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Mir will scheinen, als wenn in dem Leben eines Kindes, das seine Großmutter nicht gekannt hat, etwas Unersetzliches fehlt. – Märchen hat mir meine Großmutter allerdings nie erzählt. Eine Großmutter also, wie sie in fast allen Jugendgeschichten vorkommt, eine spinnende und märchenerzählende hutzelige Alte, die in der Dämmerstunde die Geschichten von Sneewittchen, Dornröschen und Frau Holle erzählt, habe ich nicht besessen. Aber Geschichten hat sie doch auch erzählt, wenn es auch keine Märchen waren, Geschichten aus ihrem Leben und aus alter Zeit, Geschichten aus ihrem Elternhause und von ihren Großeltern. – Gerade hundert Jahre wäre sie in diesen Tagen geworden, wenn sie noch lebte, und ich habe ihres hundertsten Geburtstages in Stille und Dankbarkeit gedacht.
Daß sie eine gute Frau gewesen ist, ist bei einer Großmutter beinahe selbstverständlich, so daß ich es gar nicht zu erwähnen brauchte. Wir Kinder gingen darum nirgend lieber hin, als zu ihr. Auch das ist selbstverständlich. Kinder gehen immer gern zur Großmutter. Sie wohnte in einem Hause der Vorstadt, und meistens saß sie, wenn wir zu ihr kamen, in einem niedrigen kleinen Zimmer, das unten im Hause lag und auf den kleinen Hofplatz hinaussah, in dem ein einziger hoher Lebensbaum stand, der größte, den ich bisher gesehen habe. Vor dem Fenster zog sie Geranien und Fuchsien in weißglasierten Blumentöpfen, und dazwischen prangte ein riesiger Kaktus mit Stacheln so spitz wie Stecknadeln.
Nirgend auf der Welt war es traulicher als in diesem Zimmer. An der Wand hing eine alte Pendeluhr mit einem Zifferblatt aus weißem Porzellan. In jede Ecke waren ein paar rote Rosen gemalt, und der kleine Perpendikel, der hinter den beiden Gewichten hing, schwang sich mit lautem Klick-klack-klick-klack an der Wand hin und her. Daneben hingen vier Bilder, die ich viertelstundenlang besichtigt habe. Es waren alte Stahlstiche in versilberten, schadhaften Rahmen. Sie stellten die vier Jahreszeiten dar, jede durch eine hübsche Frauengestalt veranschaulicht. Merkwürdig fremd, beinahe feierlich sahen sie aus. Alle hatten große fragende Augen, trugen alle das Haar schlicht über der Stirn gescheitelt und blickten den Beschauer voll an, die eine mit einem Veilchenkranz auf dem Kopfe, die andre mit einem Bündel Ähren im Arm und die dritte mit einem flachen Korb voll Trauben. Die vierte saß an einem Kohlenbecken und wärmte sich die nackten Arme. Ich konnte beim Betrachten niemals recht mit mir übereinkommen, welche von den vieren die schönste sei. Am meisten sagte mir aber doch zuletzt die dritte zu. Sie hatte einen außerordentlich ernsten Ausdruck im Gesicht, der sie mir am liebsten machte. Ich habe überhaupt immer für den Herbst und die Zeit der Früchte geschwärmt; man sollte denken, daß mir der Herbst meines Lebens, wenn ich ihn erreiche, einmal die stille Schwärmerei meiner Knabenjahre in etwas vergelten wird.
Das Schönste aber in Großmutters Stube war nicht die Wanduhr, waren nicht die vier Bilder und die kleinen Lichtdrucke über dem Sofa, auch das Sofa nicht mit dem schwarzen, kühlen Damastüberzug, noch die blanken Mahagonistühle – das Beste in Großmutters Stube war unstreitig die Großmutter selbst.
Sie war eine Frau im Anfang der Siebziger, mit sanften grauen Augen und einem Gesicht voll unzähliger Falten. Ich erinnere mich nicht, sie jemals ohne ihre Haube gesehen zu haben, die aus unzähligen Rüschen und Spitzen zusammengesetzt war und wie ein Kleinod in acht genommen wurde.
»Kum mi nich an min Huben!« rief sie jedesmal, sobald man sich dem kleinen zierlichen Körbchen näherte, das auf einem Tischchen in der Zimmerecke stand, auf dem meistens ihre Sonntagshaube lag, die aufgesetzt wurde, sobald Besuch zu erwarten war.
Ich habe sie selten anders als plattdeutsch reden hören. Aber es klang sanft und freundlich aus ihrem Munde, weich und mollig.
Das Schönste aber, was ich bei ihr genossen habe, waren ihre Butterbrote. Sie pflegte nämlich die Butterschnitte, nachdem sie mit frischer Butter bestrichen waren, mit etwas feinem Zucker zu süßen, und ein solch gezuckertes Butterbrot schmeckte schöner als der herrlichste Kuchen.
Gute Großmutter! Manches Butterbrot habe ich bei dir verzehrt, und ich sehe dich noch an den Schrank humpeln, nach dem ausgewetzten Messer langen, das vom häufigen Schleifen längst dünn und biegsam geworden war, um eine volle Scheibe vom Brote zu trennen, sehe noch den kleinen Zuckertopf aus weißem Porzellan und streichle noch in Gedanken deine welke Hand, auf der die blauen Adern so merkwürdig dick auflagen. Große goldene Ohrringe hingen dir an den Ohrläppchen, und an Feiertagen steckte eine merkwürdig gewundene goldene Brosche in dem bunten Tuch, das du um die Schultern geschlungen hattest. Ein dünner, feiner Goldreif steckte auf dem Goldfinger deiner rechten Hand. Er war von Anfang an dünn gewesen, aber die Jahre hatten ihn noch mehr abgeschliffen, daß man sich darüber wundern mußte, wenn er nicht zerbrach.
Oben im Hause hatte mein Großvater seine Werkstelle. Es war die größte Stube im Hause, und an den Wänden lehnten die großen Gestelle, die zum Aufspannen der Leinwand benutzt wurden. Hier entstanden gemalte Fensterrouleaus, wie man sie in alter Zeit hatte und heute nur selten noch hier oder da einmal vor den Fenstern findet. Immer roch es in der Werkstatt nach Leim und Kleister und Farben. Oft genug habe ich »Kasseler Braun«, »Elfenbein-Schwarz«, Stärke und Leim aus der Farbenhandlung für den Alten geholt und ihm Gesellschaft geleistet, wenn er vor seinen Rouleaus stand und sauber Strich für Strich Jalousiestäbe hinaufmalte.
Neben der Werkstatt lag die »gute Stube«. Heute würde sie »Salon« heißen. Es standen feine Möbel darin, Polsterstühle und ein ovaler Sofatisch mit einer gewirkten bunten Decke mit einer Troddel an jedem Zipfel. Eine vergoldete Uhr hing an der Wand, von der ein ebenfalls vergoldeter Adler dem Hin- und Herschwingen des kleinen Pendels zusah. Das merkwürdigste aber war die eine Ecke der Stube, die vollständig von Rouleauproben eingenommen wurde. Zusammengerollt lehnten sie da und warteten darauf, vor den Kunden abgewickelt und von musternden Augen betrachtet zu werden. Von uns Kindern mußten sie, wenn wir an Sonntagen dieses Allerheiligste überhaupt einmal betreten durften, wie ein Haufen aufgestapelter kostbarster Schätze respektiert werden. War Großvater aber einmal besonders guter Laune – schlechter Laune habe ich ihn eigentlich nie gesehen –, so zeigte er uns die kostbarsten unter seinen Rouleauproben, mit Ölfarben gemalte Landschaften, auf denen er als Staffage mit Vorliebe Schafe malte, wohlgenährte, friedlich wiederkäuende Schafe, die meistens unter ein paar Birken postiert waren.
Diese Schafe besonders erfüllten mich jedesmal wieder mit einer unglaublichen Bewunderung vor der Kunst meines Großvaters. Und es ist schließlich kein Wunder, wenn ich eines schönen Tages auf den Gedanken verfiel, ähnliche glorreiche Leistungen zu vollbringen. Am Geburtstage meiner Mutter verehrte ich ihr denn auch – ich sehe noch ihr herzliches Lachen, höre noch das stürmische Gelächter der Geburtstagsgäste, denen meine Mutter das Bild zeigte – ein mit dem Bleistift gezeichnetes, friedlich wiederkäuendes – Schaf.
Eines Tages aber war es mit dem Verkehr bei den Großeltern vorbei. Meine Großmutter erkrankte, und wir Kinder durften sie wochenlang nicht besuchen. Als wir das Haus wieder betraten, war sie bereits gestorben und lag schon im Sarge.
Man hatte den Sarg auf den Hausflur gestellt und ein paar Stützen daruntergestellt, die sonst das Waschfaß trugen. Das ganze Haus roch nach dem Lack des Sarges und dem Grün des Lebensbaumes, von dem man einen Kranz gebunden und auf dem Sargdeckel befestigt hatte. Ich kann seitdem einen Lebensbaum oder den Asphaltlack eines Sarges nicht riechen, ohne an dieses Bild erinnert zu werden.
Ich war so erschüttert, daß ich kein Wort sagen konnte.
Es war zum erstenmal, daß ich einen Toten sah. Das bleiche, etwas entstellte Gesicht mit den geschlossenen Augen, die mich so oft freundlich und liebevoll angeblickt hatten, und die wächsernen Hände, die nun so unbeweglich auf der weißen Decke lagen, machten einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich mehr Furcht als Trauer empfand. Nach damaligem Gebrauch hatte man unter den Sarg ein Schälchen mit Chlorkalk gestellt, dessen scharfer, ätzender Dunst dem Leichengeruch vorbeugen sollte, in mir aber erst recht Abscheu und Ekel erregte.
War das wirklich die Großmutter, die da in dem schwarzen, mit weißem Leinen und Spitzen ausgeschlagenen Sarge lag? Wie fremd sie doch aussah! Und statt Trauer und stiller Wehmut empfand ich nur Beklommenheit und eine Art furchtsamer Neugier. Aber der widerwärtige, scharfe Geruch des Chlorkalks, der sich mit dem beklemmenden Duft des Lebensbaumgrüns und dem eigentümlichen Lackgeruch des Sarges vermengte, erregte einen so heftigen Widerwillen in mir, daß ich plötzlich zur Tür drängte und hinauslief, um von dem Geruch und dem Anblick der Toten befreit zu sein.
Eine Zeit später schlich ich die Haustreppe noch einmal wieder hinauf und lugte durch die Scheiben der Haustür. Still und friedlich lag die Tote da. Zu ihrem Haupte brannten ein paar Kerzen, deren gelber Lichtschein ohne Bewegung auf das Angesicht der Toten fiel, das dadurch noch wachsbleicher und mir merkwürdig fremd erschien.
So stand ich eine ganze Zeitlang und starrte durch die Scheiben der Tür; ins Haus zu treten und an den Sarg hinanzugehen, getraute ich mich nicht.
Aber plötzlich wurde ich sanft an die Seite geschoben, und als ich mich verstört umsah, erschrak ich nicht wenig, als ich zwei schwarzgekleidete Leichenträger erblickte, von denen ich an die Seite gedrängt worden war und die an mir vorbei ins Haus gingen, die Glastür wieder hinter sich schlossen, an die Zimmertür klopften, ein paar Worte mit meinem Großvater wechselten und dann begannen, den Sarg zu schließen. Sie hoben den Deckel auf den Sarg, schraubten ihn zu und warteten dann auf den Leichenwagen, der wenige Minuten später kam, den Sarg abzuholen.
Beide Flügel der Haustür wurden nun aufgesperrt und die Tote dann in ihrem Sarge hinausgetragen. Alle Trauergäste traten aus den Stuben, und als der Leichenwagen sich langsam in Bewegung setzte, schritten die Männer hinterdrein, während die Frauen in ein paar Kutschen stiegen, die mit nickenden Pferden langsam vorfuhren. – Ich blieb im Hause zurück, in dem ein paar Frauen aus der Nachbarschaft die Zimmer aufräumten, in denen die Trauergäste vorhin auf den Leichenwagen gewartet hatten.
Mir war unglaublich bange und traurig zumute. So still und öde wie das Haus nun war. Ich schlich die Treppe hinunter in das kleine Stübchen, in dem die Großmutter so oft gesessen, und als ich hier plötzlich ihre Haube liegen sah, als hätte sie sie eben aus der Hand gelegt, begriff ich eigentlich erst, daß ich die Tote nun für immer verloren hatte.
»Kumm mi nich an min Huben!« hörte ich sie sagen und drückte meinen Kopf weinend in die kalte Sofaecke. Ich hatte verloren, was ich so lange besessen, hatte verloren, wo ich glücklich gewesen war: – Großmutters Haus!