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Der Nachtisch war bereits aufgetragen, und wir warteten nur auf das Zeichen unsrer Gastgeberin, uns von unsern Plätzen erheben zu dürfen, als der Diener noch einen großen, schimmernden Tafelaufsatz von besonders erlesenem Geschmack auf den Tisch stellte, dessen kostbare geschliffene Kristallschalen allein mit ausgesucht schönen, frischen Kirschen gefüllt waren, deren dunkles Blutrot zu dem blendenden Weiß des Silbers und dem Glanze des geschliffenen Kristalls einen wundervollen Gegensatz bildete.
Jeder von uns lobte die köstlichen, kühlen Früchte, wunderte sich aber im stillen, noch einmal Früchte angeboten zu sehen, nachdem das frische Obst vorhin bereits wenig Zuspruch gefunden hatte.
»Ich feiere nämlich heute das Fest der ersten Kirschen,« nahm unsre Gastgeberin, die unsre Gedanken erraten haben mochte, lächelnd das Wort, als der Diener das Zimmer wieder verlassen hatte.
»Es ist das eine Erinnerungsfeier für mich, ja, ein Fest, wenn Sie so wollen, nur hat es keinen fröhlichen Anlaß, wie ihn Feste sonst zu haben pflegen. Aber ich feiere es in jedem Jahre, sobald die ersten Kirschen reifen ... Mit diesen Früchten ist nämlich eine der schmerzlichsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit verknüpft. Auch wenn sie die Veranlassung zu meiner Gewohnheit kennen, werden Sie sie vielleicht eine Grille nennen, eine Wunderlichkeit, eine Schrulle des Alters, was weiß ich! Sie werden die Achseln zucken und sagen: Na ja, alte Leute haben so ihre Eigenheiten. Meinetwegen, ich bin Ihnen nicht gram darum. Aber es ist wirklich nicht das Alter, das mich auf die Idee meines Festes gebracht hat ... Ich feiere es seit der Zeit, in der mein Vater wieder zu einigem Vermögen kam. Seitdem habe ich es jedes Jahr im stillen, ganz für mich begangen. Ein angenehmer Zufall will es, daß ich den Abend meines Festes diesmal in Ihrer Gesellschaft verbringe. Das Schönste ist aber der Morgen meines Kirschentages. Da lasse ich auf den Spielplätzen aller Schulen in der Stadt ein paar Körbe voll Kirschen an die Kinder verteilen ... Ich tue es zur Erinnerung an den Tag, an dem ich als Kind zum erstenmal die Unerbittlichkeit und Trostlosigkeit der Armut kennen gelernt habe.«
»Erzählen Sie!« baten wir sie, und unsre Gastgeberin fuhr fort:
»Ich sagte Ihnen schon, daß sich meine Gewohnheit an eine Erinnerung aus meiner Kinderzeit knüpft. Ich war damals ein sechsjähriges Mädchen, und ich weiß noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen, welche Freude mir der erste Schulausflug machte. Tagelang vorher fieberte ich vor Erwartung, und ich glaube, meine Träume sind selten wieder von solcher Unruhe erfüllt gewesen, wie in der Nacht vor dem kommenden großen Ereignis. War doch für mich damals ein Schulausflug ein Ereignis, denn meine Eltern waren arm, ärmer als ich es mit meinen sechs Jahren begriff. Mein Vater hatte bald nach meiner Geburt sein gesamtes Vermögen durch einen Schicksalsschlag verloren. Wenn ich heute an diese Jahre zurückdenke, verstehe ich erst ganz, wie meine arme Mutter in der Zeit gelitten haben muß. Für sie war die Zeit meiner ersten Kindheit düster und grau von den Schatten der Armut und steter Entbehrungen. Ein harmloser, fröhlicher Ausflug mit uns Kindern ins Grüne wäre ihr als eine Verschwendung erschienen. Ich war darum kaum einmal über die Straße hinausgekommen, in der meine Eltern wohnten. Sie können sich denken, welche Wonne mir ein Ausflug versprechen mußte, der weit vor die Tore der Stadt in einen Kaffeegarten führen sollte. Aber bereits am Tage vorher fiel der erste Wermutstropfen in den Becher meiner Freude.
Ich sehe noch alles genau vor mir: Es war in der Dämmerung, und ich hockte auf einem Bänkchen zu den Füßen meiner Mutter. Aufgeregt plauderte ich von dem, was der nächste Tag an Freuden bringen werde. Aber meine Mutter blieb still und schweigsam. Sie strich mir nur einigemal zärtlich mit der Hand über den Scheitel und sah mich still und traurig an.
Plötzlich sah ich langsam eine Träne aus ihrem Auge quellen.
Ich war bestürzt, unglücklich und selber dem Weinen nahe.
Auf meine Frage, was ihr fehle, antwortete sie nicht, seufzte nur, nahm meinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte mich lange und innig.
Am folgenden Tage hatte ich das Vorgefallene vergessen und stand am Mittag fertiggerüstet im Sonntagskleide und wartete voll Ungeduld auf den Augenblick, ausrücken zu können.
Das Essen war bereits abgeräumt.
Mein Vater war um Mittag ärgerlich und verstimmt heimgekommen, und hätte nicht der Ausflug vor der Tür gestanden, so hätte ich merken müssen, wie unglücklich meine Eltern gerade an diesem Tage waren. Aber ich hatte kein Auge dafür! Erst als meine Mutter mich mit den Worten: ›Geh zu Vater, daß er dir ein Taschengeld gibt!‹ wieder ins Zimmer schickte, ahnte ich, daß etwas vorgefallen sein mußte.
Etwas beklommen tat ich, wie mir geheißen war. Mein Vater griff denn auch sofort in die Tasche und schenkte mir einige Nickelstücke. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel es gewesen sind. Aber ich weiß heute sicher, – daß es die letzten gewesen sind, die er besaß.
Strahlend vor Freude sprang ich hinaus. So reich war ich mein Lebtag noch nicht gewesen.
Der Nachmittag brachte eine Kette von Seligkeiten.
Mit Gesang marschierten wir hinaus und spielten, sangen und lärmten im Grünen. Eine Kuchenbude gab es im Garten und eine Schaukel, auf der man bis in die untersten Zweige der Bäume emporflog. Das Köstlichste aber war für mich ein Stand mit Kirschen. Große, schwarze, lockende Früchte waren es, süß und frisch, als wären sie eben im Paradiese gepflückt. Zu Hause bekam ich nie welche. Heute aber konnte ich mir kaufen, was ich wollte! Eine Tüte voll nach der andern verzehrte ich, und als es abends nach Hause ging, war meine Tasche leer.
Selig von den Genüssen des Tages kam ich heim.
Stumm kleidete meine Mutter mich aus.
Plötzlich flüsterte sie mir im Dunkel der Kammer ins Ohr: ›Wieviel Geld hast du übrigbehalten?‹
›Nichts!‹ erwiderte ich ahnungslos. ›So schöne Kirschen gab es da.‹
Ich fühlte, wie sie bei meiner Antwort zusammenzuckte.
›Nichts?‹ fragte sie tonlos, und mir begann bei dem eigentümlichen, matten Klang ihrer Stimme das Herz zu klopfen.
Eine bange Stille folgte. Dann hörte ich, wie sich aus ihrer Brust ein Seufzer losrang, leise, verhalten und doch deutlich in der drückenden Stille der Kammer.
In diesem Augenblick begriff ich plötzlich, was geschehen war. Ich hatte mein Geld vertan, leichtsinnig für Kirschen hingegeben, und zu Hause litten wir Mangel am Nötigsten! Nur um mir meine kindliche Freude nicht zu zerstören, hatten meine Eltern mich gehen lassen. Mein Vater hatte nicht gewollt, daß ich als einzige aus der Klasse zu Hause bleiben sollte, und seine letzten Nickel darum gegeben!
Am folgenden Tage gab es kein Mittagessen, und zum erstenmal begriff ich, wie unerbittlich grausam das Leben sein kann.
Keine meiner heimlichen bitteren Tränen schaffte nur einen einzigen der leichtsinnig ausgegebenen Groschen wieder her.
Den Tag hab' ich heute noch nicht vergessen!
Jedesmal, wenn ich die ersten Kirschen in den Straßen ausgeboten sehe, wird er wieder lebendig in mir. Ich fühle wieder den entsetzlichen Druck der Armut und habe nicht eher Ruhe, bis ich eine Schar kirschenhungriger Kinder erfreut habe.
Sie werden das kindisch und lächerlich finden. Aber ob Sie an meiner Stelle an den ersten Kirschen des Jahres vorbeikönnten, ohne schmerzlich an Ihre Kindheit erinnert zu werden?«