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Am hohen Vormittag des nächsten Tages kam ein eleganter Herr nach der Villa, ein »Bekannter« Jan van Kerken. Nachdem er vergeblich versucht hatte, unauffällig einzudringen, zeigte er die Erkennungsmarke der Fahndungspolizei.
Das Haus war verkauft, die Bankgelder waren behoben. Bei Halle wurden große, nur scheinbar gefüllte Koffer Jan van Kerkens aus dem Expreßwagen geholt, die Salzburg als Endstation bezeichneten. Jede Spur war verwischt.
Zur gleichen Zeit war Jan unterwegs nach der holländischen Grenze. Er fuhr im Anzug eines Arbeiters, machte nicht viel Wesens von sich, rauchte eine kurze Pfeife elenden Tabaks. Gerade jetzt, wo die Hetzjagd beginnen mußte, wo sie von Berlin aus hinter ihm her waren und alles sich in ein Abenteuer verwandelte, war er auf der unbeirrbaren Fahrt nach der Ehrlichkeit. Seine Visa stimmten.
Am Spätnachmittag fuhr er bereits in einem Bummelzug an dem altertümlichen Schlosse der Oranier vorbei. Unauffällig verließ er den Zug, wenige Stationen vor der Grenze. Als die Nacht feucht und schwarz aufstieg, schlich er umständlich und ungesehen über Aecker und Feldwege nach Holland.
Jan packte den unsichtbaren Feind, der sein Leben zerquälte, im Frontalangriff. Geradewegs ging er auf das Geheimnis los, das er seit er vom Meere gekommen war, mit fiebernder Angst gemieden hatte.
Nachts umgaukelten ihn Träume von froher Zweisamkeit und friedlichem Menschentum. Tagsüber fuhr er auf kleinen Strecken, umging große Städte zu Fuß und bewegte sich dann von kleinen Stationen wieder weiter, mißtrauisch entschlossen, doch ohne Furcht.
Es war dumpf in dem Abteil seines schlechten Wagens, den eine mühselige, kleine Lokomotive auf schlechtem Schienenmaterial überdrüssig schüttelte. Jan hattet eine Ecke um sein Ziel geschlagen, weil er den großen Bahnhof vermeiden wollte.
Er glaubte sich noch weit vom Ziele und sehnte sich nach einem Atemzuge frischer Luft.
Nachlässig hakte er den Zugriemen der Fenster aus. Als er sich hinausbeugte, roch er die Heimat. Es war die Luft Antwerpens, die Luft seiner schönen, vergeudeten Jugend, der Frühling, der ihn in diesem Gemisch von Salzluft und Erdgeruch entgegenflatterte, trotzdem es Herbst war und die breitflächigen Aecker ihre Kahlheit nicht mehr verbargen. Heimatwind trieb den bläulich-braunen Kanalspiegeln den silbernen Friesel auf den Rücken, blähte schwerfällige Segel. Heimatwind umfing ihn zum ersten Male wieder, fuhr ihm durch Rock und Weste, als wollte er ihm die Taschen umkehren und fragen: Was bist du denn für ein Kerl geworden?
Bei der nächsten Station stieg Jan aus und wanderte mit langen Schritten der unvergleichlich schönen Silhouette Antwerpens entgegen.
In einem kleinen Gasthof verbrachte er die Nacht. Niemand legte ihm den Meldezettel vor. So schlief er müde und traumlos, denn der Gegensatz seiner Empfindungen hatte die bereiten Bilder des Traumes von seiner Seele genommen.
Am nächsten Morgen ging er zu einem Rechtsanwalt und bat ihn festzustellen, ob es hier in der Stadt einen Mann namens Jan Traberg gäbe. Er nannte das Wohnviertel, wo er ihn zuletzt vermutet habe, und erstattete die Auslagen im voraus. Dann ging er vorsichtig in den kleinen Gasthof zurück.
Spät am Abend schlich er sich wieder in die Kanzlei des Rechtsanwalts. Freundlich nötigte ihn der alte Herr auf einen Stuhl, verschanzte sich hinter den Schreibtisch, der durch Aktenbündel blockiert war, und putzte sich mit einem weißen Tüchlein die scharfen, goldgeränderten Gläser.
»Es ist nicht viel, was ich Ihnen mitteilen kann, Herr Jan van Kerken«, sagte er trocken. »Sie werden Ihre Forderung gegen Jan Traberg nicht mehr geltend machen können.«
»Ich verstehe das nicht ganz«, erwiderte Jan van Kerken.
»Die Sache ist sehr einfach«, entgegnete der Anwalt. »Jan Traberg ist auf Antrag seiner entfernten Verwandten für tot erklärt. Er hat, von Zeugen gesehen, Selbstmord begangen, lief ins Meer. Sonderbare Neigung! Es gibt also keinen lebenden Jan Traberg mehr.«
Jan saß auf seinem Stuhl wie mit Nieten festgebolzt. Beinahe hätte er aufgeschrien: »Es gibt einen Traberg, es muß wieder einen geben und wenn ich meine Dokumente aus dem Zuchthaus holen muß.«
Aber er wagte sich nicht heraus aus seiner Verborgenheit.
Es war ein sonderbares Gefühl, lebendig auf einem Stuhle unter Menschen zu sitzen und dennoch tot zu sein, ein Gefühl des Grauens, das die Adern in Frost und Hitze tauchte, zugleich lähmte und zum Widerstand aufreizte.
Vielleicht lag eine Verwechslung vor. Wie durch einen Schleier hörte er den Rechtsanwalt sagen: »Sie erleiden wohl bedeutende Verluste durch diesen Traberg?«
Jan fühlte, daß er sich keine weitere Blöße geben durfte und sagte obenhin: »Man muß es nehmen, wie es kommt. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Bemühungen.«
Schwerfällig stand er auf, gab dem Anwalt die Hand und stieg langsam über die Treppen hinunter in die durchleuchtete Nacht der Straßen. Viele Stunden lang irrte er durch abgelegene Gassen, verlassene Grachten, in denen die Schuiten wie Perlschnüre aneinandergereiht, den bewegungslosen Wasserspiegel verdeckten.
Lagerhäuser gähnten. Nachtstille – Menschenkasernen drohten. Einsam hallende Schritte schreckten, eigenes Spiegelbild entsetzte. Das Menschliche seiner Seele flackerte an die Grenzen einer irren Welt.
Wieder verschlang Jan die niedrige, übelriechende Tür des kleinen Gasthofes. Bleierner Schlaf sargte ihn ein.
Graue Dämmerung schreckte ihn vom Lager. Oed glotzte sie durch die Fenster. Nichts regte sich im Hause.
Es war sonderbar, daß man das Schreien einer Seele nicht hören konnte, daß nichts Helfendes aus irgendwelchen unerkannten Kräften erstand, kein rettender Gedanke aus den Sinnen sich formte. Nur der graue Tag glotzte durch die breiten, verbleiten Glasscheiben und machte sie feucht und trüber.
Vielleicht hatte der Anwalt sich geirrt? Vielleicht gab es mehrere Trabergs.
Ein zögernder Gedanke wurde gebieterisch. Jan legte sich in die Kissen zurück und zählte die Stunden. Er segnete dieses bescheidene Haus, in dem es keine Meldezettel gab.
Zur Amtszeit verließ er es.
Jan tauchte im lebhaften Verkehr des Einwohneramtes unter, und gab durch einen nüchternen Schalter einem jungen Menschen auf einem Zettel den Namen Jan Traberg – mit genauem Geburtsdatum und Angabe von Nummer und Straße, die sein Vaterhaus bezeichneten.
Der junge Mensch mit ausdruckslosem Gesicht machte sich an den Registern zu schaffen, suchte mit den Augen das Alphabet der Bilder ab und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht bei den Verstorbenen«, rief ihm ein Kollege zu.
Der junge Mensch folgte dem Ruf und machte sich in einer anderen Ecke zu schaffen. Dann trat er zum Schalter und sagte höflich, gleichförmig: »Jan Traberg ist amtlich als tot beurkundet.«
Jan durchrieselte wieder das seltsame Gefühl, lebendig zu den Toten geworfen zu werden. Höflich und leise sagte er: »Würden Sie mir das schriftlich geben? Jan Traberg war ein Bekannter von mir und mir liegt daran.«
»Sehr gerne gegen die fälligen Gebühren«, erwiderte der junge ausdruckslose Mensch.
»Nehmen Sie Platz, Ihre Nummer wird aufgerufen.«
Er drückte Jan ein rundes Metallblättchen mit einer Nummer in die Hand.
Jan setzte sich auf die Bank und sah auf die Nummer in seiner Handfläche. Ganz blank war sie. Ihre Ziffern waren hart und mitleidslos in das Metall gestochen.
Ohne Zeitgefühl saß Jan in diesem nüchternen Räume. Dann hörte er seine Nummer rufen, zahlte seine Gebühr und hielt die amtliche Bestätigung in der Hand, daß er tot sei.
Jetzt mußte er, dessen sich wohl niemand so recht entsann, weil er immer gerne zwischen Unbekannten gelebt hatte, den Nachweis führen, daß er wirklich Jan Traberg war, der Lebende gegen den Toten, den er hier in der Hand hielt.
Jan fühlte mit Grauen, daß dieses amtliche Papier stärker war als er.
Nicht lange, so würde ihm auch der Name van Kerken abgesprochen und es blieb ihm nichts, womit er sich bezeichnen konnte, nichts als die ungenügende, allgemeine und deshalb in allen Strafgesetzen der Welt zu ahndende Bezeichnung »Mensch«.
Das Tier hat seinen Namen und trägt ihn auf dem Leibe. Der Mensch aber trägt seinen Namen wie unsichtbares Gewand, das von andern erst bestätigt werden muß. Deshalb ist der Name »Mensch« allein so furchtbar für einen Menschen, und wenn er gleich friedlich unter vielen einhergeht.
Mit solchen Gedanken schlich Jan blaß und verstört aus den Amtsstuben in seinen Gasthof zurück. Wieder schluckte ihn das niedere, von Küchendünsten umhauchte Tor.
Er stieg mühsam die Treppen zu seinem Zimmer empor, von dem der graue Tag nun ganz Besitz ergriffen hatte, warf sich auf sein zerwühltes Bett und blieb ohne Bewegung liegen, bis es dunkel wurde. Als er in der verräucherten Gaststube dann einen Imbiß hinunterquälte, schob ihm der Wirt einen Meldezettel neben den Teller.
Jan machte ein gleichgültiges Gesicht und sagte: »Ich hätte beinahe vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich weiterreise.« Er bezahlte den Wirt reichlich, nahm seinen fadenscheinigen Mantel und seinen abgegriffenen Hut und irrte in den Straßen umher, bis ihn eine andere Spelunke aufnahm.
Der Morgen nach dieser trüben Nacht traf ihn mit einem neuen Entschluß.
Ein wenig Sonne kam herein und malte einen bescheidenen, warmen Strich auf den dunkel gebeizten bretternen Boden seiner Schlafkammer. Jan sah in einen kleinen, halb erblindeten Spiegel über dem Waschtisch und wurde dieser armseligen Sonne ein wenig froh.
Hastig machte er sich fertig, bezahlte und verwandelte sich in dem nächsten Kleidermagazin in einen einfachen, sauberen Bürger, fühlte sich, bis er wieder mit einem Griff in seine Brieftasche an seinen eigenen Totenschein rührte, behaglich.
Er fuhr nach Delft.
Die Stadt war nicht so groß, daß er es hätte wagen können, nach sich selbst zu forschen, sich endlich einmal kennen zu lernen, wie er in den Büchern jener Stadt verzeichnet war. Aber er hatte auch keine Zeit, immer wieder aufzuschieben, was getan werden mußte.
Wie ein ferner Traum stieg das Bild Theas vor ihm auf. Ihre Augen blickten ihn an, die nicht nur Mut, sondern auch Bekenntnis zur Wahrheit verlangten. Lebensblanke, kühle Augen, die doch so seltsam aufstrahlen konnten.
Not, Elend, Abenteuer, Genüsse des Lebens, Geld, Bedeutung – alles war ihm begegnet, aber ein Frau, die mit ihm fühlte, war ihm nur ein einziges Mal über seinen Weg gegangen. Ihr fühlte er sich hemmungslos verbunden.
Auf einem Schild las er das phrasenreiche Wort »Argus Matschappi«.
Vielleicht ging es so. Eine Detektei, die man bezahlte, war keine Polizei. Ohne Zaudern ging er über enge Stiegen in ein weites Zimmer. Der Chef fragte nicht nach seinem Namen, nur nach seinem Auftrag. Jan deutete an, daß er in einer Sache, die nicht spruchreif sei, einen Identitätsnachweis benötige. Wenn möglich, sei auch das Bild eines Jan van Kerken zu beschaffen, der hier geboren sei. Er wolle sich nicht lange in der Stadt aufhalten, weil er Geschäfte habe. Die Sache sei auch nicht so weltbedeutend, um den Aufschub der Weiterreise zu rechtfertigen. Jedenfalls bezahlte er gut.
Der Detektiv, ein kleiner, blonder Herr, sagte, er habe ausgezeichnete Verbindungen mit den Behörden. Im Laufe des Nachmittags könne er das Gewünschte erhalten.
Wieder stand Jan van Kerken auf der Straße und schritt in langsam schleichenden Stunden die ausdruckslosen Häusergevierte ab, schob sich gleichgültig zwischen Menschen und Dingen dahin, bis ihn mit dem rückenden Zeiger das ausdruckslose Schild mit der Aufschrift »Argus« wieder anzog.
Der Detektiv empfing ihn liebenswürdig.
»Das Gewünschte«, sagte er verbindlich, »ist zur Stelle. Im Duplikat seines Passes fand sich auch sein Bild. Wir haben in der Eile einige Abzüge davon machen lassen. Sie können sie gleich mitnehmen, doch ist ein Zuschlag für diese Mühewaltung noch fällig.«
Jan zählte mechanisch die Scheine auf den Tisch.
Als er den Abzug an sich nahm, grinste ihm das unsympathische Gesicht van Kerkens, des anderen, entgegen, vor dem er aus Wien geflohen war. Jan beeilte sich, aus dem Hause zu kommen und ging einem stillen Parkwinkel zu, wo er seine innere Erregung zu meistern versuchte.
Es stand fest, daß er jetzt ein Mann ohne Namen war und daß sich ihm auch der erhoffte Ausweg verbaute.
Jan vergrub das Gesicht in den Händen und verfiel in einen gleichmäßig bohrenden Schmerz.
Es wurde kalt.
Wenn er hier sitzen blieb, kam vielleicht ein Wachmann und fragte ihn aus. Was hatte er in Delft zu suchen? Für ihn war es am besten in irgend einer Wildnis, in der kein Mensch war.
Aber vielleicht gab es doch noch einen Weg. Ehe er seine Möglichkeit noch selbst zugeben mochte, klammerte er sich schon an ihn. Wie ein phantastischer Traum, eine letzte Möglichkeit des Entrinnens, tauchte die Stadt der tausendfältigen Listen und Verzeihungen in seinen Gedanken auf: Rom.