Erklärung hätte abgegeben werden müssen, die – so sagte er sich voll Verzweiflung – notwendigerweise mißverstanden worden wäre und deren Mangel doch eine Kluft schuf, eine niemals mehr zu überbrückende Kluft, wobei er, Schreiner, tief unten am Rande des Spaltes und jener jenseits auf ragender Höhe saß und – sitzenblieb in alle Ewigkeit ... Er war fürchterlich verstimmt. Und er wußte sich keinen Rat, als auszugehen. Nach Hause wollte er nicht. So prüfte er seinen Vorrat im Kasten. Der Frackanzug fehlte. Er hatte ihn ja neulich abends ... neulich abends! – er hielt eine Zeitlang schaudernd vor diesem Gedanken –, an jenem verhängnisvollen Abend, angelegt. (Denn dieser war es, der erste Theaterabend, sagte er sich, wie wenn darin eine Entschuldigung gelegen hätte, an deren brüchige Stütze er sich zu klammern vermochte.) So ließ er denn um seinen Diener telefonieren mit dem Auftrag, alles Erforderliche mitzubringen, und begab sich mit Überwindung an die Arbeit ... Der Bediente kam. Herr Schreiner kleidete sich mit Umständlichkeit um, tränkte seine Taschentücher – er hatte deren immer zwei bis drei bei sich – mit Kölnischem Wasser, besah sich aufmerksam mehrmals in dem in die innere Kastentür eingelassenen Spiegel und verließ nachdenklich, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, das Büro.

Sein Weg führte ihn an dem Hotel vorbei, in dem die Kammersängerin wohnte. Ein Wagen hielt außerhalb der Reihe der dort gewöhnlich aufgestellten Mietfuhrwerke. Ihm fiel der Wagen ein, den der Baron Fleischer damals ihr zu schicken versprochen hatte. Und ihn wandelte die Lust an, sich hierherzustellen, in den Schatten einer Anschlagsäule, und zu warten. Worauf, wußte er selbst nicht. Auf ihr Erscheinen natürlich. Denn sie mußte ja kommen. Es war die Theaterzeit. Sie würde doch nicht zu Hause bleiben, diese Vergnügungssüchtige, diese! Er gefiel sich darin, sie mit häßlichen Namen zu bewerfen ... Wie er so dastand, sich der Passanten wegen ein möglichst unbefangen= sorgloses Aussehen zu geben bemüht, fiel sein müßiger Blick auf die Anschlagsäule vor seiner Nase. Irgend etwas hatte ihn angezogen, eine Gewalt, der er sich unterwarf, ohne ihr nachzusinnen ... ›Lucia Corma‹ stand mit den aufdringlich dicken Lettern, die er so gut kannte, auf einem gelben Plakat gedruckt. Die Ankündigung von neulich. Er buchstabierte den seltsam melodischen Namen. Er las mechanisch weiter. Das Programm. Bei dem Namen Schubert fiel ihm der Gehilfe des Klavierspielers ein ... Hugo Wolf? So? Hatte sie damals Hugo Wolf gesungen? Möglich, möglich, sagte er sich. Er hatte ja gar nicht achtgegeben ... Preise der Plätze ... Und wiederum stieg sein Blick empor zu den unheimlich breiten Lettern ihres Namens: Lucia Corma. Der I-Punkt war so dick wie die Samtballen an einem spanischen Bolerohut. Er versenkte sich in diesen I-Punkt, der seine Umrisse zu verlieren begann, sich ausdehnte wie ein verschwimmender Tintenklecks, sich über das ganze Papier dehnte ... Er wandte sich ab. Da war es ihm, als hätte er etwas vergessen, als sei ihm etwas aufgefallen, das er unbedingt noch prüfen müßte. Er ließ in einiger Erregung den Blick wieder über die Ankündigung wandern. Und auf einmal las er: Heute, den 18. März, halb 8 Uhr abends ... Heute, den 18. März ...! Um Gottes willen, das war ja heute! Und blitzschnell zählte er nach. Es stimmte. Das war das zweite, das letzte, das Abschiedskonzert. Und sie mußte jeden Moment herunterkommen. Eine Straßenstanduhr zeigte ein Viertel nach sieben.

In diesem Augenblick wurden die Flügeltüren des Hotelflurs weit aufgerissen. In einem mit Hermelin beisetzten Mantel erschien, an den Handschuhen nestelnd, die Kammersängerin. Herr Schreiner stand der Atem still. Es war, als käme sie gerade auf ihn zu. Die Füße wurzelten ihm im Boden. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Das Licht der rechten Wagenlaterne fiel voll auf ihr jetzt olivengelbes Gesicht, die wunderbaren Augen hatten einen weichen, tiefen Schimmer. Da traf ihn ihr Blick. Sie stieß einen leisen Schrei aus und wandte sich einen Moment lang wie nach Hilfe um. Der Hoteldiener, der den Wagenschlag hielt, verharrte in seiner wartenden, ausdruckslosen Haltung. Sie betrat den Wagentritt ... Auch mit Herrn Schreiner war eine Veränderung vorgegangen, seit ihn dieser körperhafte Blick berührt hatte. Es trieb ihn vorwärts. Mit ein paar mächtigen Sätzen stand er am Wagen, als die Sängerin sich eben darin niederlassen wollte. Die vor ihm befindliche Tür aufreißen, sich in den Wagen stürzen, die Italienerin ergreifen, war eins. – Sofort kam ihm auch die Besinnung wieder. Er ließ die Arme kraftlos herabgleiten, er drängte zurück wie vor einem übermächtigen Feind. Aber schon hatte jene, indem sie ihn heftig vor die Brust stieß, daß er taumelte und – er war mit einem Bein bereits außerhalb des Wagens – fast hintenüber gestürzt wäre, sich mit einem Sprung aus dem Coupé gerettet, eben als die Pferde sich in Bewegung setzten. Der Ruck erst schleuderte Herrn Schreiner zu Boden. Sogleich auch hielt der Wagen wieder. Beide Türen standen offen. Neugierige drängten heran. Herr Schreiner erhob sich mühsam, putzte, heftig klopfend, an seinem Überrock. Ein kleines Veilchenmädchen hielt den Zylinder. Die Corma aber rief nach einem Wachmann. Der Hoteldiener, ein Liftjunge, ein Kellner waren herbeigeeilt. Mit empörten Gesten begleitete die Sängerin ihre lauten Erklärungen. Herr Schreiner putzte weiter an seinen Kleidern, empfing mechanisch den Hut, griff mechanisch in die Tasche, um der Kleinen etwas Geld zu verabreichen. Ihm war es, als sei sein Herz plötzlich erfroren. Ein Wachmann kam. Herr Schreiner stand auf demselben Fleck. Erst als er sah, daß die Corma mit wütenden Gebärden auf ihn wies, der Polizist nähertrat, machte er eine halbe Wendung. Da lag auch schon die schwere Hand auf seiner Schulter. Er hörte eine Frage an sich richten, er sah, wie die Hotelbediensteten sich um die Italienerin sammelten, sah die Kopf an Kopf wachsende, wogende Menge der Zuschauer, sah dem Wachmann in ein ehrliches, bärtiges Antlitz. Einen Moment tauchten die blassen Bilder seiner beiden blonden Mädchen vor ihm auf, er sah seine Frau neben sich sitzen in jenem Konzert, die feine Profillinie schwebte wie ein Schatten von ihm weg ... Er nahm den Hut ab und fuhr mit dem Ärmel an dessen Umfang entlang. Dann tat er einen Schritt zurück. Plötzlich wankten ihm die Knie. Der Wachmann stützte ihn. »Es ist ein Besoffener«, hörte er eine jugendliche Stimme aus dem Haufen sagen. Sein taumelnder Blick suchte nicht mehr den Sprecher ... Nur der Schlag der Wagentür fiel ihm noch in sein Bewußtsein ...

Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf einer öffentlichen Bank ... Er wollte sich erheben. Da hielt ihn jemand fest. – Er wußte alles. Da war der Wachmann, drüben die Plakatsäule. Noch immer standen, von einigen anderen Polizisten zurückgedrängt, Neugierige scharenweise in der Nähe. Höflich fragte ihn sein Begleiter, ob er sich kräftig genug fühle, ihm zu folgen. Er bat um einen Wagen und schloß wieder die Augen ... Ein Einspänner – »Jetzt ist alles gleich«, sagte er sich – war herangerufen worden. Sie stiegen ein. Das Klirren der Scheiben rief ihm die letzte Nacht ins Gedächtnis. »Sterben! Sterben!« murmelte er ...

Das Verhör war kurz. Man behielt ihn nicht, da ihn ein Beamter agnoszierte. Es war ein Schulkamerad, den er seit der Matura nicht mehr gesehen hatte. Er war in der Mathematik einer der Besten gewesen. Mit einem wehmütigen Lächeln drückte er ihm die Hand. Mit gemessener Achtung, in die sich Zweifel mischte, öffnete ihm der Wachmann die Tür. Er schritt ins Freie ...

Herr Schreiner war entschlossen, sich zu töten. Er trat in eine Waffenhandlung, in der er bekannt war. Er hatte seine Gewehre von dort bezogen. Man war im Begriff, den Laden zu schließen. Er bat, ihm noch einen Revolver zu verabreichen, da er morgen früh verreisen müsse. Auch ließ er sich die Waffe laden und sah gedankenvoll zu. »Sie schreiben das auf die Rechnung«, sagte er und grüßte. Den Revolver aber steckte er in die Hosentasche. Er vernahm noch, wie die Rolläden donnernd herabgelassen wurden ...

Auf seinem Weg kam er an eine hellerleuchtete Einfahrt. Er kannte diese Einfahrt. Hier fand das Konzert statt. Noch immer rollten Wagen vor. Er mußte eine Zeitlang warten, ehe er weiterschreiten konnte. Da stand er, den Zylinder in die Stirn gedrückt, unsäglich müde. Wo war sein Haus, wo war die Welt? ... Die Laternen flackerten im Wind. Neugierige drängten ihn vorwärts. Er stand in der Einfahrt selbst. »Voll, das Konzert?« wandte er sich mit stumpfem Grinsen an den Portier. »Ah natürlich, mein Herr. Ausverkauft.« Herrn Schreiner beschlich eine lächerliche Scham, hier stehen zu müssen, während mit aufgehobenen Röcken Damen, den Kopf noch unwillkürlich gebeugt, wie sie den Wagen verlassen hatten, an ihm vorbeieilten ... Da grüßte ihn jemand. Der Freund aus dem Kaffeehause. »Auch ins Konzert?« Etwas in Herrn Schreiner sagte: »Ja.« Der Freund schob seinen Arm unter den seinen. »Die Geschichte hat schon längst angefangen ... Wo hast du deinen Platz?« Herr Schreiner murmelte, er habe soeben bemerkt, daß er sein Billett vergessen hätte. »Wie ärgerlich!« meinte jener. »Aber wenn du schon da bist, – du bist ja ohne Frau? Geh wenigstens auf eine halbe Stunde hinein. Nimm dir eine Eintrittskarte in den Saal.« Er zog ihn vorwärts und wiederholte: »Wenn du schon da bist ...« In der Garderobe half ihm jemand aus dem Mantel. »Es wäre ja wirklich schad', wenn du nach Hause gehen müßtest. Und du bist gar im Frack. Immer nobel!« Herr Schreiner lächelte ein müdes Lächeln. »Hast du den Abend frei?« Herr Schreiner klagte über Kopfschmerzen. Irgendeine Teufelsfratze neben ihm oder in ihm grinste und kicherte vernehmlich. »Du solider Ehemann, nur keine Ausrede!« wehrte der Freund ab. »Wir drah'n heute einmal zusammen.« ... Das Ohr an die Tür gelegt, standen die Saalhüter. Ein sonderbares Geräusch wie von vielen starken Flügeln über einem Weiher ließ sich vernehmen. »Die klatschen sich schon jetzt die Hände wund«, sagte der Joviale. Und nun wurden sie eingelassen. Herr Schreiner schritt hinter dem andern Herrn, als gehörte er zu ihm. Als dieser an seine Bankreihe gelangt war und sich mit einem unehrlichen, verbindlichen »Ich würde dir sehr gerne meinen Sitz abtreten – – –« an ihn wandte, fiel ihm erst ein, daß er überhaupt kein Billett gelöst hatte. Der Saaldiener sah ihn fragend an. »Ich habe meine Karte vergessen«, sagte Herr Schreiner. »Besorgen Sie mir einen Stehplatz.« Und er drückte dem Diener ein größeres Geldstück in die Hand. Dieser hatte den Herrn im Frack längst eingeschätzt und lächelte verständnisinnig. Herr Schreiner stand im Gedränge, das, nachdem ihn der Bedienstete verlassen hatte, sich enger um ihn zusammenschloß. Er sah eine große Anzahl von mehr oder minder gepflegten Hinterköpfen. Auch stieg ihm der Geruch dieser vielen, nicht allzu reinlichen Menschen peinigend in die Nase ...

Eine Bewegung ging durch die Versammlung. Man klatschte stürmisch. Lucia Corma stand auf dem Podium und verneigte sich, lächelnd, immer wieder. Sie trug eine fliederblaue Toilette mit reicher Goldstickerei. Herr Schreiner verbarg sich instinktiv hinter dem Rücken eines lang aufgeschossenen, studentisch aussehenden jungen Menschen mit wüster Mähne. Die Kammersängerin wendete sich mit einem leisen Zeichen an den Begleiter. Sie hatte die Hände vor dem übermäßig eingeschnürten Leib ineinandergelegt und neigte sich, als sie zu singen begann, indem sie den Mund rundete und die Augen bis hoch unter die Lider steigen ließ, mit den vorquellenden Brüsten gegen das Publikum. Sie bewegte den Oberkörper wiegend hin und her und preßte dabei ihre Arme dicht an den Rumpf. Herr Schreiner sah sich selbst auf dem Podium, er sah seine Frau im jettbesetzten schwarzen Seidenkleid, er maß die Entfernung des Standplatzes der Sängerin von dem Sitze, den er damals eingenommen hatte. Dabei hatte er sich etwas vor= und seitwärts gedrängt. Ein dicker Herr trat atemholend einen Schritt zurück. Herr Schreiner stand in einer Lücke ... In diesem Augenblick war es ihm, als hätte ihn Lucia Corma bemerkt. Er zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe. Der Angstschweiß trat ihm in großen Tropfen auf die Stirn. Nein. Noch nicht. Aber jetzt ... Und eine Art Fieber schüttelte ihn so, daß sein Nachbar ihn befremdet ansah. Er versuchte zu lächeln ...

Plötzlich brach die Sängerin jäh im Gesang ab. Ihre Augen schienen etwas Entsetzliches wahrzunehmen. Herr Schreiner, der sich gewissermaßen an seinem Revolver in der Tasche hielt, sagte wie ein Irrer folgenden Satz halblaut vor sich hin: »Jetzt ist alles aus. Sie wird schreien. Sie wird auf mich zeigen. Sie wird auf mich zeigen ...!«

Des Publikums bemächtigte sich eine große Unruhe. Die Kammersängerin lehnte an dem schwarzen Flügel. Der Klavierspieler stand mit verlegener Miene neben ihr. Die Personen, die auf dem Podium ihre Plätze hatten, rückten mit den Stühlen. Ein Herr mit einer Glatze und Pockennarben erhob sich und bot der Italienerin seinen Sitz an. Sie dankte mit einem ihrer automatischen, schmeichelnden halben Blicke ... Herr Schreiner trat jemand auf den Fuß und kehrte sich beflissen um. Der Jemand sah ihn grimmig an und grinste dann. Die Bewegung Herrn Schreiners schien sich Lucia Corma mitzuteilen. Sie wandte sich mit einer rührenden Gebärde an den pockennarbigen Herrn und führte ihr Taschentuch mehrere Male an den Mund, und ... – in Herrn Schreiner stand alles Leben still – der pockennarbige Herr lenkte suchend seine kurzsichtigen Augen nach seiner Richtung. Nun hob die Corma leicht den etwa zu einem Viertel entblößten vollen Arm. Der Herr streckte seinen Kopf vor, wie eine Schildkröte den ihren aus dem Gehäuse steckt. Ein zweiter Herr, untersetzt und mit einem rötlichen Vollbart, hatte sich halb fragend von seinem Platz erhoben. »Jetzt, jetzt«, murmelte Herr Schreiner zwischen den Zähnen. Der Herr mit dem rötlichen Vollbart war noch nicht ganz eingeweiht, worum es sich handle. Da trat Lucia Corma einen Schritt der Rampe näher. Eine Ewigkeit schwang sich mit dem Surren einer Mücke über Herrn Schreiner hin. Seine Augen hielten die Sängerin mit dem Ausdruck eines Ertrinkenden ... Und im Moment, als alle drei Köpfe sich wie auf Stielen nach ihm hin drehten und ganz genau sich auf ihn einstellten, hatte er, wie zur Abwehr, den Revolver herausgerissen, hochgehoben und losgedrückt ... Mit einem gellenden Schrei brach die Italienerin zusammen. Jetzt erst hörte Herr Schreiner den Schuß und zugleich das Poltern vieler hundert Stühle. Rechts und links fühlte er sich ergriffen. Mit einer übermenschlichen Kraft faßte er nach der linken Brusttasche, in der sein Portefeuille steckte, das die Bilder seiner Frau und seiner Kinder enthielt. Die Finger auf diese Stelle, die sich hart anfühlte, gepreßt, schweigend, ließ er sich von vielen Fäusten vorwärtsstoßen, dem Ausgang zu ...


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