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Von seinem Großvater hatte Moritz Duftig nie etwas vernommen. Der Vater war eines Tages als gedunsene Leiche von den leise gurgelnden Wellen des kleinen stinkenden Fabrikwassers ans Ufer gespült worden, wo die Wäscherinnen wuschen. Er selbst war der Gatte der Gräfin Elisa Hußfeldt. Und seine Frau war jung und schön.
Es gibt Menschen, die unter den anderen durch ein nicht recht deutsames Etwas auffallen. Es ist nicht ihre Leibesschönheit, überhaupt nichts Äußerliches, auch nicht das durchleuchtende Geistige, gar das Geniale: es ist ein Unnennbares, das sie – freilich auch nur wieder dem oder jenem, der mehr ist, tiefer, eigentümlicher als andre, erscheinen läßt, seltsam anziehend oder abstoßend, jedenfalls absonderlich. So einer war Moritz Duftig, der Ahnenlose, seit je gewesen. Seine vermögenden Eltern hätten ihm sicher gestattet, zur Schule zu fahren wie die Bärs, die später auf eine so schreckliehe Weise zugrunde gegangen sind; es wäre ihm zugebilligt gewesen, in weiten flatternden Beinkleidern nach der neuesten Mode aufzutreten wie Otto von Gnesl, dessen Vater zwar geadelt worden, dessen Mutter nichtsdestoweniger jedoch gehalten war, sich selbst um die Küche umzusehen. Aber Moritz Duftig war stets im Anzug und in seinem Auftreten überhaupt ganz unscheinbar gewesen. Und dies gab ihm vielleicht gerade das Aparte. Oder war es auch das nicht ... Seine Physiognomie wies ein ausgesprochen orientalisches Gepräge auf. Er hatte tiefschwarze Haare und ein blasses Gesicht, das in den Übergangsjahren durch Finnen entstellt war. Aber seine Gestalt war fein und elastisch. Er lernte nicht viel mehr, als man lernen mußte, um durchzuschlüpfen. Auf der Universität verfiel er bald dem wüsten Treiben der Alleingebliebenen. Niemals hatte er einen Freund besessen. Er schloß sich jeweils an Leute an, die man Kumpane nennt. In solcher Gesellschaft trank er und besuchte die öffentlichen Häuser. Später, als er durch den Tod seiner Mutter zu dem großen Vermögen gelangt war, das der Familie eine gewisse Stellung geschaffen hatte, brach er das Studium ab und verlegte sich aufs Ballett. Er kaufte ein grünes Automobil und ließ sich von einigen Kammerdienern, die sich, freilich nur für Wochen und Monate, um seine Herrschaft bewarben, ausrauben. Eines Tages verschwand er aus der Hauptstadt. Er fuhr auf dem Mittelmeer in einer Jacht und hatte zwanzig verschiedenfarbige Mädchen an Bord. Zurückgekehrt, ein Fremdling in seiner Vaterstadt, begab er sich von neuem unter Beihilfe eines braven Advokaturskonzipienten ans Studium und trat endlich in den Staatsdienst. Man sandte ihn, den Mißliebigen, zunächst in die äußersten ›Länder‹. Sein Vorgesetzter war ein biederer bäurischer Mann, der mit seiner Frau und drei Kindern vom Gehalt lebte. Moritz Duftig erwarb sich seine ganze Liebe durch die stille taktvolle Art, mit der er seine Lage respektierte, sich niemals etwas gegen den finanziell Ohnmächtigen herausnahm. Er ward endlich zur Regierung in die Hauptstadt einberufen. Nun ging er, von Schmarotzern umringt, in die Welt, hielt sich Wagen und Pferde, gab vortreffliche kleine Dinners und erlangte allgemach intime Beziehungen zum Fräuleinstift und sonstigen hochgeborenen Damen. Im Theater hatte er eine Loge abonniert, in die er seine sämtlichen Kollegen und Bekannten ohne Unterschied des Ranges und der sozialen Stellung sowie der Erziehung einlud. Es kamen natürlich nur die, die sich für etwas Besseres hielten. Endlich heiratete Moritz Duftig die Gräfin Elisa Hußfeldt. Und die Geschichte dieser ungewöhnlichen Ehe soll hier erzählt werden.
Komtesse Elisa Hußfeldt war eine junge Dame, die alles an sich liebte: ihre langen feinen Waden, besonders wenn sie in die durchscheinenden schwarzen Strümpfe gehüllt waren, ihre kleinen straffen Brüste, ihren knabenhaft schlanken Leib, ihre tief scheinenden Augen. Man erzählte von ihr, daß sie einmal eine ganze Nacht vom Hause fortgewesen wäre, daß ihre Eltern in aller Stille, aber doch nicht ohne einiges unliebsames Aufsahen nach ihr hätten forschen lassen – leider ergebnislos. Man erzählte von ihr, daß sie tagelang – ›tagelang‹ war natürlich eine Übertreibung – auf dem Sofa liege und 1000 Zigaretten rauche. Was erzählte man nicht alles von ihr! Die kleinen und die größeren Mädchen der Provinzstadt vergötterten und haßten sie zugleich. Sie gab sich mit keiner ab. Ihr Vater, General im Ruhestande, lebte seinem Landtags- und Jagdsport, ihre Mutter, eine Fürstin Lovatori, ihren wechselnden Günstlingen, die, je älter sie wurde, immer unreifer und kindischer gerieten. Elisa Hußfeldt tanzte späterhin bei den fashionablen kleinen Tanzunterhaltungen der Provinzgesellschaft. Sie war immer unbestritten die Schönste, aber auch die Kühlste. Diese mehr oder weniger albernen jungen Leute hatten ihr nichts zu bieten. Bis Moritz Duftig kam ...
Moritz Duftig ging durch den Saal, ließ seine langen Arme schlaff pendeln und die Unterlippe hängen. Er lächelte mit flüchtigem Lächeln einigen verblühten Stiftsdamen zu, vollführte die notwendigsten Verbeugungen, und nachdem er einige Anstandsronden getanzt hatte, begab er sich ins Klubzimmer und hasardierte bis zum Morgen. Elisa Hußfeldt verachtete ihn, da er sie nicht zu sehen geruhte, beim Spiel blieb, ohne sich auch nur in der Tür als Zuschauer zu zeigen. Es sprach sich herum, daß er viel verliere und hinwiederum viel gewinne. Sein Diener wartete mit den andern Bedienten. Dieser Diener war ein Spanier, mit dem niemand sprechen konnte. Das wußte Elisa Hußfeldt.
In einem wilden Sir Roger riß Elisa das Strumpfband und glitt über das Bein hinab. Sie trat aus den Reihen und wollte sich im anstoßenden Vorraum von der für den Abend gemieteten Garderobiere den Schaden richten lassen. Als sie das gewölbte Gemach durchschritt, in dem ein verwaistes Büfett thronte, kam Moritz Duftig aus dem Spielzimmer. Er hatte eine große, dicke, dunkle Zigarre im Mund, und das gescheitelte tiefschwarze Haar hing ihm etwas verwirrt über die Schläfen. Aus dem raucherfüllten Gemach drang Stimmengewirr. Er ging vornübergebeugt, ruhig wie gewöhnlich.
Als er Elisa Hußfeldt erblickte – sie war stehengeblieben und sah ihn an –, wanderte sein Blick an ihrer Gestalt entlang. Plötzlich sagte er: »Gräfin, Sie verlieren Ihr Strumpfband.« Ihr schoß eine unwillige Röte ins Gesicht. Aber sie fand keine Antwort. Da bückte sich Moritz Duftig und reichte ihr das nachschleifende Band, wobei sich ihr Rock um ein weniges hob. Sie sahen einander ins Auge ..., und mit einemmal hatte sie ganz leicht an seiner Brust gelegen und war von ihm geküßt worden. Das war alles.
Am nächsten Tag erhielt er einen kleinen Brief. Darin stand: »Sie werden um mich anhalten.« Er tat es. Man schätzte sein Einkommen auf mehr denn eine Viertelmillion. So feierte man die Verlobung. Getauft war er längst. In der kleinen Stadt kannte jedermann seine Stellung. Es war weiter kein Kommentar nötig. Natürlich gab's einige Tage und Wochen Klatsch in allen Teegesellschaften. Der alte General adoptierte ihn zu guter Letzt.
Elisa Hußfeldt-Duftig aber, née comtesse d'Hußfeldt, gebar im ersten Jahre Zwillinge. Das Mädchen war schwarz und blaß, der Knabe blond und rosig. Der Knabe starb nach wenigen Stunden. Das Mädchen blieb am Leben. Und sie wurde später die große Sängerin, die den Prinzen Louis Georg so lange hinhielt, bis er sie heiratete. Doch das liegt nach der Zeit dieser Geschichte.
Elisa Hußfeldt-Duftig saß vor dem Spiegel. Ihre Jungfer, die ihr das Haar strählte, brach plötzlich in Tränen aus. »Warum weinst du, was hast du denn?« fragte die Gräfin. »Ach Gott, gnädigste Gräfin«, schluchzte das Mädchen, »Sie werden mir's nie verzeihen. Ich bin in der Hoffnung.« Und sie fiel vor der Herrin auf die Knie nieder. Elisa wußte genug. Sie vermied weitere Fragen. Am Abend aber, als sie aus dem Theater heimkehrten, im Wagen, das Gesicht geradeaus gerichtet, sagte sie zu Moritz: »Ich bitte mir mehr Achtung aus.« Er schwieg. Zu Hause bemerkte sie: »Ich habe die Person sofort entlassen.« Er sah sie groß an, hielt mit dem Mundspülen inne ... »Du hast recht«, sagte er gelassen. »Es ist geschmacklos.« Und dann nahm er sie in seine langen feinen Arme und küßte sie langsam, zärtlich auf die Augenlider. Denn, daß solche Dinge eigentlich nichts zu bedeuten hätten, war eine nicht erst zu erörternde Tatsache. Warum hätte er plötzlich sich an einer Frau genügen lassen sollen, er, der mit 20 verschiedenfarbigen Mädchen auf dem Mittelmeer in einer Jacht gekreuzt, der seine Ausbildung zum Erotiker beim Ballett erhalten hatte? Freilich, zu Dienstmädchen soll man keine Beziehungen unterhalten, am wenigsten zu den Kammerjungfern der eigenen Gattin. Das war geschmacklos, wirklich. Aber damit war die Sache auch abgetan. Man gab dem Frauenzimmer 500 Kronen Abfindung. Und nun kein Wort mehr von dieser Dummheit ...
Eines Tages führte der Gatte Elisa einen jungen Mann zu, der nach zurückgelegten Rechtsstudien in den Verwaltungsdienst eingetreten war und nun der Reihe nach in der ›Gesellschaft‹ seine Besuche machte. Es war Herr Ralf Friedrich Pecher, ein Sohn aus guter Familie. Sein Auftreten war tadellos, wenn auch etwas jugendlich befangen. Seine Erscheinung durfte man merkwürdig nennen. Er war groß und nicht harmonisch gebaut. Sein Oberkörper war viel zu kurz, die Schultern waren viel zu schmal, die Beine viel zu dünn. Sein Gang war nicht geradeaus gerichtet, sondern im Zickzack schwankend, der Gang eines, der sich beim Gehen immer beobachtet. Sein Kopf war lang und das Hinterhaupt übermäßig gewölbt. Die kurze, aber sehr breite und feste Stirn durchschnitten zahlreiche, bei lebhaftem Mienenspiel sich vertiefende und wiederum sich glättende Falten. Seine Nase war ganz ungewöhnlich: sie war lang, schien schmal und war doch breit, hatte mächtige Flügel, Nüstern geradezu, die sich, nicht leise zitternd, sondern klemmend bewegten. Die Augen Herrn Friedrich Pechers schienen grau, waren aber manchmal ganz hell, ja himmelblau und leuchteten dann in dem dunkeln, gesund geröteten Gesicht mit den vollen Wangen fast geheimnisvoll. Das Haupthaar trug Herr Pecher der Mode folgend dicht und lang, glatt gescheitelt und mit Öl getränkt. Es schien pechschwarz, war aber eigentlich dunkelblond, glänzte oft metallisch und mußte trotz der artigen Glätte als widerspenstig gelten. Die Hände konnte man für sehr schön halten, sie machten den Eindruck schlanker Länge und feiner Beweglichkeit. In der Nähe erwiesen sie sich als ziemlich fleischig und breit. An jedem der beiden kleinen Finger trug Herr Pecher einen wohlgehaltenen Brillantring, sonst jedoch keinerlei Schmuck. Seine Stimme besaß einen angenehmen Schmelz, war immer halblaut angeschlagen und ließ große Stärke vermuten. Man konnte auf einen Sänger von mächtigem Umfang der Mittel schließen. Herr Pecher war mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, verneigte sich graziös und entfernte sich schwankend, wie einer, der sich immer beobachtet weiß oder glaubt. Elisa, die dem Eindruck des Besuchers nachsann, fand, daß Herr Pecher nicht nur ein sympathischer, sondern auch ein hübscher und interessanter Mensch sei.
Man lud den neuen Ankömmling bereits zum ersten Souper der Saison. Er kam, war artig, immer etwas angenehm befangen und unterhielt sich fast ausschließlich mit Elisa. Kartenspiele erklärte er nicht zu verstehen, dagegen bekannte er sich als eifrigen Anhänger des Tennissports und leidenschaftlichen Fechter. Er ward zunächst aufgefordert, sich an einer erst im Entstehen begriffenen Herbst-Tennispartie zu beteiligen. Elisa spielte mit einer ältlichen Stiftsdame, Baronin Claire Bitterold, und zwei Ehepaaren: Herrn und Frau von Müller-Hofhans – Herr Hofhans war von seinem Onkel, dem pensionierten Feldmarschalleutnant Edlen von Müller, adoptiert worden, er hatte später auch die Adelsübertragung erlangt – und den jungverheirateten Derivena. Rudolf Baron Derivena war gleich Herrn Pecher Konzipist der Landesregierung, seine Frau die einzige Tochter eines auf einige Millionen geschätzten Emailgeschirr-Fabrikanten. Mit Moritz war man zu acht. Es wurden demnach zwei Plätze besetzt. Die Gesellschaft versammelte sich in den Abendstunden. Man kam zu Rad, zu Fuß und zu Wagen. Rudolf Derivena und Elisa Hußfeldt kutschierten ihre Gespanne selbst. Es ergab sich, daß Herr Pecher von Elisa mitgenommen ward. Die ersten Male holte er sie ab, das heißt, er erschien bei ihr zu einer festgesetzten Stunde, später holte ihn Elisa ab, das heißt, sie erschien, da seine Wohnung auf dem Wege lag, zu einer bestimmten Stunde vor dem Hause. Im Verlauf des Herbstes ward die alte Ordnung wiederhergestellt: Herr Pecher erschien bei Elisa, aber nicht mehr zu bestimmter Stunde, sondern – viel früher. Und als der Winter kam – man hatte bis tief in den Herbst hinein Tennis gespielt –, fuhren sie ohne Ziel miteinander spazieren, Herr Pecher neben Elisa im kurzen Pelz, den steifen schwarzen Filzhut auf dem dichten glattgescheitelten Haar, Elisa in einer weiten Homespunjacke und warmen großen Stulphandschuhen. Über beider Knie lag die Wagendecke. Und steif wie hartgewordener Teig, mit verschränkten Armen, saß hinter ihnen Jean, der Groom, der eigentlich Johann Vopalek hieß, was aber nichts zur Sache tut.
Wie war das alles gekommen? ... Der traurige Ruf eines Automobils tönte in kurzen Stößen durch die Nacht. Die Uhr tickte. Das harte Klappern von schnellen Hufschlägen auf dem Asphalt schwoll an und entfernte sich. Wie war das alles gekommen? Neben Ralf Friedrich auf dem Sofa saß eine Frau, die bis vor wenigen Minuten noch das Ziel seiner Wünsche gewesen und jetzt, in der Totenstille des hoch gelegenen Zimmers, ihm fremd, völlig fremd geworden war. Mit grauenhafter Deutlichkeit sah er alles Tatsächliche an dem unbegreiflichen Ereignis. Sie selbst wagte er nicht anzuschauen. Er wußte, daß sie dasaß und seinem Blick entgegenbangte mit mühsam unterdrückten Atemzügen. Und er versuchte, sie sich vorzustellen, wie sie früher ihm gegenübergestanden hatte im alltäglichen Leben, wie sie ihm einst erschienen war. Er schloß die Augen und rief ihre Gestalt vor sein inneres Auge zurück, ihren harten großen Mund, ihre harten blauen Augen, ihre etwas eckigen Bewegungen. Wo war aller Zauber geblieben? Denn so, so war sie doch gewesen, damals, vorher ... Da hatte er sie ganz anders gesehen: schlank und biegsam, süßspröde und als eine Frau von einer kindlich rührenden Arglosigkeit. Und jung war sie gewesen, jung, unerhört jung, schimmernd von Jugend, taufrisch, klar wie ein Morgen in einem kleinen Garten, ehe noch jemand die am Abend fein gerechten Kiespfade betreten hat ... Jetzt aber saß sie da neben ihm und atmete schwer und bangte vor dem Blick des befriedigten Mannes. Befriedigt! Zerstört war er, zerstört, zerbrochen, angewidert, voll Haß, voll Verachtung, voll namenlosen Kummers. Und das sollte die Erfüllung sein, die Erfüllung, nach der er gelechzt hatte seit Monaten? Jetzt, da sie ihm alles, sich ganz ihm zu eigen gegeben hatte, jetzt war sie ihm genommen worden, von ihm abgelöst wie ein Gewand, das mit steifen Falten abseits liegt, ganz unmittelbar noch, aber erstarrt in dieser Unmittelbarkeit, tot ...
Und er stand auf und trat zum Fenster, blickte in die schwarzen Fenster der Häuser gegenüber. Es war ihm, als ob er in die schwarzen Fenster seiner Seele blickte. Nichts trat an diese Fenster hervor aus der Unbeweglichkeit ...
Hinter ihm atmete es schwer ... Auch die junge Frau, die dort saß, dachte nach. Auch sie verglich. Sie fühlte eine schnürende Müdigkeit im Halse, eine Leere im Kopf und eine steigende Angst im Herzen. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen, das Haupt hinabgesenkt und sah mit weit aufgerissenen Augen – sie fühlte, wie unnatürlich weit diese Augen aufgerissen waren – auf die glänzenden Spitzen ihrer Lackhalbschuhe. Endlich seufzte sie auf und sagte – dieser Laut zerriß plötzlich, ihr selbst zum Schrecken, die unheimliche Stille –: »Ralf!« Er wandte sich nicht um. Was soll jetzt noch kommen? Was soll jetzt noch kommen? Er hatte keine Beziehung zu ihr, überhaupt keine. Er haßte sie nicht, er verabscheute sie nicht, er empfand ihre Nähe nur als etwas ganz Unwahrscheinliches, irgendwie zu Erklärendes. Aber das war etwas, was niemals erklärt werden würde, das blieb so hängen, von einem Grat hinab ins Bodenlose hängen, steif, reglos ...
Plötzlich begann das ganze Zimmer hinter ihm zu sinken: es versank. Langsam, lautlos, er hielt sich mit seinen Augen nur an dem weißen Fensterkreuz dicht vor ihm, das zu zittern, zitternd sich auszudehnen begann, wesenhaft, weiß ins Grenzenlose.
Da schlug die Uhr ... »Ralf, ich muß gehn ...« Ein Kreisel blieb plötzlich stehn. Ihn schwindelte. Er schloß die Augen ... Als er sie öffnete, hatte er auch schon die Kraft wieder, sich umzusehen. Da saß sie. Eine Haarflechte hing ihr in die schmale Stirn. Unter den Augen brannte eine heftige Röte, aus dem fraisefarbenen Kleide ragten die hohen Knie. Die Brust war eingesunken und arbeitete mühsam. »Du willst gehn?« Er hörte sich das sagen. Und es beliebte ihn, sich langsam eine Zigarette anzuzünden ... Die Pause schien endlos. Da, mit einem Ruck erhob sie sich. Er sah es. Sie hatte sich mit beiden Armen von dem tiefen Sofa emporgeschnellt. Nun stand sie vor ihm, kaum einen Schritt von ihm entfernt. Und nun ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken und schluchzte. Er hielt ganz still. Das Schluchzen erschütterte ihren Körper. Es war ihm, als ob es in ihn hineindröhnte. Er sah ihr feingewelltes, leichtes, blondes Haar, sah die mit dem Kamm schnurgerade gezogene Abteilung der Haare, sah die dicken Perlgehänge in ihren eng am schmalen Kopf liegenden Ohren, sein Blick glitt an den hochgezogenen bebenden Schultern entlang hinab zur dürftigen kindlichen Brust unter dem Spitzeneinsatz. Ganz sanft nahm er ihren Kopf und küßte sie auf die Stirn. Nun rührte sie ihn. »Ralf, du hast mich jetzt nicht mehr lieb!« Sie weinte. Große Tränen rannen an den Flügeln ihrer Nase hinab. Sie holte ein Taschentuch hervor und schneuzte sich. Er wehrte mit einem leichten Lächeln ab. Er streichelte ihre Arme von den Schultern abwärts. Da faßte sie seine beiden Hände. »Ralf, sag mir's lieber, sag mir's, daß du mich nicht mehr leiden kannst!« – »Aber, Lisa.« –
Unangenehm an der Sache war bei ruhiger Überlegung – und merkwürdigerweise jetzt erst – der Umstand, daß der Mann Elisas gewissermaßen als betrogen erschien. Jedermann kannte das Verhältnis, kannte es natürlich längst, ehe es ein richtiges ›Verhältnis‹ geworden war, nur der Gatte, der Hauptbeteiligte, wußte nichts davon. Es schien wenigstens so. Aber Moritz Hußfeldt-Duftig wußte genau dasselbe wie alle anderen Leute des kleinen und des großen Bekanntenkreises. Als er zur Überzeugung gelangt war, daß etwas hinter seinem Rücken vorging, das ihm nicht recht sein könnte, hatte ihn die Erkenntnis seiner Stellung bitter getroffen. Nicht ohne geheimes Grauen verfolgte er unbemerkt die Bewegungen und Blicke seiner Frau, die Blicke und Bewegungen ihres Tischnachbarn, seines Freundes Pecher. Denn Ralf Friedrich Pecher war sein Freund geworden. Man hatte zusammen gefochten, getanzt, gespielt, gejagt, war zusammen geritten, hatte allerlei vertrauliche Mitteilungen ausgetauscht.
Ein Verrat, ein niederträchtiger Verrat! Aber indem er dieses Urteil, diese schöngefügte sonore Phrase aussprach, lautlos bei sich aussprach, mußte er bitter lächeln. Große Worte, große Worte! Was hatte Friedrich Pecher ›verraten‹? Welche ›Bande‹ hatte er verletzt? Sicherlich die ›geheiligten Bande der Ehe‹. Aber war er, Moritz Duftig, der legitimierte Anwalt dieser Institution? Es war im Grunde doch nichts als eine Übervorteilung, eine Übervorteilung, wie sie sich jeder gestattet, der klug und geschickt genug dazu ist. Das ›brachte der Verkehr mit sich‹. Freilich es am eigenen Leib zu empfinden, war fast grauenhaft. Aber was sollte er tun? Einen Skandal provozieren? Seine Frau hinausjagen, Pecher töten oder ohrfeigen. Oder – anzeigen? Es war doch gar nichts ›erwiesen‹. Und sollte er etwa lauern, bis er die beiden ertappt hätte. Herumgehen in seinem Hause wie ein Spion, die Dienerschaft durch Bestechungen für seine Zwecke gewinnen usw.? Pfui Teufel! – Ganz abgesehen von der Unbequemlichkeit. Im Grunde aber blieb er ja doch der Blamierte, ob nun die Sache einen tragischen oder einen kläglichen Ausgang nahm. Es war immerhin noch das Gescheiteste, sich als unwissenden Ehemann zu gebärden, die Rolle anzunehmen, die seiner Stellung am besten entsprach.
Und Moritz Hußfeldt-Duftig nahm die Rolle des unwissenden Ehemanns an zu einer Zeit, da noch alles zu verhüten gewesen wäre. Denn Elisa war eine Frau, die sich nicht überrumpeln ließ. Elisa war besonnen, überlegend, ihrer selbst sicher, kaltblütig. Friedrich Pecher hatte ihr vom ersten Augenblick an gefallen. Er war vielleicht in einer günstigen Stunde vor ihr erschienen. Sie hatte ihrem Mann nur mit Bitterkeit einige Fehltritte nachsehen können; sie zu vergessen, war sie nicht imstande, wenn die Ereignisse auch allmählich in dem Nebel untertauchten, der das Vergangene rücksichtslos einhüllt (wenn er manchmal zerreißt, steht das Vergangene um so schroffer da in seiner unangreifbaren Vollendetheit). Elisa war schön und eitel. Sie wußte um beides. Sie liebte ihren Mann nicht, hatte ihn niemals geliebt. Sie hatte ihn manchmal bewundert, sie war dankbar gewesen für das Sieghafte seiner Männlichkeit, er hatte ihr zuweilen ganz ausnehmend gut gefallen, seine ganze Art und Weise war ihr sympathisch, die Manier, mit der er sich eine Zigarre anzündete, die Haltung, in der er eine Nadel vom Teppich aufhob. Und anderseits war Herr Ralf Friedrich Pecher durchaus nicht gefährlich. Sein kleiner blonder Schnurrbart unter der in ihren Flügeln beweglichen langen Nase, die grauen Augen, die manchmal himmelblau-hell aufleuchteten, seine weichen Hände, alles das war nicht verführerisch, wenn auch angenehm. Sein Witz war anmutig, noch anmutiger seine leichte Verlegenheit, sein Gang war ungeschickt und unfrei, seine Kleidung immer ein wenig, ein ganz klein wenig auffallend: sein Überrock etwas zu kurz, die Krempe seines Hutes etwas au flach, sein Hemdkragen etwas zu hoch. Es hätte an Moritz gelegen, Elisa das alles einmal spöttisch zu zeigen: Herr Ralf Friedrich Pecher wäre ein hübscher lieber Bursch geblieben, aber als Liebhaber, als Geliebter ein für allemal abgetan gewesen. Da sich jedoch ihr Mann allzufrüh in die Rolle des getäuschten Ehemanns gefunden hatte – was war denn bis dahin geschehen? Ein paar leichte Berührungen, die man ausgehalten, gern ertragen, wohl auch vielleicht ab und zu ganz leise erwidert hatte –, war Ralf Friedrich mehr als ein artiger Bursch geworden, mehr als ein angenehmer Tennispartner, mehr als der unterhaltende Begleiter ihrer Ausfahrten: der glückliche Hausfreund. Denn das war nicht mehr ungeschehen zu machen, was geschehen war, als sich Moritz in die Rolle des unwissenden Ehemanns gefunden hatte, das nicht mehr. Es war noch nicht das Letzte, aber da gab es kein Zurück mehr.
Und nun hatte sie ihr Erlebnis, und es war trübselig. Und das Ärgste daran war, daß sie Friedrich gegenüber so klein war, daß sie ihn liebhatte, wirklich lieb, lieber als irgendwen auf der Welt, und – daß er sie vielleicht nicht mehr liebhatte ...
Ralf Friedrich Pecher vermied seit jenem Tage, da Elisa ihm ihren ersten Besuch abgestattet hatte, das Haus seines Freundes Moritz Hußfeldt-Duftig. Es war gemein, das sagte er sich selbst, es war auch dumm, denn es mußte auffallen. Aber es war bequem, wenigstens schien es ihm so, deshalb unterdrückte er alle Bedenken und blieb aus. – Elisa hatte sich zuerst geschämt, war dann willens gewesen, sich demütig als liebende Geliebte zu geben, fand Ralfs Ausbleiben kränkend, endlich beleidigend und sprach sich zuletzt Moritz gegenüber mit Schärfe über die Ungezogenheit Herrn Pechers aus.
Moritz saß still, die feinen langen Arme zwischen den hochgestellten Knien, die schmalen Finger verschränkt. Plötzlich hob er seinen Blick. Da ahnte sie, daß er alles wußte. Sie errötete und sprach verwirrt weiter. Moritz sagte nichts. Er stand auf, schritt langsam zum Fenster und sah hinaus. Er sah einige Fabrikschlote und dahinter den mit grünen Anlagen bedeckten Kirchenberg. Oben im Blauen hingen weiße Wolken. Ihm schien die Angelegenheit furchtbar unnatürlich. Er empfand, daß sein Schweigen nicht am Platze sei. Er empfand, daß es sich über Gebühr ausdehnte. Aber mit einem mitleidigen Trotz schwieg er weiter ...
Elisa hatte sich entfernt. Moritz ging zu Ralf Friedrich. Er fand ihn zu Hause und einigermaßen verlegen. Es machte ihm einen melancholischen Spaß, zu fragen: »Warum kommst du nicht zu uns? Meine Frau hat sich darüber beklagt.« Ralf Friedrich sah ihn an. Sollte der Mann wirklich so unerlaubt dumm sein? Oder war das etwa eine Finte? Aber derlei Finten haben doch keinen Sinn ... Plötzlich warf sich Moritz mit dem ganzen Oberkörper über die Kopflehne des Sofas, und beide Hände vor dem Gesicht, schluchzte er laut. Ralf Friedrich stand verdutzt vor ihm. Was war da zu tun? Das war höchst unerwünscht, im letzten Grund albern, unsäglich albern. Sollte er vielleicht – trösten ... »Verzeih«, sagte Moritz, »ich habe manchmal solche nervösen Anfälle.« Und er versuchte zu lächeln. »Willst du einen Kognak?« fragte Ralf Friedrich. Moritz trank Kognak, dann ging er. Ralf Friedrich blieb zurück. Er sah ihm vom Fenster nach, wie er vornübergebeugt, aber elastisch die Straße überquerte.
Am nächsten Tag war Teeabend beim Statthalter, intimer Teeabend: die crême de la crême. Die schöne Gräfin Hußfeldt – man nannte sie selbstverständlich immer noch Gräfin – stand umringt von einigen älteren Herren. Die jüngeren, die von ihren Beziehungen zu Ralf Friedrich wußten, verhielten sich seitdem reserviert. Einer traute dem andern nicht. Eine Frau, die einmal etwas mit einem gehabt hat, kann jederzeit wieder ... Herr von Ambros, genannt der Ambrosier, hatte sich eine besonders seigneurale Attitüde zugelegt. Er steifte den rechten Ellenbogen auf eine hohe Etagère und hielt das Monokel am haardünnen Band mit zwei Fingern der Linken so weit, als die Schnur reichte, von sich gestreckt. Am liebsten hätte er noch ein Bein auf ein Fauteuil gestellt. Aber das ging nicht an, zumal da er eben einigen Damen Platz machen mußte, die die im Halbkreis an der Längswand entlang sitzenden älteren zu begrüßen kamen. – Moritz Hußfeldt-Duftig lehnte am Türfutter zwischen den dem Tanz gewidmeten beiden Gemächern. Er sah zu, wie Ralf Friedrich mit der kleinen Irma Seveningen walzte. Ralf Friedrich war glänzend. Beim Tanzen streifte sein Auge die Zuschauer. Die kleine Irma Seveningen hing voll Zärtlichkeit in seinem elegant versteiften Arm.
In Moritz tauchte plötzlich der Gedanke auf: ›Wie, wenn ich jetzt auf diesen Kerl zuträte und ihm eine Ohrfeige gäbe?‹ Der Gedanke war sozusagen aus dem Nichts entstanden oder herangeflogen, hatte getroffen, saß und zitterte. Nun wühlte er sich mit Widerhaken ein.
Moritz Hußfeldt-Duftig verwandte kein Auge mehr von Ralf Friedrich. Hinter ihm ein Stimmengewirr, vor ihm, in dem kleineren Zimmer – um einer Nische willen, die seit jeher diesem Zweck gedient hatte – das Orchester. Die Paare drehten sich manchmal an ihm vorbei. Ab und zu erhielt er einen leichten oder auch einen stärkeren Stoß.
Jetzt wollte Ralf Friedrich in einem gewandten Achter nach links herum durch die Tür. Moritz trat einen Schritt vor. Zuerst flog ihm das zarte Kleidchen der kleinen Irma Seveningen über die Schenkel. Und nun – stieß ihn Ralf Friedrich derb vor die Brust. »Pardon«, sagte Ralf Friedrich. »Aff«, sagte ganz laut Moritz Hußfeldt-Duftig.
Jetzt war alles in Ordnung. Ja, so, genau so hatte es kommen müssen.
Ralf Friedrich ließ seine Tänzerin aus, geleitete sie noch hastig ein paar Schritte vorwärts zu einer Wand, verneigte sich, schon halb im Gehen, und stand auch schon vor Moritz.
»Eine Ohrfeige gefällig?« fragte das ganze blasse Gesicht mit dem kurzen blonden Schnurrbart. Und Moritz hielt diesen glanzlosen starren Blick aus, er behielt beide Hände auf dem Rücken, er war nicht um einen Schritt zurückgewichen, er hatte die Lippen nicht um eine Spanne weiter geöffnet. Ralf Friedrich machte kehrt ...
Das Duell hatte stattgefunden. Ralf Friedrich lag mit einer schweren Kopfwunde im Fieber. Als die Gefahr vorüber war, reisten Herr und Frau Moritz Hußfeldt-Duftig ab. Man besuchte Venedig, man besuchte Florenz, Rom, Neapel. Es war eine lautlose Reise. Endlich, da man im Hotel Quisisana auf Capri saß, ergab sich, was nicht länger zu vermeiden war. Man war wieder einmal heftig gewesen. Moritz war endlich in den Korridor hinausgegangen, hatte sich auf ein Fensterbrett gesetzt und die Schaufenster des kleinen englischen Ladens gegenüber angestarrt.
Um das Aufsehen zu vermeiden, war man dann noch bis Neapel zusammen gefahren. Hier erfolgte der Abschied, der die Trennung einleiten sollte.
Nun saß Elisa allein in einem ihr durch Moritz reservierten Coupé auf der Strecke Neapel-Rom und überdachte alles. Sie sah Moritz im Tennisanzug, schlank und geschmeidig, geschickt wie keiner im Spiel am Netz, sie sah ihn im Morgenanzug – blauer leichter Rock, weiße Leinenhose, Schildkappe – am Frühstückstisch, die feinen Linien der lässig übereinandergeschlagenen Beine. Sie sah ihn nachts neben dem Bett im langen Nachthemd, die elegante Magerkeit seiner leichten Glieder durchscheinend. Und niemals war er roh gewesen, niemals. Nur so eine unterdrückte, mühsam unterdrückte Wut hatte immer in ihr gekocht, wenn er mit ihr über irgendein Thema ironisch disputierte ...
Moritz Hußfeldt-Duftig saß indessen allein im Palmensalon des Grand Hotel in Neapel. Er war in tadelloser Abendtoilette: Frack und mit schmalen Schleifen gezierte Lackhalbschuhe. Vor ihm stand ein Whisky mit Soda. Er rauchte – die wievielte? Er zählte die Endchen im Aschenbecher – die achtzehnte Zigarette. Er sah Elisa vor sich im weißen Piquet-Tenniskostüm, ganz lose die blaue Schärpe. Das Kostüm war ein Gewand aus einem Stück, wand man die Schärpe ab, so flutete es um die weichen Glieder. Er sah Elisa in großer Toilette: schwarzem Spitzenkleid mit Achatplättchen, tief dekolletiert, ein blaues Band durch den Ausschnitt gezogen, Perlen, sieben Reihen gleichmäßiger milchweißer Perlen um den schön gerundeten Hals. Er sah sie nachts ... Daß diese dumme Geschichte mit Pecher hatte kommen müssen! Irma Seveningen tanzte an ihm vorbei. Ihr leichtes Kleidchen flutete über seine Schenkel, dann kam der Stoß vor die Brust ... Aber er hatte sich doch eigentlich sehr gut benommen. Sehr gut, wiederholte er ...
Und was nun? Er hatte ja ein Kind, ein Mädchen, von einem Zwillingspaar der überlebende Teil. Ein hübsches kleines Ding, schwarz und graziös. Aber das Kind blieb ja doch Elisa. Natürlich. Wozu da erst einen Streit anfangen? Übrigens hatte er ihr's so gut wie versprochen. Und was sollte er auch mit dem Kinde? – Er dachte an sein Haus in der Wasagasse Nr. 7. Er sah die hübsche schwarze Siebenzahl auf weißem Grund, das blankpolierte Tor mit dem großen Messingring ... Und niemals mehr ... Zum Teufel, nur keine Sentimentalitäten! – – – –
Ralf Friedrich Pecher war noch etwas schwach. Aber er gefiel sich sehr gut mit dem von der linken Schläfe zum Ohr verlaufenden brandroten Strich und der angenehmen Blässe seiner Züge. Durchgeistigt, sagte er sich halblaut. Es kam aber vom Blutverlust, dem Fieber und dem langen Liegen ...
Nun war Elisa wieder zurück – zufällig hatte er sie gestern gesehen, gerade als er mit aufgelegter Schnurrbartbinde vom Vergrößerungsspiegel an der Fensterklinke hatte zurücktreten wollen ... Wie reizend sie doch war. Die Profillinie vom Hals aus zum Gürtel war entzückend. Wo gab es etwas Ähnliches? Warum er eigentlich diese charmante Person so dumm aufgegeben hatte? ... Aufgegeben übrigens? Warum aufgegeben? Es lag ja wohl nur an ihm. Er beschloß, ganz ruhig wieder da anzuknüpfen, wo das Gewebe dieses sonderbaren Verhältnisses von ihm im Stich gelassen worden war.
Und Elisa, die ihn mit gemischten Gefühlen empfangen hatte – zweimal hatte sie sich verleugnen lassen, aber endlich war sie von ihm überrascht worden – leistete keinen Widerstand.
Sie lebten sozusagen miteinander. Sie scheuten nicht einmal das Gerede. Ralf Friedrich erledigte Besorgungen für Frau Elisa Hußfeldt-Duftig. Anfangs hatte er in den Kaufläden immer gesagt: »Bitte, wollen Sie das der Gräfin Elisa Hußfeldt schicken.« Später sagten die Ladenjünglinge: »Nicht wahr, wir sollen das an die Frau Gräfin Hußfeldt senden?« Endlich sagten die Ladenjünglinge nichts mehr, und Herr Pecher sagte auch nichts mehr. Und die ›Gesellschaft‹ benahm sich wie die Ladenjünglinge. Anfangs hatte sich der und jener in pikanten Anspielungen gefallen, hatten die Damen eine leis mokante Miene zur Schau getragen, später war dies aber teils langweilig, teils unbequem geworden, und man nahm bald in der Sitzordnung der kleinen Dinners und Soupers Rücksicht auf das Paar. Denn Ehepaare mußte man trennen, dieses Paar aber notwendigerweise immer zusammenlassen. Das war der einzige Unterschied, den man im Tatsächlichen gelten ließ. Und natürlich versandte man auch noch die Einladungskarten getrennt an beide.
Eines Tages tauchte in der Hauptstadt eine neue Familie auf: Landesregierungsrat Baron Eugen Speratta und Gemahlin. Die neue Familie machte ihre Besuche, sie eröffnete ihr Haus, und es ergab sich, daß dieses Haus äußerst angenehm war: es war reich und glänzend. Baron und Baronin Eugen Speratta besaßen einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn stand bei einem galizischen Ulanenregiment, die Tochter hingegen war in diesem Sommer aus dem Pensionat gekommen und im Herbst in die Gesellschaft eingeführt worden. Die Mama war eben noch so schön, daß sie es ruhig wagen konnte, das ›Flitscherl‹ zu präsentieren. Das ›Flitscherl‹ nahm, als es einmal mit seinen kleinen Füßen seinen Platz besetzt hatte, den zu behaupten es sich durchaus nicht ungeschickt erwies, mit sicherem Auge die junge Herrenwelt aufs Korn, einen nach dem anderen. Als der lautlose Schuß gefallen war, blieb Herr Ralf Friedrich Pecher auf der Strecke. Daß er ein Verhältnis mit einer verheirateten, ja sogar mit einer geschiedenen Frau unterhielt, hatte dem ›Flitscherl‹ nicht verborgen bleiben können. Aber eben das war entscheidend gewesen. Claire Speratta wollte sehen, ob sie nicht ›dieser Hußfeldt‹ ihren Ralf Friedrich würde wegnehmen können. ›Dieser Hußfeldt‹: das hätte sich keine der ortsansässigen Damen unterstanden, auch nur zu denken. Denn alle die kleinen Mädchen, die im Laufe der Jahre ältere Mädchen oder junge Frauen geworden waren, standen nach wie vor im Bann der hochmütigen Elisa. Claire Speratta aber, das ›Flitscherl‹, war ein neuer Ankömmling, sie spürte nichts von der magischen Kraft dieses Zauberbannes. Sie hatte mit ihren geradeaus gerichteten klaren Blicken Umschau gehalten und gefunden, daß Ralf Friedrich Pecher ein reizender Mensch und daß es jammerschade wäre, ihn in den Krallen einer Verblühten schmachten zu lassen: also despektierlich empfand das ›Flitscherl‹.
Als sich Ralf Friedrich bewußt geworden war, daß etwas mit ihm vorgehe, daß er der kleinen Claire nicht so wie den anderen jungen Mädchen ein gnädiges ›Guten Abend‹ zu wünschen und dann sich mit schleifenden Schritten ins Spielzimmer zu begeben in der Lage wäre, verfiel er allmählich in eine nicht geringe Unruhe, die sich zur Aufregung steigerte. Und nach einem etwas allzu lang ausgefallenen Walzer bei Kreuzensteins war ihm allen Ernstes heiß vor den Augen und ums Herz geworden. Als er am Büfett gedankenvoll an einem Fruchteis stocherte, stand Elisa vor ihm und sagte kurz: »Mir ist nicht wohl. Wir werden nach Hause fahren.« Ralf Friedrich behielt den Teller in der Linken und die Gabel in der Rechten, sah einige Male auf und nieder und meinte endlich: »Ich möchte noch eine Stunde hierbleiben!« Gleich darauf bekam er einen Hustenanfall, mußte sich abwenden, den Teller wegstellen, das Taschentuch hervorlangen, die Augen schließen.
Als er sie wieder öffnete, war Elisa bereits von ihm weggetreten. Er wollte ihr nacheilen, besann sich aber, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln und ergriff hierauf wiederum den Teller.
Am nächsten Tag war die Verlobung in aller Munde, Ralf Friedrich aber saß im Hause der Brauteltern, die eine überaus verbindliche Miene aufgesetzt hatten –; die überraschte Mama hatte, kurz entschlossen, in einer lange andauernden nächtlichen Unterredung mit dem Landesregierungsrat den Zögernden zum Jawort vermocht.
Ralf Friedrich getraute sich nicht ohne Begleitung auf die Straße. Das erste, was ihm seine kleine Claire nach dem offiziellen Verlobungskuß gesagt hatte, waren die treuherzigen Worte gewesen: »Nicht wahr, Sie werden an eine gewisse Adresse schreiben und nicht – hingehen?« Worauf er sich stotternd verneigt und sich auch unverzüglich bei einer übertriebenen Beteuerungsgebärde ertappt hatte.
Zu eben dieser Zeit erschien Moritz Hußfeldt-Duftig wieder in der Vaterstadt. Er hatte sich in Paris und an der Riviera herumgetrieben und viel Geld ausgegeben. Warum er eigentlich plötzlich mit dem Petersburg-Nizza-Expreßzuge geradeswegs nach Wien und einige Stunden später in die Heimat gereist war, wußte er selbst nicht. Sentimentalität war es nicht gewesen. Er entschuldigte die ›Laune‹ mit seinen Nerven. Ein besseres Argument konnte auch schwerlich aufgetrieben werden.
Als er im Hotel Mohatetz vor seinen Koffern stand, befand er es als das Klügste, sich ganz arg- und harmlos ins Regierungsgebäude zu begeben und bei einigen Bekannten vorzusprechen. Das Jahr Karenzurlaub, das ihm nach der Affäre damals anstandslos bewilligt worden war, lief erst in vier Monaten ab, nichtsdestoweniger aber hatte er das Recht – allen Ernstes erwog er diese Frage –, sich im Regierungsgebäude zu zeigen, immerhin gehörte er noch zum Beamtenkörper, was er merkwürdigerweise beinahe vergessen hatte. Als der Portier seiner ansichtig wurde, zog er hinter dem verglasten Verschlag mit fast freudiger Hast die Kappe. Die Türe klirrte. Der Alte eilte, ihn zu begrüßen. »O Herr von Hußfeldt«, rief er, »Sie sind wieder da! Das ist schön! Jetzt bleiben Sie aber doch bei uns?« Moritz deklamierte nicht wie Raimunds Verschwender mit rührendem Augenaufschlag: »O Dienertreue, du gleichst dem Mond« usw., sondern er hatte lediglich das angenehme Gefühl eines, der sich von Bedienten geachtet sieht. Daß sich ihm bei dem Anblick dieses Mannes, an den er die ganzen Monate her aber auch nicht mit dem winzigsten Bruchteil eines Gedankens gedacht hatte, sogleich die Erinnerung reichlicher Trinkgelder einstellte, die er ihm, freigebig, wie er seit jeher gewesen war, im Laufe seiner Tätigkeit in diesem Gebäude gespendet hatte, verdarb ihm nicht das Gefühl. Ein Wohlgelittener: wem dankt er's als Geschenken irgendwelcher Art? Frauen und Männer, Höher-, Gleich- und Tieferstehende verpflichtet man sich aufs Gefälligste durch Geschenke. Es war keine Maxime, aber eine erlebte Erfahrung für Moritz Hußfeldt, der sich immer in der angenehmen Lage befunden hatte, geben zu können, wo man gerne nahm. Auch diesmal erhöhte ein dem Braven in die Hand gedrücktes Silberstück die Temperatur des Augenblicks. Moritz Hußfeldt hinterließ einen sich Verneigenden, der keine anderen als Empfindungen der Hochachtung für ihn zu hegen imstande war.
Im zweiten Stockwerk auf den hallenden Steinfliesen des die Bürotüren entlangführenden Korridors, wo er Fenster um Fenster, die in den Garten hinab- und zu den Türmen der Stadthauptkirche hinüberblickten, vorbeiwandelte, kam ihm gleichsam Staubatem der Vergangenheit wie eine Welle übers Herz. ›Sonderbar‹, dachte er und lächelte unwillkürlich, ›dieses blödsinnige Nochimmer!‹
›Bezirkshauptmann von Ambros‹, las er auf einer der verglasten Tafeln, wie sie in schön ausgerichteter Reihe über den auf den Korridor hinaus offenstehenden äußeren Türen hingen. Er blieb stehen. Der Schlüssel stak im Schloß. Er klopfte. ›Herein!‹ Dasselbe Herein wie vor Zeiten. Er zögerte einen Augenblick, ehe er eintrat. Er genoß das süße Nochimmer.
»Oho, oho«, rief der Ambrosier, »Moritz, der Weltfahrer! Was führt dich in dieses schnöde Gemäuer?« Und da saß er wieder auf dem steifen Kanapee, das mit verblichenem violettem Samt ausgespannt war, rauchte seine Zigarette und ließ sich erzählen. Namen, Namen, Namen. Was verband ihn mit allen diesen Namen? Beziehungen? Es waren Schatten, die da an ihm lautlos vorüberglitten, blasse Schatten ... Noch immer ... Und der Ambrosier erzählte ... Daß sich Friedrich Pecher verlobt habe, werde er wohl noch nicht wissen? Nein, das wußte er noch nicht. Die Schattenjagd hielt. Die Gestalt Pechers gewann immer mehr an Breite, Fülle, Farbe ... Es war eigentlich grausam, den Ambrosier sich so abquälen zu lassen, ihm nicht zu helfen. Moritz war hilfreich. »Und Elisa?« ... »Deine Frau?« Warum zögerte er jetzt, da er ihm ja jedes Hindernis bereitwillig weggeräumt hatte? Was war da zu zögern? Schonung? Lächerlich. Aber sagen konnte man das nicht. So etwas sagt man nicht. Daß man Gedanken nicht überspringen lassen kann wie Funken! Aber man kann es ja. Der Gedanke spannte sich, sprang. »Die Gräfin wird sich zu trösten wissen« ... Das war eigentlich eine Unverschämtheit. So weit war die Erlaubnis denn doch nicht gegangen. Und er – verschluckte das tadelnde Wort, das ihm herb auf den Lippen lag; fragen jedoch, näher hineinfragen in diesen wolkenden Nebel von Ungewißheit wollte er nicht. Und Herr von Ambros war taktvoll. Er dachte: »Es ist doch außerordentlich unangenehm, so etwas ... diese ganze Geschichte.«
Dann war er da und dort gewesen, hatte unzählige Zigaretten geraucht und alle wiedergefunden, die er nicht gesucht, aber immerhin aufgesucht hatte. Er war auch beim Statthalter vorgekommen. Es lag jetzt ja nur an ihm, wieder einzutreten an der Stelle, die er leergelassen hatte. Man rückte ein wenig auseinander: er fügte sich ein, das Getriebe ging weiter, ein unhörbares Surren, in dem man sich einfangen ließ, um mitzusurren, geräuschlos. Das alte Leben. Wo war das, was inzwischen geschehen war? Ausgelöscht, niemals dagewesen, für alle, die nicht daran teilgenommen hatten, an die man sich wieder anschloß, als ob es nicht dagewesen wäre. Weiter, weiter. Aber Moritz war noch nicht soweit. Er überlegte noch. Es war doch nicht so ganz selbstverständlich, sich wieder einzureihen. Vor allem war es so fürchterlich unnötig. Freilich, was sollte er tun. Wieder wegreisen, wieder am Bahnschalter eine Karte lösen, wieder in den Waggon steigen, wieder hinausfahren ... Wohin? ... Wozu? –
Man saß beisammen, man plauderte. Mittags mit ein paar der unverheirateten Herren, im Englischen Anker. Komischer Name! Niemals hatte er früher darüber nachgedacht ... Nachmittags im Kaffeehause, abends wieder im Anker.
Auch Pecher sah er. Auf der Straße, am Arme seiner Braut. Er wußte, daß diese kleine blonde Person jetzt fragen würde, jetzt gleich, hinter seinem Rücken: »War er das?« Und es war ihm unbehaglich. Pecher war etwas verlegen gewesen. Es hatte Moritz Vergnügen bereitet, diese Begegnung nicht zu vermeiden. Schon von weitem hatte er die beiden kommen sehen, hatte an einer unwillkürlichen Bewegung bemerkt, daß Pecher gerne in eine Seitengasse abgebogen wäre, daß er sich aber zusammennahm, ihm entgegenschritt, mutig.
Noch etwas stand ihm bevor, fast mit Neugierde wartete er es ab: Elisa –. Aber er wartete vergeblich. Und da erfuhr er, zufällig – man hatte es ihm nicht ungefragt mitteilen wollen –, daß sie abgereist wäre. Wohin, wußte niemand. Eine große Enttäuschung befiel ihn, aber er mußte sich sagen, daß sie unbegründet wäre. Was hatte er mit Elisa zu schaffen, was sie mit ihm? Seine ehemalige Frau, die inzwischen die Geliebte eines anderen gewesen war, der sich dann verlobt hatte, war doch durch eine Welt getrennter Erlebnisse von ihm geschieden, für immer ... Wenn sie niemals mehr hierher zurückkehrte – – – Warum ihn das wie ein Schauer ergriff? Zuckte doch noch sein Leben, das er tot in sich trug? War das seine einzige Beziehung? ... Nein, noch eine bestand, eine tiefere, die täglich inniger aus dem Dunkel heraufwuchs, aus dem Unbewußten: sein Kind –. Wo war das Kind? ... Pecher und sein Kind! Niemals hatte er des Mädchens mit besonderem Interesse gedacht. Das mußte der Boden machen, auf dem sich all das Entwürdigende zugetragen hatte. Pecher und sein Kind! Sein Kind war in dem Hause geblieben, darin Pecher mit seiner Frau ... Er dachte diesen Gedanken nie zu Ende ... Dann erfuhr er, daß das Kind bei Verwandten Elisas wäre, auf dem Lande. Also unerreichbar. Das hatte sie ihm zu Trotz getan! Er verwarf diesen Gedanken sofort, der ja grundlos war, unsinnig.
Und nun hatte er sich endlich doch entschlossen, sein Amt wieder anzutreten. Wieder saß er am Schreibtisch, wieder erledigte er seine Akten. Wieder blickte er manchmal auf und durchs Fenster hinaus ins Grün der städtischen Anlagen und nach den duftigen Bergen der Ferne. Er hatte seine Sachen kommen lassen, war aus dem Hotel in ein kleines Junggesellenheim gezogen, hatte einen seiner früheren Diener wieder, der gerade herrenlos gewesen war. Er hatte ein Tilbury, einen deutsch radebrechenden Kutscher.
Er suchte das Theater auf. Es ging gegen den Sommer. Die meisten seiner Bekannten verließen schon die Stadt. Noch hatte er sich in keiner Familie gezeigt. Er wartete immer auf etwas, das kommen sollte. Sein Tag war ihm sonderbar unwirklich. Aber er nahm seine Sportübungen wieder auf, er ritt, er schwamm, er focht. Eine scharfe Tennispartie hatte sich leicht finden lassen, der er sich angliederte.
Der Sommer kam, die Tage waren heiß. Im Büro roch es kühl. Die Jalousien waren herabgelassen, die Fenster offen. Es war gegen Abend. Er stand auf, räumte seine Papiere zusammen, nahm den Strohhut, ging durch den hallenden Gang. Alle Türen waren geschlossen. Er war allein, allein im Amtsgebäude, allein auf der Welt. Nach Hause? ... Nein. Er ging geradeaus, immer geradeaus. Er kam durch die Vorstadt, auf die Landstraße. Immer weiter schritt er. Es wurde Abend. Die Lichter eines Dorfes leuchteten auf. Da stand er am Flusse, sah Boote dahingleiten, hörte das taktmäßige Kommando des Bootsmannes, der seine Leute anrief. Der Ruderklub! Er ging weiter. Im Dorfe schlugen Hunde an. Er ging durchs Dorf hindurch, hinaus ins freie Feld. Die Nacht brach an. Sterne funkelten, Millionen Sterne. Der Himmel war bewegt wie ein Geschmeide auf einer heftig atmenden Brust. Er blieb stehen. Da kam eine furchtbare Mattigkeit über ihn. Er setzte sich auf den Boden. Es war ganz still. Ein Ährenfeld stand dunkel, unbeweglich gegen den Horizont. Die Nacht schien unendlich, die Welt ohne Anfang und Ende. Sein Herz aber war der klopfende Mittelpunkt. Plötzlich fiel er nach vorne auf sein Antlitz nieder und schluchzte. Er weinte laut, ließ die Tränen rinnen.
Dann erhob er sich, putzte mechanisch seine Knie ab, hob den Hut auf, stand und sah sich um. Ein Nachtvogel flog an ihm vorbei, lautlos, weich, schwer – irgendwo, fern, schlug es blechern wie eine Turmuhr –, er zündete ein Streichholz an, sah nach der Uhr. Sie war stehengeblieben. Er versuchte, den Atem anzuhalten ... Mächtig ließ er ihn nach einer kurzen Weile wieder ausströmen; es tat ihm wohl ... Hatte er sterben wollen? Sich so sterben zu lassen, den Atem anzuhalten, bis die Brust zerspränge! Ein Heroismus, dessen wohl nur große Menschen fähig waren. Ob es heute irgendwo in der Welt solche Menschen gab? Er ging. Da war es, wie wenn etwas hinter ihm her wäre. Er lief. Keuchend, schwitzend, von Angst fast erdrückt, kam er in ein Dorf.
Moritz Hußfeldt galt binnen kurzer Zeit als ein Sonderling. Man hatte offenbar vergessen, daß er schon seit Jahren unter dieser bequemen Bezeichnung im Gesellschaftsregister eingetragen war. ›Jedermann hat eine Hundemarke hier.‹ Das war ein Aphorismus des Ambrosiers.
Der Sonderling hatte Sehnsucht nach einem Menschen. Man sah ihn einmal um die belebteste Stunde über den Hauptplatz mit einem Individuum gehen, zu dem man ihm nicht so nahe Beziehungen zugetraut hätte. Als ihm ein Kollege am nächsten Vormittag warnende Vorstellungen machte – Moritz hatte, wie gewöhnlich bei Gesprächen, mit gesenktem Kopf dagesessen, die langen Finger zwischen den Knien gegeneinander gespreizt –, sagte er mit seinem liebenswürdigsten Lächeln: »Gesellschaft? Das ist mir fürchterlich gleichgültig.« Alles war darüber einig, daß man so etwas nicht sagen dürfe. Wenn man schon solche Ansichten habe, solle man sie doch lieber bei sich behalten. Nur der Ambrosier, dem auch Bericht erstattet wurde, bemerkte: »Wenn einer so viel Geld hat wie der Hußfeldt, kann ihm die ganze Gesellschaft gestohlen werden.« Dem Ambrosier nahm man derlei Äußerungen nicht übel.
Das Individuum, mit dem Moritz Hußfeldt am Hauptplatz gesehen worden war, hieß Fritscher und war ein Kind der Liebe, wie man sich poetisch ausdrückt, der Liebe, nämlich eines weiblichen Mitgliedes des Stadttheaters zu einem der lebenden Generation nicht mehr geläufigen Herrn. Das weibliche Mitglied des Stadttheaters war vor einigen Jahren im Armenhaus gestorben, das Kind der Liebe hatte eine Anstellung als Agent und entblödete sich nicht, von Zeit zu Zeit ehemalige Schulgenossen um kleine Beträge anzusprechen.
Moritz lud Herrn Fritscher einmal zum Abendessen ein und schien es nicht zu bemerken, daß seine sonstigen Konviven einen Tisch in tunlichster Entfernung besetzten. Ihn interessierten die Erzählungen des Herrn Fritscher um ihrer Schamlosigkeit willen. Hier war ein Mensch, der von Zuständen als von gewohnten sprach, die jeden Wohlgeborenen und Gutgekleideten schaudern machen mußten. Ehe er zu einer kleinen Stellung gekommen war, hatte er oft und oft im Massenquartier geschlafen. Vom Ungeziefer sprach er wie von einer kaum vermeidbaren Wohnungsplage ... Aber Moritz gab diesen Verkehr bald auf. Nicht aus Rücksieht auf seine Freunde, nicht aus Abscheu vor Herrn Fritscher, wohl aber in der Überzeugung, daß auch Herr Fritscher nicht der Mensch sei, den er suchte. Der Mann war bei all seiner Schamlosigkeit doch nicht frei. Moritz Hußfeldt hielt sich wieder zu seinen Kollegen, und sie sahen ihm freundlich seinen Fehltritt nach.
Da erschien Elisa in der Stadt. Er sah sie in einem Wagen vom Bahnhof kommen. Sie trug einen Reisehut mit einem violetten Schleier und hatte ein frisches blühendes Aussehen. Er war in einen Zigarrenladen getreten und hatte ihr hinter der Tür nachgeschaut. Der Wagen nahm die Richtung seiner, ihrer alten Wohnung.
Zwei Tage darauf, gegen Abend, als er in der Dämmerung fröstelnd vor dem Kamin saß und lebhaft an Elisa dachte, klingelte es, und der Diener meldete eine Dame. Er wußte, daß sie es war. Er trat ihr im dunklen Vorzimmer entgegen, verneigte sich stumm und ließ sie eintreten. Dann zog er die Tür hinter sich zu, also daß der Diener ihnen nicht zu folgen wagen durfte.
Und nun stand sie am Fenster. Das scheidende Licht spielte um ihre Gestalt. Im Kamin zuckte es. Über den Teppich glitt der Flammenschein. Er hielt still und wartete. Die Uhren tickten. Da hörte er ihre Stimme, eine fremde Stimme aus vergangenen Tagen. Sie hatte sich nicht umgewandt.
»Du wirst meinen Schritt merkwürdig finden«, sagte sie. Er fand ihn nicht merkwürdig und schwieg. Sie hatte eine Antwort erwartet.
»Ich weiß selbst nicht, wie ich mich entschließen konnte.«
Er wußte es, aber er schwieg.
»Ich hätte dir schreiben sollen.«
»Wozu?« sagte er sich.
»Vielleicht ist es eine Unbesonnenheit ...«
Sein Gesicht verzog sich zu einer ihm selbst unangenehmen Grimasse. Nun schwieg sie. Er mußte etwas sagen. Aber was? ... »Elisa«, kam es aus ihm. Er räusperte sich. Sie wandte sich um ...
Auf der langen Wagenfahrt, die sie darauf unternahmen, erzählte sie. Sie sprach von ihren Reisen. Er dachte an seine Reisen. Sie sprach von ihrer Sehnsucht nach der Heimat. Er fand das Wort seltsam schal, aber er schwieg. Sie weinte manchmal. Endlich brachte er sie an ihre Tür, zu seinem Hause.
Sie zögerte. Er stand vor ihr, den Hut in der Hand, eine Laterne beschien ihn. Wie alt er geworden war! Da sich Schritte näherten, entschwand sie im Flur. Er schickte den Wagen weg und ging wieder einmal durch die Stadt, hinaus ins Freie, in die sternenhelle Nacht.
Er kam sehr spät nach Hause. Die Lichter brannten. Der Diener lächelte, wie wenn er ein behagliches Geheimnis verschwiege, daß sich von selbst erraten ließe. Er trat mit einer Ahnung ein. Elisa saß vor dem Kamin. Sie erhob sich nicht. Der Diener wartete. Da nahm er ihre Hand und küßte sie. – Zum erstenmal seit ... Ja, seit wann?
Leise zog der Diener die Tür zu. Wieder herrschte Stille. »Du kannst doch nicht hierbleiben!«
»Warum nicht?« –
Warum nicht? wiederholte er sich. Und warum ja? kam es wie ein Echo zurück. Seine Brust ging schwer. Er begriff das alles nicht.
Elisa verfolgte jede seiner Bewegungen. Er hatte nicht die Kraft, ihr überhaupt etwas zu erwidern. Um so schneller flogen ihm Gedanken durch den Kopf. Endlich hielt er in seiner Wanderung zwischen Kamin und Fenster inne. »Geh, Elisa«, sagte er. »Geh. Es ist besser, du gehst. Wir wollen uns nicht mehr sehen. Ich werde dich hier nicht stören. Ich werde nie mehr von mir hören lassen. Ich reise morgen ab. Für immer.«
Da stand sie auf. »Du willst mich nicht mehr?« Er wollte sagen: »Ich will dich.« Aber er schüttelte den Kopf und sagte tonlos: »Ich will dich nicht mehr.« Sie schloß ihre Jacke. Er sah ihr schweigend zu. Und plötzlich schritt er zur Tür und öffnete sie stumm. Er verneigte sich, blieb in dieser Stellung. Er hörte ihr Kleid rauschen, wie sie durch die Tür schritt. Er sah nicht auf.
Nun war sie im Vorzimmer. Das Vorzimmer war festlich erhellt. Der Diener war auf das Geräusch der Tür herbeigeeilt.
Moritz Hußfeldt dachte: Soll ich ihr einen Wagen holen lassen? Da mußte sie noch umkehren. Soll ich sie von Johann begleiten lassen?
Aber er sagte nichts als: »Johann, mach der gnädigen Frau die Haustür auf.« Und er hörte wieder ihr Kleid rauschen, hörte die Tür ins Schloß fallen, hörte das Haustor knarren, hörte es ins Schloß fallen ... Noch immer stand er zwischen der Türe.
Dann, da er den Diener zurückkehren hörte, ging er in sein Schlafzimmer, zog die Nachttischlade auf, hob den Revolver heraus, legte ihn an die rechte Schläfe und drückte los. Der Diener kam gerade dazu ...