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Die Überschwemmung

Das Haus, in das wir bald darauf einzogen, lag weit draußen in der Vorstadt. Eine Heerstraße führte daran vorbei, und dicht hinter unserm Hause lag der Deich und hinter dem Deich der Fluß.

Eine neue Welt tat sich mit dem Einzug in unsre neue Wohnung für mich auf. Nachdem meine Entdeckungen im Hause beendet und alle Räume genügend besichtigt worden waren, gab es Streifzüge in die umgebenden Straßen hinaus, und eines Tages erkletterte ich auch zum erstenmal den Deich und sah plötzlich den Fluß vor mir liegen, breit und schimmernd. Ein Dampfer schleppte ein paar Kähne träge und langsam den Fluß hinauf, und der Rauch aus dem Schornstein zog ebenso träge und langsam über Wasser und Wiesen hin.

Am Deiche und vor allem unten am Wasser gab es unzählige Spiele. Man konnte sich ins Gras niederwerfen und wie ein Stein den Deich hinunterkollern, konnte Gruben im weichen Flußsande machen, Dämme bauen, kleine Teiche graben und Fische darin fangen, wobei man den Teich, der nicht größer zu sein brauchte als ein Waschgefäß, nur durch einen schmalen Kanal mit dem Flusse zu verbinden brauchte. Sobald ein paar der jungen Fische, die so gern das flache Wasser aufsuchen, in die Falle gegangen waren, warf man den Kanal mit Sand zu und konnte nun die kleinen silberhellen Fische mit Muße betrachten, wie sie hin und her durch das Wasser schossen, sobald sie merkten, daß der Ausgang versperrt war. Man konnte Muscheln suchen und unter dem täglich neu angeschwemmten Genist, das am ganzen Ufer entlang lag, Gegenstände finden, mit denen sich spielen ließ wie mit fertigen Spielsachen. Stücke von Korkrinde gab es darunter und Holzstückchen, die in das strömende Wasser wieder hinausgeschleudert auf lustigen kleinen Wellen wieder davonschwammen, und tausend andre Nichtigkeiten, die der Fluß hierher getragen und abgesetzt hatte: leere Muschel- und Schneckenschalen, bunte Kieselsteine und weißglänzende, die wie Perlmutter schimmerten und von uns Milchsteine genannt wurden, alte Büchsen, leere Flaschen usw. Oft genug kamen wir von unsern Spielen mit schmutzigen Hosen und nassen Füßen heim, aber das Wasser lockte uns trotz allen Strafen doch immer wieder zu sich herüber. Besonders schmutzten wir uns im weichen Lehme ein, den es am Ufer in großen Klumpen gab. Aber mit nichts auf der Welt ließ sich's so schön spielen. Besonders gern kneteten wir kleine Kugeln daraus, die wir auf die Spitze unsrer Pfeile steckten, damit sie die nötige Schwere bekamen. Warme Plätze am Ufersand gab es, wo die Sonne den Sand getrocknet hatte, daß er, lose und trocken wie Pulver, kitzelnd durch Strümpfe und Kleider drang.

Mit einem Wort, der Fluß war unser bester Freund. Daß er auch böse, gewalttätig und grausam sein konnte, sollte ich bald genug erfahren.

Es war im Frühjahr, zur Zeit der Schneeschmelze. Der Fluß stieg mit jedem Tag, bald hatte er das Vorland und die Wiesen vor der Stadt weithin überschwemmt und stieg nun langsam am Deiche hinauf, höher, immer höher.

Regen und Wind kamen dazu. Es wehte, daß man sich kaum auf der Deichkappe halten konnte, so schnob und brauste der Sturm über das Wasser und peitschte die Wellen gegen den Deich, daß sie mit weißem Gischt am Ufer aufspritzten.

Kaum zwei Meter stand das Wasser noch von der Deichkappe entfernt. Wohin man sah, nichts als Wasser. Aus dem Flusse schien ein Meer geworden zu sein, so breit war er geworden, so wild gingen die Wellen.

Am Abend lief ich noch einmal heimlich zum Deich, trotzdem man es mir verboten hatte. Ich mußte sehen, wie hoch das Wasser jetzt stand. Als ich hinkam, waren schon viele Menschen dort.

Alle standen und blickten besorgt auf den Fluß hinaus, der düster schaukelnd unter dem grauen Himmel lag, mit aufblitzenden weißen Kämmen auf den Wogen, die eine nach der andern heranrollten und sich gegen den Deich wälzten, der ihnen im Wege war, die einzige Wehr, die die Stadt vor dem Wasser schützte. Und dabei stand das Wasser jetzt so hoch, daß einzelne Spritzer bereits die Deichkappe netzten.

Wenn der Wind weiter so anhielt, mußte es ein Unglück geben. Wohin ich lauschte, hörte ich dieselben Befürchtungen und Sorgen.

»Wenn dat got geit,« sagte ein alter Mann mit langem grauem Barte und einer Schiffermütze auf dem grauen Kopfe, »wenn dat got geit disse Nacht, will ick nich Jan Marks heten. Son Dik holt allerhand ut, aber wat to veel is, is to veel.«

Hier und dort fing man bereits an, Sandsäcke zurechtzumachen und an die Deichkappe zu legen, um sie zu erhöhen und zu befestigen, falls das Wasser noch weiter steigen sollte.

Allenthalben waren Deichwachen aufgestellt. Das waren Leute in hohen, langschäftigen Wasserstiefeln, jeder mit einer Laterne, um sich während der Nacht damit Winke geben zu können, falls irgendwo Gefahr drohte.

Schauerlich, wie der Fluß aussah, nun die Dämmerung tiefer und tiefer sank. Schäumend und spritzend rollten die Wogen aus der Dunkelheit heran und klatschten gegen den Deich.

Niemand schien nach Hause gehen zu wollen. In Gruppen standen die Menschen beieinander und blickten auf das wilde Schauspiel hinaus, das ihnen der Fluß bereitete. Ängstliche, besorgte Gesichter überall.

Auch mir war nicht wohl bei alledem zumute. Angstvoll klopfte mir das Herz. Aber die ganze Größe der Gefahr begriff ich doch noch nicht recht.

Durchfroren und verweht kam ich endlich wieder zu Hause an, wo man mich bereits vermißt hatte. Als ich erzählte, wie es am Flusse aussehe, ging auch mein Vater noch hinaus, um nachzusehen, wie es stand.

Als er heimkam, brachte er die Nachricht mit, daß das Wasser seit einer Stunde langsam zu fallen beginne. Erleichtert atmeten wir auf, und alles ging zur gewöhnlichen Stunde zur Ruhe, ohne zu ahnen, was uns in der Nacht bevorstand. Wir Kinder schliefen damals in einer Kammer, die nach dem Hofe hinaus lag. Die Kammertür blieb während der Nacht offen, damit unsre Eltern hören konnten, wenn eines von uns unruhig werden sollte.

Es mußte bereits tief in der Nacht, lange nach Mitternacht sein, als ich von einem eigentümlichen Brausen, Gurgeln, murmelnden Poltern, Zischen und Sprudeln geweckt wurde. Ich setzte mich im Bette auf und lauschte.

Ganz deutlich hörte ich es jetzt. Es mußte aus dem Keller kommen.

Was – war – das?

Angstvoll lauschte ich in die Dunkelheit hinaus.

Mein erster Gedanke war: es sind Einbrecher im Hause! Von Furcht geschüttelt wollte ich mir gerade die Decke über den Kopf ziehen, als auch mein Bruder erwachte und mit mir lauschte.

»Wir müssen Vater und Mutter Bescheid sagen,« flüsterte er.

»Ja,« sagte ich, »aber ich mag nicht hin.«

»Ich auch nicht recht,« flüsterte er zurück. So lagen wir eine Weile und lauschten wieder mit angespanntem Atem.

Unvermindert drang noch immer das Geräusch zu uns herauf. Ja, es war jetzt stärker als vorhin. Es gurgelte, sauste, zischte und platschte, als ständen zehn Waschfrauen auf einmal im Keller am Waschfaß.

Zuletzt entschlossen wir uns, zusammen aufzustehen und unsern Vater zu wecken.

Ich bin tapfer mit aufgestanden. Aber an der Kammertür entsank mir das Herz. Über den Flur traute ich mich nicht. Mir war, als lange von der Kellertreppe her ein riesiger Arm nach meinen Beinen, um mich in den Keller zu ziehen.

Mit Geschrei stürzte ich in die Kammer zurück und ins Bett, wo ich vor aller Verfolgung so sicher zu sein glaubte wie in Abrahams Schoß.

Mein Bruder aber war tapfer über den Flur gelaufen und hatte unsern Vater geweckt. Ein heller Lichtschein fiel plötzlich aus der Kammer meiner Eltern über den Flur. Ich hörte die Stimme meines Vaters – und im Augenblick war alle Angst entschwunden. Ich kletterte aus dem Bett und folgte meinem Vater, der sich in aller Hast und Eile notdürftig bekleidet hatte, in den Keller.

Da sahen wir nun das Unglück: der ganze Keller schwamm von Wasser. Vom Hofe her zwängte es sich durch die Spalten und Fugen der hinteren Tür, bahnte sich gurgelnd und zischend seinen Weg ins Haus und hatte bereits alles so hoch überschwemmt, daß es meinem Vater bis an die Knie reichte.

Himmel, wie sah es im Keller aus!

Torfstücke schwammen auf dem Wasser, dort kam einer meiner alten Stiefel angetrieben, die in einer Ecke der Waschküche gestanden hatten, und da hinten trieb in einer Kiste, wie in einer Arche Noah, unsre alte Glucke, der mein Vater darin ein Nest zum Brüten zurechtgemacht und in den Keller gestellt hatte, damit sie recht ungestört ihre Eier aussitzen sollte.

Die Geschichte war zu spaßig anzusehen, und meine Angst von vorhin war wie weggeblasen. Schöner konnte es ja gar nicht kommen! Gab es einen Platz, wo besser zu spielen war, als da unten?

Ich gab einem Torfstück, das eben langsam an die Treppe herantrieb, einen Stoß mit dem Fuße, daß es mit ein paar andern zusammenstieß, die ihm nachgekommen waren, und das Wasser mir über den Fuß spritzte.

Aber so erfreut wir waren, so ernst war der Vater. Ihm war nichts weniger als heiter zu Sinne, und mit sorgenvoller Stirne sah er in die schwimmende Verwüstung.

»Mein Gott,« sagte er leise und schüttelte ernst den Kopf.

An Schlaf war in der Nacht nicht mehr zu denken. Wir patschten im Wasser umher und halfen dem Vater die Vorräte bergen, die im Keller lagerten, Kartoffeln und Torf, Kisten und Kästen, Werkzeuge und leere Säcke, die naß waren, wie gebrauchte alte Feudel, leere Flaschen und Töpfe und einen alten Salzsäureballon im Korbgeflecht, der halb leer war und nun dick und behäbig zwischen den übrigen Sachen herumschwamm, wie eine Entenmutter zwischen ihren Jungen.

Aber nach wenigen Minuten schickte uns der Vater wieder zu Bett. Das Wasser war doch kälter, als wir es uns hatten merken lassen wollen, und die Zähne klapperten uns im Munde.

Einschlafen aber konnten wir noch lange nicht. Das Ereignis da unten im Keller war zu groß und gewaltig, als daß wir hätten die Augen schließen können. –

Am andern Morgen hatte unser Vater eine richtige kleine Laufbrücke durch den Keller gelegt. Auf Backsteinpfeilern lagen Bretter, die als Stege bis an den Hofplatz hinausführten, wo das Geflügel in einem Käfig saß, der, um Platz auf dem engen Hofe zu sparen, auf Pfeilern errichtet war und so die Hühner vor dem Tode des Ertrinkens bewahrt hatte.

Beim Nachbar aber waren sämtliche Kaninchen in ihren Ställen ertrunken. Mit nassen, klitschigen Fellen lagen sie tot nebeneinander auf dem Dache ihres niedrigen Stalles.

Hinter unserm Hause, zwischen dem Deiche und unserm Hofe, breitete sich eine Wasserfläche aus, beinahe so groß und breit wie gestern der Fluß. Ein richtiges Meer war über Nacht entstanden und bespülte die Straße, die von unserm Hause in die Stadt führte und jetzt stellenweise ganz vom Wasser überflutet war.

Vorübergehende erzählten bald, daß der Deich eine halbe Stunde oberhalb der Stadt gestern nacht gebrochen sei. Ein Rattenloch, das am Ufer durch den Deich gegangen und übersehen worden war, sei die Ursache gewesen.

Am Nachmittag ging mein Vater mit uns zu der Bruchstelle hinaus.

Hunderte von Menschen waren dort beschäftigt, die Bruchstelle zu dichten. Es war ein Loch im Deiche, daß man gut ein großes Haus hätte hineinstellen können. Man hatte es bereits, so gut es gehen wollte, mit Sandsäcken abgedichtet. Und Hunderte von Neugierigen umdrängten die Stelle.

Am schlimmsten sah es im freien Felde aus.

Einige der niedrigen Bauernhäuser sahen nur noch mit dem Dache aus dem Wasser heraus, und die Bäume, deren Stämme gänzlich im Wasser steckten, sahen wie riesige Büsche aus. Von den Dächern der Häuser hatte man die Bewohner in Schiffen abholen müssen, und in vielen Häusern war das Vieh elendiglich ertrunken, wie die Kaninchen bei unserm Nachbar Steinmann.

Zu Hause aber war es in dieser Zeit noch interessanter als draußen am Wasser.

Auf der Laufbrücke, die mein Vater durch den Keller gelegt hatte, konnte man umherspazieren, wie auf einer Brücke in Venedig. Und zum Überfluß gab es auch eine Gondel da unten: Mutters großen Waschtrog, in dem man sitzen und mit einem Stecken von der Waschküche zum Torfkeller und von dort zur Speisekammer fahren konnte.

Es war wirklich schade, daß die Herrlichkeit zu Ende ging und das Wasser sich nach einigen Tagen wieder verlief.

Aber allerhand Erinnerungen ließ es doch zurück, die weniger angenehm waren: die Steine im Fußboden des Kellers hatten sich gelockert, die Wände waren feucht geworden und wollten lange Zeit nicht wieder trocknen, der Torf wollte nicht mehr brennen und mußte im Sommer zum Trocknen auf den Hof gebracht werden. Und an den Bäumen in der Umgebung der Stadt kann man noch heute sehen, wie hoch das Wasser damals gestanden hat. Die Rinde zeigt eine deutliche Narbe dort.

Eine Narbe habe ich aber auch selbst davon behalten.

Bei meinen Spazierfahrten im Keller hatte ich vorwitzig den Stöpsel von dem Salzsäureballon entfernt und neugierig in die Hand genommen. Eine tiefe Brandwunde auf dem Rücken der linken Hand, auf den einige Tropfen der scharfen Flüssigkeit gefallen waren, war die Folge davon. Und die Narbe von dieser Wunde und damit eine sichtbare Erinnerung an die Überschwemmung im Keller trage ich noch heute.

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