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Ein Winternachmittag

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Über den beschneiten Dächern und Straßen der Stadt lag die bläuliche Dämmerung eines heiteren, klarkalten Winternachmittags.

Es war Sonntag, zwischen dem Christfest und dem neuen Jahr. Die Kirchenglocken tönten zum Schluß des Gottesdienstes von den hohen Türmen herab, durch die Häuserreihen lugte das bleiche Winterabendrot, und hoch am Himmel, gerade über dem gefrorenen Fluß, der die Stadt durchschnitt, stand die silberklare Sichel des Mondes.

Auf dem Flusse tummelte sich jung und alt. Alles flog und schwebte, tanzte, purzelte und lachte; man sah Studenten in ihren bunten Mützen, junge Dämchen im neuen Weihnachtsstaat, schmucke Offiziere – vor allem aber Scharen von Kindern, arme und reiche, Buben und Mädchen, alle noch überglücklich vom Zauber des Weihnachtsfestes, und alle mit etwas angetan, was das Christkind ihnen gebracht, sei es ein neues Federhütchen, eine neue Jacke oder das blanke, neue Schlittschuhpärchen an den flinken Füßen.

Am seligsten sah ein kleines Mädchen darein, ein blasses, liebliches Ding, im dunkelroten, grauverbrämten Sammetkleidchen, das von einem rotbäckigen Jungen in einem eleganten Stuhlschlitten gefahren wurde. Eine warme Pelzdecke bedeckte die Kniee der Kleinen; das zarte Geschöpfchen sah aus, als ob es nur dazu da sei, ganz besonders geliebt, gepflegt und geschützt zu werden.

In der Tat, Evchen Horstner war ein bleiches, kränkelndes Röschen inmitten eines bunten, strotzenden Blumenbeetes; von fünf gesunden, kräftigen Geschwistern war sie die jüngste und die einzige, die durch Kränklichkeit und Gebrechlichkeit ihren Eltern Sorge machte. Daß sie jetzt im Schlitten wie ein verzogenes Prinzeßchen dahinfuhr, war nicht Trägheit oder Bequemlichkeit; Evchen konnte schon seit vier Jahren nicht gehen, kaum ein paar Schrittchen, von einem Ende des Zimmers zum anderen. Sie hatte als dreijähriges Kind plötzlich zu hinken angefangen, und aus diesem anfangs leicht genommenen Übel hatte sich ein langes, schmerzhaftes Leiden entwickelt, welches das arme Ding oft wochenlang im Bettchen zu liegen zwang. Die Ärzte hatten zuerst Heilung versprochen, aber Jahr um Jahr verging, und trotz aller Badereisen und Kuren wurde das arme Beinchen nur immer steifer und schmerzte bei Gehversuchen nur immer mehr.

Es war ein großer, großer Kummer für Evchens Eltern. Welch ein Glück, daß das kleine Mädchen so geduldig, so herzig und freundlich war! Sie hatte immer noch ein Lächeln des Trostes für ihr besorgtes Mütterchen, und niemals kam eine Klage über den kleinen, bleichen Mund, obwohl Evchen infolge ihres Leidens ja vieles entbehren mußte, namentlich alle die lustigen Vergnügungen im Freien.

Nur einmal hatte Bruder Arnt sie heimlich weinen sehen.

Das schöne Haus, in dem Landrat Horstner mit den Seinen wohnte, lag nahe am Fluß, und seit der Winter nun mit Schnee und Eis und lichtblauem Frosthimmel eingezogen war, tönte von der schimmernden Eisfläche tagaus, tagein so übermütiges Lachen, so heller Kinderjubel und so lockende Musik herauf! Bruder Arnt war immer einer von den tollsten; er hatte schon als fünfjähriger Junge die ersten Schlittschuhchen bekommen und sauste nun stolz und sicher über das Eis. Evchen gönnte ihm und allen anderen von Herzen ihre Fröhlichkeit; aber einmal, als sie so allein am Fenster saß und auf das übermütige Gewimmel niederschaute, floß doch ein Tränchen nach dem anderen über das zarte Kindergesicht.

Arnt stürmte damals gerade unvermutet ins Zimmer, um statt eines zerrissenen Schlittschuhriemens einen anderen zu holen; er war ein wilder, leichtfüßiger Patron, aber als er das verweinte, blasse Schwestergesichtchen sah, ward ihm das Herz doch auf einmal merkwürdig schwer; er sagte nichts davon, daß er Evchens Tränen gesehen, aber er ließ auch den neuen Riemen liegen, wo er lag, hing die Schlittschuhe an den Nagel und holte seine schönsten Spiele und Bilderbücher herbei, um der Kleinen einmal recht fröhlich die Zeit zu vertreiben. Als die Mutter mit den drei größeren Schwestern aus der Stadt heimkam, fand sie Arnt und Eva auf lustiger Wanderschaft bei Post- und Reisespiel vereint.

Sobald Evchen an diesem Abend schlief, brachte Arnt dem Vater unter verschämtem Augenblinzeln das blanke Zehnmarkstück, das Onkel Eberhard ihm am letzten Geburtstag geschenkt hatte.

»Vater, glaubst du, daß man hierfür einen Stuhlschlitten kaufen kann?«

»Nun frag' ich nur, wozu du den wieder haben willst – –«

»Nicht für mich,« sagte Arnt schnell, »Vater, sieh, ich laufe jetzt so gut Schlittschuh, ich glaube bestimmt, Evchen würde sehr viel Freude daran haben, wenn ich sie täglich ein Stündchen auf dem Fluß Schlitten führe. Wenn das Geld langte und ihr es erlaubt, möchte ich ihr gar zu gern einen Stuhlschlitten zu Weihnachten kaufen!«

»Und sollen wir dir Leichtfuß wirklich das kranke Schwesterchen anvertrauen?« fragte der Vater, dem Jungen scharf in das errötende Antlitz sehend. Er wußte nur zu gut, wie Arnts Leichtsinn und Arnts gutes, weiches Herz immer miteinander im Streite lagen.

Verlegen schlug der Knabe die Augen nieder, aber im nächsten Augenblick sah er mit entschlossenen, strahlenden Blicken wieder empor:

»Vater,« rief er, »vertraut sie mir nur getrost an! Ihr sollt sehen, die Mutter und du, daß ich auch ein kleines Opfer bringen kann! Ich will Wettlauf und Schneeballschlacht lassen, wenn ich Evchen fahre, und an nichts denken als an sie. Versuchen könnt ihr's …«

»Nun gut! Und wenn es dir so heiliger Ernst mit deinem Vorsatz ist, so glaube ich auch, daß dein Zehnmarkstück langt,« sprach der Landrat. »Was meinst du, Mütterchen? Wir gehen morgen selbst und kaufen den Schlitten!« –

Und der Schlitten ward wirklich gekauft und war so schön und kostbar wie der Schlitten der Schneekönigin im Märchen. Daß solch ein Prachtstück nur zehn Mark kosten sollte, kam Arnt ebenfalls etwas märchenhaft vor, aber es mußte doch so sein, denn der Vater trug sein lahmes Blondchen am Weihnachtsabend zuerst an diese Überraschung und sagte mit besonders mildem, gütigem Gesicht: »Sieh, das ist Arnts Geschenk!«

Wie das blasse, kleine Gesicht da erglühte, wie die blauen Augen mit allen Weihnachtslichtchen um die Wette blitzten! Das blonde Köpfchen schmiegte sich an Arnts Gesicht, und unter jubelnden Liebkosungen klang es immer wieder: »Lieber Arnt! Lieber, guter Arnt! Ich danke dir! Ach, ich danke dir!«

So selig war dem wilden, kecken Jungen noch kein Weihnachtsabend erschienen. So himmlisch hatte der goldglitzernde Tannenbaum noch nie gestrahlt, so feierlich hatten die Glocken draußen noch nie geklungen! Und gewiß, so reich hatten ihn Vater und Mutter auch noch nie beschenkt! Und dabei die Freude auf morgen. »Morgen! morgen!« flüsterte er dem Schwesterchen noch zu, als sie ihn, schon in den weichen Kißchen liegend, noch einmal dankbar mit ihren Armen umschlang.

Und nun war das Morgen schon längst vorbei! Nun machten die Geschwister schon zum viertenmal ihre Eisfahrt. Amt hatte Wort gehalten bis heute. Er hatte Evchen vor allem Ungemach behütet und beschützt, hatte seine Kameraden rufen und locken lassen, so viel sie wollten, und hatte an Schneebälle und Schneemänner nicht eher gedacht, als bis er sein Evchen wieder vor das Haustor gefahren und gewartet hatte, bis die alte Lene gekommen war, um sie die Treppe hinauf zu tragen, dann erst war er doppelt fröhlichen Hebens noch ein Weilchen zu seinen Kameraden hinübergeeilt.

Heute war es etwas später an der Zeit als gewöhnlich, ehe die Kinder auf den Fluß kamen. Verwandte aus einer fernen Stadt waren eingetroffen, man hatte den lieben Tanten die Bescherung gezeigt und dann lange hin und her beraten, ob die Kinder überhaupt noch aufs Eis sollten, da Großmama die ganze Gesellschaft um fünf Uhr zu sich eingeladen hatte.

Schließlich machte Arnt den besten Vorschlag: Evchen wie gewöhnlich ein Stündchen auf der Eisbahn und dann gleich zur Großmama zu fahren. Jubelnd stimmte die Kleine bei, und auch die Eltern gaben ohne weiteres vertrauensvoll ihre Erlaubnis.

Nun sank die Dämmerung schon immer dichter und tiefer hernieder, und die schon rötlich erleuchtete Turmuhr der nahen Marienkirche zeigte halb fünf.

»Noch zehn Minuten, Evchen, dann brechen wir auf,« sagte Arnt. Obgleich das Schwesterchen sich gerade heute über alle Maßen vergnügte, war Arnts Laune nicht die beste. Ein fremder, schwarzlockiger Junge, der im schwarzen Sammetanzug und keck umgeschlungenen bunten Schaltuch ganz besonders vornehm aussah, schien es förmlich darauf abgesehen zu haben, ihn zu reizen und zu necken. Fortwährend sausten Schneebälle, von des Fremden Hand geschleudert, um Arnts Ohren; wohin auch Stritt den Schlitten lenkte, da kreuzte der Schwarzkopf seine Bahn; neckende Worte, wie »faules Prinzeßchen«, »Fäulchen« und »Prinz Tugendsam« schwirrten um die beiden her – Arnt mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um Evchen nicht stehen zu lassen und dem Necker ein gehörige Tracht Schneeballwürfe auf den Rücken zu brennen.

»Wir gehen, dächte ich,« sagte er endlich wieder.

In demselben Moment legte sich eine kleine Hand auf seine Schulter.

»Arnt! Eva! saust doch nicht so, man möchte Vogel Greif sein, um euch nachzufliegen,« rief eine lustige Stimme.

»Ach, Lilly, du!« jauchzte Eva. »Sieh doch, wie gut ich's habe – was sagst du dazu?« – »Daß ich Arnt gern einmal ablösen möchte,« sagte die Kleine, eine Freundin Evas, mit fröhlichem Lachen. – »Du, das läßt Arnt nicht zu,« meinte Eva schnell. – »Ach was, dreimal herum! Da wird Arnt gar nicht gefragt. Oder am Ende sagt er ganz gern ja; gelt. Stritt, du hast die Schieberei jetzt gerade ein bissel satt? Oho, nun erst!« –

Arnt war verlegen. Jetzt eben hatte ihm vom jenseitigen Flußufer herüber ein wohlgezielter Schneeballwurf den ganzen Anzug weiß überstäubt. Wahrhaftig, er hielt es kaum mehr aus! Einmal nur wollte und mußte er dem Schwarzen, denn kein anderer war natürlich der Angreifer gewesen, mit gleicher Münze antworten! Wenn Lilly nun wirklich Evchen ein paarmal herumfuhr, war es denn gar so schlimm?

Lilly sah ihn eben schelmisch an. »Nun, machen wir bis morgen früh hier Station?« Lustig drängte sie ihn vom Schlitten weg. »Auf Wiedersehen an dieser Stelle! Also dreimal herum, amüsiere dich unterdessen!«

Arnt sah ein paar Minuten lang unentschlossen dem davonfliegenden Schlitten nach. Es war ganz bestimmt unrecht, was er jetzt geschehen ließ. Aber was konnte Evchen passieren? Sie saß so gut eingehüllt, und Lilly war eine so geschickte Läuferin, daß sie den Schlitten gewiß so sicher lenkte wie er selbst. Aber wo blieben sein Versprechen, seine Verläßlichkeit, seine Pflichttreue?

»Holla, Schlingel, jetzt soll dir's aber nett gehen,« rief er plötzlich, alle Überlegung vergessend. Ein eiskalter Schneeklumpen traf ihn von links an Ohr und Hals. »Warte, lerne mich nur erst kennen!« rief er blitzenden Auges dem fremden Jungen zu, der, die klirrenden Schlittschuhe schon in der Hand, gerade im Leuchtkreis einer eben angezündeten Laterne auf dem längs des Flußufers aufgeschichteten Schneewall stand.

Sturmschnell war Arnt in seiner Nähe, und während von oben ein zweiter Ball auf ihn niedersauste, hatte auch er schon eine Masse Schnee kunstgerecht zum Wurfgeschoß geballt.

»Wohl bekomm's!« rief er der fliegenden Kugel nach. Aber nur ein schallendes Gelächter tönte zurück.

»Mußt früher aufstehen, wenn du mit mir anbinden willst,« rief eine kecke Stimme. Der Schlingel war von seinem Schneeberg verschwunden, – weit jedoch konnte er noch nicht sein, eben sauste aufs Geratewohl wieder eine Ladung Schnee über den Wall.

»Ich tränk' dir's schon noch ein,« rief Arnt wütend, schleuderte die Schlittschuhe von den Füßen, hing sie schnell über die Arme und raffte die Hände voll Schnee. Wie ein Wiesel schwang er sich über die Schneegrenze auf die Uferstraße. Ein wohlgezielter Wurf – und der Fremde hatte seine Ladung im Nacken. Aber fast ebenso geschwind pfiff auch schon ein Ball zu ihm zurück und riß ihm die Mütze vom Kopf.

»Bravo, Schneebataille!« rief der fremde Naseweis, und ohne Arnts Gegengeschoß abzuwarten, warf er, Schwung auf Schwung, mit fabelhafter Sicherheit wohl ein halbes Dutzend Kugeln, von denen mindestens die Hälfte das Ziel traf, auf Arnt los.

Dieser hatte nun Schlitten, Schwester, Pflicht, Überlegung, kurz alles vergessen. In echt jugendhafter Aufregung suchte er es dem Angreifer gleich zu tun und beachtete es gar nicht, daß er ihm mit jedem Wurfe weit nachlief und sich immer weiter vom Flusse entfernte. Endlich, nach einem letzten glorreichen Wurf, bog der böse Feind um die Ecke der Straße. Arnt, beide Hände voll Schnee, lief ihm in atemloser Hast die lange Schloßgasse nach. Der Schwarze, dem die Verfolgung offenbar Spaß machte, ließ den Kleinen immer noch an sich herankommen, um dann wieder aufs neue blitzschnell anzugreifen. Endlich schien er, ohne daß er seine Tracht bekommen, ganz verschwunden.

Ärgerlich warf Arnt seinen Schneeball weg, um sich nun auf den Rückweg zu machen. In demselben Augenblick aber faßte ihn jemand lachend von rückwärts.

»Da bin ich. Du hättest getrost das Ding noch ein bißchen aufheben können,« höhnte der fremde Junge und hielt den Kleinen fest am Arm.

»Laß mich gleich los, ich rate es dir!« sagte Arnt, der nun erschrocken seiner versäumten Pflicht gedachte. – »I bewahre! Bis jetzt haben wir uns gehauen, und nun wollen wir uns vertragen. Du hast mir gleich gefallen. Komm mit zu mir, ich wohne hier. Paß auf, wir werden noch Freunde.« – »Nur jetzt nicht!« drängte Arnt ängstlich. »Schnell, laß mich los, ich muß nach dem Fluß zurück.« Aber der ungestüme Patron hatte ihn schon in die hellerleuchtete Halle eines nahen Hausflurs mit hineingezogen.

»Sage erst, ob du mein Freund werden willst,« rief er lustig und drängte den kleineren Arnt fest gegen die Wand. – »Jetzt sage ich nichts, als laß mich sofort laufen, oder – »Oho, bist du immer noch kampflustig? Nein, nein, ich gebe dich nicht frei, du bist mein Gefangener und mußt tun, was ich von dir will!« – »Abzwingen lasse ich mir nichts!« trotzte Arnt. – »So bleiben wir hier stehn bis übermorgen!« spottete der Große. »Ich habe Zeit!« – »Aber ich nicht!« rief Arnt und strebte mit Gewalt loszukommen. Noch ein Versuch äußerster Anstrengung – und der Schwarzkopf flog zur Seite – Arnt war frei!

Wie vom Winde dahingejagt, lief er nun die Straßen entlang. Der andere sah ihm verwundert nach, und nach einem schnellen Blick auf seine Taschenuhr begann er gemütlich dem Entflohenen noch einmal nachzuschlendern, um womöglich am Fluß noch ein paar versöhnliche Worte mit ihm zu sprechen.

Arnt kam glühend und atemlos an der Eisbahn an. Mit schnellem Blick überflog er die Fläche – mein Gott, wo waren doch die Mädchen? Ja, wahrhaftig, Evchens Stuhlschlitten war nirgends mehr zu sehen!

Lilly wird sie nach Hause gefahren haben, dachte er, als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte. Wie ein Pfeil fliegt er dem Hause zu, so schnell, daß er kaum aufblickt, als er in der Nähe des Tores abermals auf den fremden Jungen stößt.

»Wohnst du hier?« fragt dieser schnell. – »Ja, ja, ich habe jetzt keine Zeit!« Und unter fast hörbarem Herzklopfen fliegt er die Treppe hinauf und zieht die Klingel.

Ein neuer Schrecken! Kein Mensch macht ihm auf. So sind sie alle schon fort, die beiden Dienstmädchen sind ausgegangen – aber Eva? –

Eine unbeschreibliche Angst steigt in ihm auf. Dennoch findet er gleich einen Ausweg: Lilly wird sie zur Großmutter gefahren haben, die ja in Lillys Nähe wohnt! – Aber das Schrecklichste bleibt: er muß seinen Eltern unter die Augen treten, und sie wissen nun, daß er das Schwesterchen im Stich gelassen und seine Pflicht versäumt hat.

Die Sehnsucht, Evchen wiederzusehen, ist jedoch größer als die Angst vor der Strafe. So schnell ihn seine Füße tragen, eilt er durch die nun völlig dunkle Stadt dem Hause der Großmutter zu. Als er dort die Klingel zieht, hört er aus verschiedenen Stimmen heraus der Mutter Worte: »Gottlob! sie kommen!« Gleich darauf öffnet sich die Tür. »Ist Eva hier?« ruft er der Mutter zu.

Ein Angstruf tönt ihm entgegen. »Um Gottes willen? Eva? Wo ist Eva? Du bringst sie nicht?« Aus dem Gesicht der armen Frau ist alle Farbe gewichen. Mit Mühe hält sie der Landrat, der nun auch aus dem Zimmer tritt, aufrecht. Sein Blick voll Vorwurf und Angst trifft Arnt schlimmer als tausend Worte der Strafe.

Stotternd und stammelnd bringt der Junge seine Entschuldigungen vor. Eine allgemeine Verwirrung entsteht, die Großeltern und die großen Schwestern kommen herbei, alles ruft, klagt und jammert durcheinander. »Ich werde Eva suchen, beruhige dich, Mütterchen, es kann ihr nichts geschehen sein,« sagt der Landrat und eilt die Treppe hinunter. Die Schwestern erbieten sich, gleich zu Lilly zu laufen, die Mutter bittet den Großvater, sie in ihre Wohnung zu begleiten, falls jemand Eva bringen sollte.

Verzweifelt jagt Arnt dem Vater nach und faßt flehend seine Hand. Aber der Vater stößt sie zurück. »Bitte Gott, daß er deinen Leichtsinn verzeiht!« sagt er so streng und ernst, wie er noch nie zu einem seiner Kinder gesprochen.

Der erste Weg des Landrats ist nach dem Fluß, mit bebender Stimme fragt er hier einen der wachthabenden Schutzleute, ob sie den Schlitten, den er genau beschreibt, mit dem kleinen Mädchen gesehen. Eine furchtbare Auskunft wird ihm zu teil:

»Der Schlitten mit der Kleinen stand eine Zeitlang ohne Führer da, weshalb ein paar lustige junge Leute sich den Scherz machten, ihn fortzuschieben. Dabei fiel das leichte Fahrzeug um und das Kind verletzte sich augenscheinlich sehr, denn sein Köpfchen blutete. Ein zufällig am Fluß vorübergehender Herr, der sich als Arzt auswies, nahm die kleine Verwundete gleich in einer Droschke mit sich in seine Wohnung.«

»Wer ist er? Wo ist seine Wohnung?« fragte der Landrat atemlos.

»Ich weiß es nicht. Mein Kollege hat sie wohl aufgeschrieben. Sowie ich ihn treffe, werde ich Ihnen die Adresse senden. Freilich, bis dahin können Stunden vergehen.«

Stunden! Welch eine Aussicht! Stundenlang harren und warten in dieser schrecklichen Ungewißheit! Wie gebrochen stieg der Landrat zu seiner Wohnung hinauf, um seiner armen Frau so schonend wie möglich die traurige Kunde zu bringen. Arnt, der arme Sünder, ging leise und bitterlich schluchzend hinter ihm drein.

Droben verfloß nun in Jammer, Angst und Qual die traurigste Viertelstunde, die Arnt je verlebt. Alle Verwandten hatten sich eingefunden, die Schwestern hatten von Lilly die Nachricht gebracht, daß diese den Schlitten, weil sie zu bestimmter Stunde nach Haus mußte, an der verabredeten Stelle habe stehen lassen; welche Vorwürfe und welch bitteren Tadel es nun auf Arnt regnete, das ist kaum zu beschreiben.

Wie eine Erlösung tönte endlich der Ruf der Klingel durch die Wohnung.

»Ist hier ein Knabe zu sprechen, der nachmittags ein kleines Mädchen Schlitten fuhr?« fragte heftig eine helle Knabenstimme. Arnt hatte sie sofort erkannt. Allen voran flog er hinaus. Da stand – wahrhaftig, da stand er, der böse Schwarzkopf von heute nachmittag. Was wollte er? Und jetzt? Kam er als Bote? Von allen Seiten umringte ihn die Familie schon mit Fragen:

»Du bringst Nachricht von ihr? Was ist geschehen? Wo ist sie? Sage uns: welches Unglück hat Arnts Leichtsinn verschuldet?«

»Nicht er, sondern ich habe schuld!« antwortete der Knabe mit tiefem Ernst. »Ich war sein Verführer. Aber gottlob, das Unglück ist nicht schlimm! Ich bringe Ihnen eine Empfehlung von meinem Vater, dem Doktor Lenius; er hat das kleine Mädchen mit nach Hause gebracht, und kann ich Ihnen in Vaters Auftrag die Nachricht bringen, die kleine Stirnwunde sei nicht gefährlich, die Kleine sei schon aus ihrer Ohnmacht erwacht, aber gleich darauf fest eingeschlafen, hoffentlich sei morgen alles gut!«

»Gott sei Lob! – Gott sei Dank!« tönte es aus aller Munde. Die arme Mutter lag in des Vaters Armen und schluchzte vor Aufregung und Freude; wie eine Erlösung fiel die gute Kunde nach der langen, schweren Angst in alle Herzen.

»Du führst uns zu ihr, nicht wahr?« fragte der Landrat den Knaben. – »Laß auch uns mit!« baten die Mädchen. – »Ach, und mich! und mich!« fügte Arnt, ganz in Tränen aufgelöst, hinzu.

Arnts Bitte schien der Landrat gar nicht zu hören. »Wartet ihr nur hier, wir kommen bald wieder,« beschied er freundlich die Mädchen. Als Arnt seine Mütze ergriff, um mit zur Tür hinauszuschlüpfen, sah ihn der Vater groß und verwundert an.

»Was fällt denn dir ein?« sagte er streng. »Nein, mein Bürschchen, du hast ganz und gar nichts bei Eva zu suchen und kannst warten, bis wir dir erlauben, sie wiederzusehen.«

Er schob den Knaben beiseite und eilte hinaus, der Mutter nach, die schon in fliegender Hast die Treppe hinabgeeilt war. Mit bitterlichem Weinen brach Arnt im dunklen Winkel des stillgewordenen Korridors zusammen.

Da schlang sich plötzlich ein Arm weich und zärtlich um seine Schultern. »Laß gut sein, Arnt! Ich bin schnell noch einmal umgekehrt. Verzweifle nicht! Deine Eltern werden dir verzeihen, ich will sie so lange bitten und flehen, bis sie es tun,« flüsterte ihm eine treuherzige Knabenstimme ins Ohr. »Ich weiß, ich habe mehr Schuld als du, und ich will nichts verschweigen. Gib acht, wir werden noch die besten Freunde – ich weiß etwas, ei, ich weiß etwas!«

Und als Arnt sich gar nicht beruhigen wollte, fügte er schnell hinzu: »So hör nur – aber keinem wiedersagen! – habt ihr nie etwas von Doktor Lenius gehört? Dem Doktor, der schon Tausende von Lahmen und Kranken gesund gemacht? Seit acht Tagen sind wir erst hier, und hör mal, Arnt, ich glaube, es ist wahrhaftig ein großes, großes Glück, daß der Vater dein Schwesterchen gleich zu sehen bekam! Er hat sofort gesehen, woran es fehlt – und ich selber hab' es gehört, juchhe, ich hab' es gehört, wie er sich über sie bückte und leise sagte: ›Arme Kleine, ich verspreche es dir! Ich mache dich ganz gesund!‹ Nun aber ade, ich soll ja deinem Vater unsere Wohnung zeigen.« –

Die herrliche Hoffnung, die Fritz Lenius in dem traurigen Herzen des reuigen Arnt entzündet, hat sich bewährt!

Evchen Horstner läuft und springt jetzt umher, geht morgens mit ihrem Bücherränzchen zur Schule und spielt Ball und Greifspiel wie alle anderen kleinen Mädchen. Der gute Doktor Lenius hat sie gar nicht eher aus seinem Hause wieder fortgelassen, als bis sie stolz zu Fuß in ihr Heim zurückkehren konnte. Durch eine schwierige, fast wunderbare Operation hatte er es so weit gebracht. Evchens Eltern sind keinem Menschen in der Welt dankbarer wie dem gütigen, barmherzigen, edlen und geschickten Doktor Lenius!

Daß bei dieser glückseligen Wendung der Dinge auch Arnt endlich Verzeihung fand, wird niemand wundern. Schnell haben ihm die Eltern seine schwere Schuld nicht vergeben. Aber Fritz Lenius, sein neuer Freund und Schulgenosse, wußte immer aufs neue so rührend für ihn zu bitten, und Arnt selbst war so verändert in seinem Wesen, so ernst, so nachdenklich und pflichttreu, daß Vater und Mutter das richtige zu tun glaubten, als sie in der Freude über Evchens Genesung auch ihn wieder zärtlich und verzeihend ans Herz zogen.

Die Besserung hat bis heute nachgehalten, und Arnt ist nun schon ein großer Junge von fünfzehn Jahren. Daß er so tüchtig, so ernst und pflichttreu bleiben wird, glaube ich ganz bestimmt, denn er hat sich vorgenommen, einst den herrlichen Beruf des Doktor Lenius zu wählen. Und daß dieser nicht bestehen kann ohne die größte Zuverlässigkeit und Pflichttreue, das hat er lange eingesehen!

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