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Ein Opfer

Ich hatte es gekauft, als es noch nicht sechs Wochen alt war. Sein Fell war schwarz und glänzend, und seine Ohren waren weicher als Seide. Es blickte mit klugen dunklen Augen in die Welt, wurde »Hasi« gerufen und war nicht größer als zwei Fäuste, so daß man es bequem hätte in die Tasche stecken können. Wochenlang hatte ich mir schon eins gewünscht, aber die fünfzig Pfennig, die dafür erlegt werden mußten, waren immer noch nicht dafür übrig gewesen. Nun mein Geburtstag war, durfte ich mir eins kaufen und trug es, heimlich vor Freude bebend, nach Hause.

Als Stall diente ihm eine alte Kiste, die mit Heu weich gepolstert war. Eine kleine Tür war hineingeschnitten und die Oberfläche zum Schutz gegen den Regen mit Dachpappe benagelt. In der Tür saß ein enges Fenster aus Draht, durch das man Hasis kleines Näschen zuweilen sehen konnte, wenn das Tierchen schnuppernd vor der Tür saß und an den Kleeblättern naschte, die ich ihm gebracht hatte.

Das war übrigens die größte Schwierigkeit, die sich alsbald herausstellte. Ein Kaninchen war gar nicht so leicht zu ernähren, als ich es mir vorher hatte träumen lassen. Kleeblätter wuchsen in der Großstadt nirgend, und um ein paar Hände voll Gras zu rupfen, mußte man eine halbe Stunde weit laufen. Aber alles ging gut, bis in den Spätherbst hinein. Da fingen aber die Mahlzeiten an, kleiner und immer kleiner zu werden, trotzdem Hasis Appetit mit jedem Tage mehr wuchs. Es war nun schon ein prächtiges Kerlchen geworden, lang und schwer, und zuweilen war sein Hunger schier nicht zu stillen. Da aber nach dem ersten Frost und Schneefall bald nichts mehr draußen zu finden war, was ich ihm hätte heimbringen können, mußte sich Hasi zu meinem größten Schmerz mehr und mehr an minderwertige Kost gewöhnen. Besonders Kartoffelschalen waren ein Futter, das nichts kostete und immer zur Verfügung stand.

Sehnsüchtig hatte ich darauf gehofft, daß Hasi eines Tags Junge bringen werde. Aber meine Hoffnung war immer wieder schmählich zuschanden geworden. Jetzt im Winter freute ich mich darüber. Wie hätte ich so viele hungrige Mäuler stillen wollen, nun mir Hasi allein schon Sorge genug machte?

Ich hatte seine Stalltür mit einer Sackleinwand gegen die Kälte verwahrt, aber das Tier tat mir jedesmal leid, wenn ich seine Tür zum Füttern öffnete und es mir gierig schnuppernd die Nase entgegenstreckte, ich ihm aber nichts weiter zu bringen hatte als magere Kartoffelschalen, die in dem harten Winter dünn genug ausfielen, und selbst die, die im Hause Mine Rietmöllers abfielen, waren dünn genug.

Eines Tags half ich einem meiner Spielkameraden bei seinen Schularbeiten. Er war der Sohn eines armen Klempners, und in der Wohnstube, in der er seine Schularbeiten anfertigte, sah es armselig genug aus. Der Überzug des alten Kanapees, das hinter dem Tische stand, war so schlecht, daß hier und da aus den Löchern die graue Hede, mit der es gepolstert war, verräterisch genug herausschimmerte. Trotzdem ich häufiger in der Wohnung gewesen war, war mir die Armut meines Freundes eigentlich nie recht zum Bewußtsein gekommen. Ich hatte mit ihm gespielt wie mit andern Kindern und war immer gern mit ihm zusammen gewesen. In der Werkstätte seines Vaters, die unten im Keller lag, ließen sich allerhand Blechabschnitte sammeln, die wir uns abends, wenn unten nicht mehr gearbeitet wurde, mit der scharfen Blechschere zu allerhand Gegenständen zurechtschnitten, besonders zu Spielmarken, für die wir immer Verwendung hatten.

Wir waren an dem Tage, von dem ich erzählen will, mit unsern Arbeiten noch nicht ganz fertig geworden, als Hermanns Mutter uns plötzlich vom Tisch an die Fensterbank verwies, um den Tisch für das Mittagessen zurechtzumachen.

Ich wollte mich entfernen, wurde aber durch Hermanns Fragen über sein Exempel noch aufgehalten. Als ich ein paar Minuten später das Zimmer verließ, saß die ganze Familie bereits am Tisch, und ich sah, daß es mittags nichts weiter als trockenes Schwarzbrot gab, dessen Brocken in eine Untertasse getunkt wurden, die, mit Salz gefüllt, für alle erreichbar mitten auf dem Tische stand.

Wie Schuppen fiel es von meinen Augen, und ich kam unglücklicher und verwirrter nach Hause als je.

Als ich in die Stube trat, sah mich meine Mutter prüfend an, strich mir dann mit der Hand über die Backe und fragte leise: »Was ist dir denn?«

Nun konnte ich mich nicht mehr halten. Die Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich verbarg meinen Kopf in ihrem Schoß und weinte mich aus.

Es dauerte Minuten, bis es stockend aus mir herauskam, was ich beobachtet hatte.

Sie strich mir wieder und immer wieder über das Haar und sagte endlich mit leisem Seufzen: »Ja, siehst du, so ist das Leben.«

Das Wort durchzuckte mich wie ein Blitz, und zum erstenmal kam mir eine Ahnung davon, wie grausam das Leben sein kann.

Ich sah meinen Freund von dem Tage mit einer Art von scheuer Ehrfurcht an. Was für ein Held war er, ein Held im Dulden und Entbehren! Wenn es bei uns auch wohl mitunter schmalen Tisch gab, so jammervoll wie bei ihm zu Hause war es doch bisher noch nicht bei uns gewesen.

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich es eigentlich getan habe. Ich glaube, mein Mitleid ist zu stark gewesen und meine Scham, nicht helfen zu können, zu groß – genug, ich mied meinen Freund von dem Tage an. Erst nach Wochen, als der Frühling bereits vor der Tür stand, die ersten Stare wieder von den Dächern pfiffen und die Nahrungssorgen um meinen Hasi sich ihrem Ende näherten, ging ich eines Tags mit Hermann wieder gemeinsam von der Schule nach Hause.

Unterwegs fragte ich ihn nach seinem Kaninchen, das ein Zwillingsbruder von dem meinigen war, und das er nur wenige Tage später als ich geschenkt bekommen hatte.

»Ich habe es nicht mehr!« stieß er auf meine Frage heraus und wendete den Kopf zur Seite.

»Du hast es nicht mehr?« wiederholte ich verwundert.

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

»Wo bist du denn mit ihm geblieben?«

»Ich hab' es verschenkt.«

»Wirklich? Wem denn?« fragte ich, immer verwunderter. »Du hast das Tier doch so gern gehabt.«

»Zu Weihnachten hab' ich's meiner Mutter geschenkt.«

»Deiner Mutter? Ja, was soll denn die damit?«

»Frag' doch nicht so dumm!« herrschte er mich darauf an. »Vater hat's geschlachtet und wir haben's zu Weihnachten gegessen, was sonst?«

Ich war starr. Kein Wort konnte ich herausbringen.

»Und von dem Pelz hat mein Bruder 'ne Wintermütze gekriegt. So, nun weißt du's!«

Ja, nun wußte ich es.

Bedrückt ging ich nach Hause und schlich in den Hof zu meinem Hasi, um ihm Futter zu reichen.

Liebkosend fuhr ich ihm über das seidenweiche schwarze Fell. »Gut, daß du nicht in die Küche zu wandern brauchst!« flüsterte ich ihm leise zu, als könne das Tier mich verstehen, und dachte an den armen Hermann, der das seine der Mutter geschenkt hatte, weil es sonst vielleicht zu Weihnachten wieder nichts weiter als Schwarzbrot und Salz auf dem Tische gegeben hätte.

Was für ein kleiner Held er doch war! Wie der verzichten konnte!

Und wenn er auch seine Schulaufgaben mitunter nicht so glatt löste, wie der Lehrer es verlangte – ein Held war er doch!

Ob ich es auch fertigbringen würde, meinen Hasi schlachten zu lassen, wenn es nötig sein würde?

Ich weiß nicht, ob ich mir damals eine Antwort darauf gegeben habe – aber das Weihnachtsopfer meines Freundes habe ich heute noch nicht vergessen. Und wenn mich einmal Mißmut und Niedergeschlagenheit beschleichen wollen darüber, daß die Dinge sich so wenig unsern Wünschen fügen, die Göttin des Glücks immer wieder lächelnd an unsrer Schwelle vorübergeht, und vor so manche Freude ein bitteres Verzichten gestellt ist – so fällt mir zuweilen der arme, blasse Junge aus meiner Kinderzeit wieder ein, der so groß im Verzichten war, daß er die einzige Freude seiner Knabenjahre ohne Murren opferte, als es nötig war. Dafür ist sein Opfer aber auch nicht vergeblich gewesen. Mich segnet es heute noch.

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