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13.

Vor allem nicht Schnellzug, sagte sich Jan. Er sah sich ein letztes Mal mißtrauisch auf dem Ostbahnhof von Budapest um. Jan wollte jene stillen beobachtenden Zivilisten loswerden, die gleich ihm ein harmloses Dasein führten, und nicht schon zur Begrüßung an der Grenze seine Visitkarte von Moskau präsentiert wissen. Die Luft hing voll von Abenteuern. Ein gemütlicher Bummelzug, gar nicht für ein so fernes Ziel bestimmt, zog ihn durch grüne Ebene, ins tischglatte und fruchtbare Land.

Ein Haken nach Arad, lustiges Versteckspielen im Siebenbürgener Land, fröhliche Weinlandfahrt durchs Tokayer Gebiet, dann kühles, mißtrauisches Hindurchschlüpfen bei Miskolcz auf einem Karpathenzug. Links und rechts ein Gemisch von Deutsch, Polnisch und Ruthenisch, draußen vorbeigleitende waldverwunschene byzantinische Kuppelkirchen – und schon stand er in dem Spionengebrodel Lembergs, wo der verwahrloste Sieger auf dem zerbrochenen Oesterreich wie Gras auf einer Ruine saß, von jedem Windhauch der Meinungsänderung hin- und herbewegt.

Nach langweiliger, endloser Fahrt über Stanislau und Jezupol befreite ferne Sicht auf Czernowitz. Mit Kuppeln, Türmen und Zinnen wie ein Traum aus Tausend und einer Nacht stieg es aus den endlosen Weidendschungeln des inselreichen, stürmisch fließenden Pruth empor.

Letzte europäische Kultur streckte die Hände nach verlorenen Brüdern ostwärts. Halb asiatisches Gewimmel brodelte im Bahnhof auf den Steigen. Noch immer reichten Goethe und Schiller auf weißem, marmornem Denkmal vor dem Stadttheater in Czernowitz sich die Hände, noch immer gab es Geldniederlagen, die blind wie Justizia die Gelder empfingen und bewahrten, noch immer ruthenische Bauern, die der Rubel beschwingte.

So fand Jan seine Bank und seinen Ruthenen mit schmierigem Schafspelz und ärmlichem Wägelchen.

Zu frisch-fröhlichem Abenteuer rollte er über den Pruth, packte die in Sadagora bei den verfallenden landwirtschaftlichen Instituten der ehemals deutschen Universität Czernowitz seinem Ruthenen ab und klomm, mit Proviant Versehen, im Schafspelz wie ein Einheimischer die Hügel empor.

Alte verfallene Prügelwege deutscher Artilleriestellungen, übergrünte Trichterfelder blieben zurück. Im undurchdringlichen Urwald, zwischen Vorhängen von Schlinggewächsen und wildem Hopfen und einem Gewirr von dünnen Stämmen, deren ungesunkene Laubschöpfe unentwirrbare Gitter bildeten, drang er langsam vorwärts. Als es dunkel wurde, nächtigte er unter einer breit ausladenden Fichte.

Ueber Einöden und wüstes Feld ging der Weg der nächsten Tage. Ein eingeschnittener Bach zog durchs Gelände, gegen Sicht gedeckt. Jan hielt sich an ihm entlang. Er wußte nicht, war er schon über der Grenze oder kam er erst an sie heran.

Ahnungslos bog er um eine alte, aufgerissene Weide.

Da stand ein roter Soldat und versperrte ihm den Weg mit vorgehaltenem Bajonett und rauhem Lachen: »Kein Weg!«

Jan zeigte den Paß. »Versteh nix Paß«, sagte der rote Soldat und lachte. Unbeirrt fragte Jan nach der »Grenzgebühr«. Jetzt horchte der Soldat auf. Jan legte ihm Rubelscheine auf die Hand, bis er sie schloß. Mit rauhem Lachen warf der Bolschiwik sein Gewehr am Riemen über und ging mit ihm landein. Nach Verhandlungen in der schmierigen Wachstube des Dorfes mit einem verwilderten Kerl erhielt Jan einen Grenzschein.

Mit der Schar der Namenlosen glitt Jan auf den wenigen Bahnen durchs Land. Es war immer dasselbe Bild innerer Zerstörung, ob er im schiffreichen Odessa sich umsah, in Balta, Tiraspol oder Jelizawetgrad weilte, ob er durch die verstummten Kirchen Kiews oder die bolschewistischen Brutstätten Charkows schlich, im Fischgestank der Küste des Asowischen Meeres oder an den kolonisierten Ufern der Beresana wanderte. Hier rauften sie sich um Meersalz, dort um Fische. Hier bekämpften sie sich mit den Mitteln des Terrors, um kleine, schmutzige Geschäfte zu machen, dort zerstritten sie sich über Theorien, die sie nicht verstanden und Dinge, die sie nicht besaßen.

Ein unsägliches Gewirr von Gedanken und Meinungen durchströmte die russischen Flüsse, die zum Schwarzen Meer wollten. Die uralten Melodien der Schifferlieder paßten so wenig zu den rauhen Rufen der Flößer, die beinahe wie halbe Tiere auf ihren nassen, schmutzigen Langholzschleppern herunterglitten, wie das Glockengeläute der unzähligen russischen Kirchen zu den wilden bolschewistischen Liedern, die nichts mehr gelten lassen wollten und letzte Schranken der Menschen zerrissen. In den Aemtern saßen, die den Raub am Staate verstanden und Gewalt übten wie der Zar. Vor Zäunen und Bahnhöfen schlummerte das Volk wie ein Klumpen müder Fledermäuse. Aus wirren Haufen von Kleidern und Tüchern bückten müde, gleichgültige Gesichter, stumpf und glatt. Das Hirn der Menschen faßte die neue Sorge nicht mehr.

Wenn das Beschaute und Erlauschte in Jan überquoll, daß er Gefahr lief, es nicht mehr zu behalten, fuhr er durch die sonnigen Ebenen, die hundertfältig Frucht bringen konnten und doch in Leid und Armut verdorrten, seine alte Straße zurück, überwand den Dnjestr und schlich durch seinen Urwald in den gesicherten Bereich europäischer Kultur, um mit geheimen Zeichen von Czernowitz seine Berichte abzusenden.

Halbwegs kam ihm immer ein Feiertag entgegen. Ganz verhangen von Gestrüpp, wildem Hopfen und überschießenden Zweige stand im Walde der Rest einer Hütte. Still war es da. Keinen Menschen gab es, der wehtun kannte. Kein Stück Habe oder Land, das einer begehren mochte, kein Leid, das jemand zufügen mochte, nur eine warme, freundliche Folge von Sonnenstrahlen regnete durch das unendliche Blätterdach auf die kleine Wiese, die sich schüchtern in dieser ungeheuren Oede behauptete.

Jan van Kerken saß neben dem aus Steinen geschichteten Herd auf einem Holzblock und wärmte sein Mahl. Ein schräger Sonnenstrahl suchte auf dem Boden und stach gegen das Halbdunkel des Raumes merkwürdig aufreizend ab.

In einigen Monaten war es Winter. Dann würden die Wölfe von den unendlichen Steppen herüberstreifen. Ihr heiseres Gebell würde nachts zwischen den frostklirrenden Stämmen stehen. Ihr Gesang in mondlosen Nächten war der große bolschewistische Haßgesang der Kreatur gegen das Raubtier Mensch, das in dieser Hütte nur in einem einzigen Exemplare saß, das hier durchkommen und seine geheime Arbeit auf verborgenen Pfaden verrichten mußte, um sich lebend durch die Welt zu schlagen.

»Raubtier Mensch!« bellten sie, »Raubtier Mensch!« schrien auch die Ukrainer. Die einen, die draußen saßen in Europa und leichtsinnig oder wütend, spartanisch zögernd oder mit raschen Würfeln um das Glück ihre geflüchtete Habe verpraßten und die anderen, auf denen das Gespenst eines immer drohenden Bedrückers seit alter Zeit mit Knute und Entrechtung lastete.

Jan van Kerken versteckte sich tiefer in seine Gedanken.

Wo war seine Sendung? Wem diente er? Welcher Freiheit? Wo war der wirklich Bedrückte, wo der Teil des Volkes, dem die Freiheit als Göttergeschenk zufallen mußte, als ein Geschenk aus den Wolken, zu denen sie reinen Herzens gefleht hatten, daß sie den Gerechten trauen möchten.

Was begannen seine Auftraggeber mit seinen Berichten? Was begannen die Ukrainer drinnen mit seinen Rubeln, die er unter sie streute und mit der Sehnsucht nach Freiheit, die er in ihnen weckte. Wer weiß, welcher Art die Freiheit war, die auf diesem Wege kam.

Nachdenklich vergrub er den Kopf in den Händen und fühlte an ihren derben Flächen die Verwüstung seines Daseins. Wilde Stoppeln stachen ihn. Unwirtlich mochte er aussehen. Ungepflegt, übernächtig und dunstig roch es um ihm. Dieses halbzerfetzte Zeug war seine »Berufskleidung«, die er gerne mit Behagen vertauscht hätte. Hatte man ihn nicht wie einen Hund losgelassen, dem man einen Proviantkorb an den Hals hängt? Wie einen Verzweifelten, Wegelosen, Aufgegebenen, dem man ein Stück Geld hinwarf, damit er sein Leben für fremde Habsucht einsetze.

Die Freude und der kurze Freiheitsrausch, in dem er neu aufgelebt war, schwand dahin.

Als die Sonne mit letzten Strahlen über den Kamm des Urwaldwuchses ihr Feuer noch einmal auf letzten Flecken in grünem Grunde aufglühen ließ, ging er in die Hütte, lehnte die moderigen Bretter vor den Eingang, schüttelte das Waldheu, das er selbst von der Wiese gerauft hatte und das anfing, moderig zu duften, durcheinander und verkroch sich.

Schwere Träume kamen über ihn und quälten. Er fuhr auf endlosen Ebenen, schrieb endlose Briefe und immer war ein langgezogenes winselndes Weinen um ihn, immer ein müdes Erkennen sinnlosen Spiels. Etwas wuchs über ihn herauf, groß, überschattend. Der rote Soldat, der ihm den Weg in die Ukraine freigegeben hatte stand überlebensgroß vor ihm und schrie ihn an: Heda! Wach auf! Gib mir den Grenzschein wieder! Du darfst nicht noch mehr Leid häufen! Es ist genug! Uns kannst du nicht helfen. Ich bin kein roter Soldat, ich bin ein Bauer, den sie pressen, immer pressen, einerlei, wer regiert. Der Bauer braucht Boden, aber nicht eure Politik. Warum hast du kein Land? Warum bist du nicht wie Menschen, sondern wie ein Wolf! ...«

Jan schreckte auf. Es war doch so einfältig. Noch sah er die großen Umrisse der Figur im Raum, noch dröhnte die Stimme nach, dieses abgrundtiefe »Geh!«, aus einer Hölle von Leid hervorgeflossen. – Nein, so sprach kein Soldat! So begehrten seine eigenen Gedanken auf, seine Jugend, sein Recht auf sich selbst, seine endgültige Besinnung auf Menschenwürde ... »Wirf ab die Last!«, seufzte der Knabe in ihm, der nie die Träume seiner Jugend wahr gesehen hatte.

Ja, es war Zeit zu gehen. Er brauchte sich nur von der Erde aufzuheben. In der Hütte war nichts, was wert war, auch nur in die Hand genommen zu werden. Der Morgen war noch weit, der Mond stand mit mattem Silber hoch und klein über dem Walde.

Ohne Gefühl und besonderes Nachdenken griff Jan unter das Dach zwischen die Steine und packte die scharf geschliffene Handaxt. Ohne sich umzudrehen ging er in den Waldschatten. Nur das Krachen der Aeste war hörbar.

Jan ging den schweren Weg, um Mensch zu werden. »Kann ich ein Mensch werden?« fragte er sich, »ein friedlicher, einfacher Mensch?«

Als der Morgen heraufdämmerte, stand Jan auf dem Höhenrand über Sadagora, verwandelte sich in seinem Unterschlupf in einer Hütte, und war zwei Stunden später schon in Czernowitz.

Hatte er nicht lange genug sein Leben aufs Spiel gesetzt? War sein Auftrag denn zeitlich begrenzt? –

»Raubtier Mensch!« warnte es in ihm, »Raubtier Mensch!« »Nur einmal noch«, sagte er. »Es ist nicht gegen das geschriebene Recht. Es ist nicht gegen das moralische Recht.« »Raubtier Mensch!« warnte es in ihm.

Entschlossen schritt Jan auf die Bank zu, in der er sein Geld deponiert hatte und nahm es an sich. Dann ging er nach seinem Unterschlupf und wechselte Anzug und Gestalt.

Als er die Straße betrat, schrie es in ihm auf: »Du hast die Freiheit verraten!« Jan kehrte der Stadt den Rücken und ging die Bergstraße herunter zum Bahnhof.

Der nächste Zug ging nach Lemberg – –.

Das hieß Deutschland, hieß Berlin.


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