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Hanni und Fanny

Hanni und Fanny waren Zwillinge. Als sie noch klein waren und im goldigen, himmelblau geschmückten Kinderwagen, mit ganz gleichen, himmelblauen Kleidchen und Hütchen angetan, täglich auf der Stadtpromenade spazieren gefahren wurden, blieb fast jeder stehen und warf einen lächelnden Blick auf das reizende Pärchen, das durchaus nicht voneinander zu unterscheiden war. Die Hütchen und Mäntelchen nicht nur, sondern vor allem die beiden rosigen, herzigen Gesichtchen, die beiden kirschroten Mündchen, die beiden feinen Stumpfnäschen, die zwei großen, kornblumenblauen Augenpaare, ja selbst die weichen, goldenen Löckchen, die beiden über die Stirn ins Gesicht fielen, waren einander so gleich wie ein Ei dem andern.

Den Eltern der kleinen Zwillingsmädchen machte es natürlich außerordentlich viel Spaß, daß jedermann steif und fest behauptete, er könne Hanni unmöglich von Fanny unterscheiden. Elternliebe sieht natürlich schärfer, und sowohl Papa als Mama wußten an einer ganz kleinen Verschiedenheit im Ausdruck der beiden Püppchengesichter sofort auf den ersten Blick jedes der Kinder zu erkennen. Hanni sah ein wenig ernster und eigenwilliger, Fanny ein wenig lieblicher und zarter aus. Aber fremde Menschen konnten diesen geringen Unterschied natürlich nicht bemerken, und daß sie alle, sogar die Hausmädchen und der alte, treue Diener inbegriffen, fortwährend Hanni mit Fanny und Fanny mit Hanni verwechselten, machte den beiden Eltern den allergrößten Spaß. Bis zu ihrem ersten Schulgange waren die niedlichen Zwillinge immer ganz gleich, meist himmelblau, weil dies zu ihren süßen Blondköpfchen am besten stand, gekleidet. Als die erste Schulwoche aber verflossen war und die Frau Professorin, Hannis und Fannys Mutter, zum erstenmal mit der jungen, freundlichen Klassenlehrerin der beiden Kinder sprach, bat diese recht herzlich, die Anzüge der Zwillinge doch ein klein wenig verschieden voneinander einzurichten, weil es sonst wirklich ganz unmöglich wäre, immer zu wissen, wer Hanni und wer Fanny sei. In der Klasse ließe sich's schon am Platz merken, aber in der Freiviertelstunde im Garten sei es ihr schon oft passiert, daß sie Hanni gerufen und Fanny gemeint habe und umgekehrt.

Die Professorin lachte zu dieser gleichfalls lachend vorgebrachten Klage und sie tat der Lehrerin den Willen, das eine ihrer kleinen Mädchen immer durch einen Kleidungsgegenstand auszuzeichnen, den die andere nicht trug, so war Hanni meist mit einem roten Korallenkettchen und Fanny mit einem Goldkreuzchen an schwarzem Sammetband geschmückt; Hanni trug meist hohe, weiße Ärmelschürzchen über dem Kleid, während Fannys Schürzen mit Gürtel und Latz gearbeitet waren.

Auf diese Weise ging das Unterscheiden in der Klasse der Allerkleinsten recht wohl; als aber die beiden fleißigen Zwillingsschülerinnen zu Ostern des nächsten Jahres in die »siebente« hinaufrückten, wollten die kleinen Merkmale nicht mehr ausreichen. Statt des einen freundlichen Fräuleins gab es nun verschiedene Lehrer und Lehrerinnen, und nicht jedes von diesen hatte Zeit, sich das Korallenkettlein und die Ärmelschürze als Unterscheidungsmerkmal ins Gedächtnis zu prägen. Verändert hatten sich die Schwesterchen nicht um ein Haar, und so kam es immer häufiger vor, daß sie verwechselt wurden, und nicht immer waren diese Verwechslungen ganz spaßhaft.

So nahm es die kleine Fanny sich einmal sehr zu Herzen, daß sie als »unverbesserliches kleines Traumbuch« vor der ganzen Klasse bezeichnet wurde, während sie doch gerade in dieser Stunde lauter richtige Antworten gegeben und Hanni es gewesen war, deren Gedanken auf Reisen gegangen, so daß sie nicht einmal die Stückzahl von drei Schock Nüssen wußte. Ein anderes Mal weinte Hanni bitterlich, weil der geliebte Religionslehrer sie tadelte, sie habe ja einen Auftrag an ihren Papa, den er ihr gegeben, nicht ausgerichtet; sie wußte von keinem Auftrag, und schließlich kam es heraus, daß Fanny die kleine, vergeßliche Sünderin war.

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»Ja, wer soll euch aber auch voneinander kennen,« sagte derselbe Lehrer, als Kleinhannchen ihm ehrlich ihre Schuld eingestand. »Sagt eurer lieben Mama doch einmal, sie solle Hanni immer ganz hellblau und Fanny ganz feuerrot kleiden, so merkt man sich schließlich an den Buchstaben eure kleinen Persönchen.«

Die Professorin hatte nicht viel Lust, ihre lieben Mädchen mit so schreienden Farben zu kennzeichnen. Da aber aus der Schule immer mehr Klagen eingingen, daß durch die Gleichheit der Zwillinge lauter Mißverständnisse hervorgerufen würden, so kam ihr schließlich eine andere, gewiß sehr gute und glückliche Idee.

Die Blondhärchen der beiden Schwesterchen zeigten nämlich schon frühzeitig eine ganz besondere Wachstumsfreude, und statt der offenen Löckchen, die die Kleinen früher getragen, baumelten ihnen nun schon zwei (natürlich gleich lange, gleich starke und gleich glänzende!) Blondzöpfe im Nacken.

Ein langer Zopf ist bekanntlich ein großer Stolz für ein kleines Mädchen, und auch unsere beiden Dingerchen lächelten immer ganz beglückt in sich hinein, wenn ihnen jemand im Vorübergehen die schönen Flechten streichelte und bewundernd dabei sagte: »Das ist aber ein Staat!«

Da das sorgsame Kämmen, Bürsten und Frisieren der feinen, dichten Haare frühmorgens aber immer viel Mühe machte, so hatte die Mutter schon manchmal vorgeschlagen, das lange Haar doch jetzt noch einmal abzuschneiden. Wenn man es vom zwölften Jahr an wachsen ließe, so sei dies zeitig genug, und ein kurzgeschnittenes Lockenhaar sei auch ganz niedlich.

Mit Bitten und Schmeicheln hatten die Töchterchen aber für ihre Zöpfe gekämpft und die Mutter hatte nachgegeben – bis ihr eben jene gute und glückliche Idee in den Sinn kam. Ein Unterscheidungsmerkmal für die Zwillinge war gefunden!

Eines von ihnen sollte sich den langen Zopf abschneiden lassen und das Haar in kurzen Locken mit einem runden Kamm tragen. Sofort würden sie dann vollständig verschieden aussehen und niemand würde sie mehr verwechseln!

Die Zwillinge weinten, als die Mutter ihnen ihren festen Entschluß mitteilte. Keine wollte ihr schönes, langes Haar hergeben, keine wollte mit einem Jungenkopf, wie sie sagten, herumlaufen. Die freundliche, nachsichtige Mama aber konnte auch streng und fest sein, wenn es einer ernsten Sache galt.

»Nun, wenn keine vernünftig ist und sich von selbst entschließt, so werde ich euch nicht lange fragen,« sagte sie. »Hier sind zwei Papierstreifen, ein langer und ein kurzer. Nun zieht! Wer den kurzen trifft, wird kurz gestutzt, und wer lang hat, läßt eben lang hängen.«

Die Losgeschichte machte den beiden Mädchen nun doch wieder Spaß, und unter Angst und fröhlicher Hoffnung, heil davonzukommen, zog jede ihr Papierstück zwischen der Mutter Fingern hervor.

Als sie sich den Schaden besahen, war der kurze Unheilsstreifen in Fannys Hand. Fanny jammerte laut, und Hanni sah vor lauter Mitgefühl für sie beinahe noch trauriger aus; sie nahm den prächtigen Goldzopf des Schwesterchens in ihre Hand und schien es rein undenkbar zu finden, daß etwas so Schönes unter der Schere fallen sollte.

»Mama, lieber nimm meinen!« rief sie endlich edelmütig. Aber Fanny ließ sich nicht beschämen.

»I, das wäre noch schöner! Um deinen ist es erst recht schade,« rief sie schluchzend.

»Still jetzt!« gebot die Mutter. Es bleibt dabei: »Fannys Zopf wird abgeschnitten! Ich lese jetzt im Keller die Äpfel aus, halb vier bin ich fertig, dann wollen wir zusammen in die Stadt gehen und gleich vom Friseur die Sache besorgen lassen.«

Ein Viertelstündchen später war es ganz still im Hause. Mutter und Köchin walteten im Obstkeller, Fanny hatte schnell einmal zum Buchbinder an den Marktplatz wandern müssen, um sich ihr Spruchbuch, das einen neuen Einband nötig gehabt, zurückzuholen, und nur Hanni saß an ihrem kleinen Schreibpult, hielt sich die Hände vor die Ohren und lernte ihren Wochenspruch: »Kindlein, liebet euch untereinander« u. s. w. auswendig.

Nach kurzer Zeit aber schien auch ihr ein kleiner, notwendiger Ausgang einzufallen, mit fröhlichem Lächeln klappte sie ihr Buch zu, nahm draußen ihr blaubebändertes Hütchen vom Nagel und trat ihre Wanderung an. –

Nach ungefähr einer Stunde war das Geschäft des Äpfellesens im Keller beendet. In schönen, sauberen Häufchen lagen die Früchte des Gartens, die lichtgrünen, rotbäckigen Weinäpfel, die grauen Renetten, die purpurnen Erdbeeräpfel und die kleinen, spitznäsigen Goldpipins aufgeschichtet, die Köchin war schon wieder oben, und eben erhob sich die Professorin von der Strohschütte, auf der sie bei der Arbeit gekniet, als der helle Lichtstreif, der vom Fenster her in den Keller glitt, auf einmal von einem kleinen Schatten verdunkelt wurde.

»Mamachen!« rief ein seltsam scheues, leises Sümmchen hinunter; die Mutter wußte diesmal wahrhaft selbst nicht, ob es Hanni oder Fanny war. Der kleine Kopf, der sich oben gegen die halbblinde Scheibe drückte, – war dies überhaupt eine von ihren Zwillingen?

»Gleich komm' ich!« rief sie unruhig hinauf, aber: »Nein, ich komme lieber zu dir,« antwortete das schüchterne Stimmchen sogleich, dann klangen Kindertritte auf der Kellertreppe, und im nächsten Augenblick schmiegte sich – ein fast bis auf die blanke, weiße Haut abgeschorenes Kinderköpfchen in ihre Arme.

»Hanni,« rief die Professorin entsetzt, »Hanni, bist du denn ganz toll? Ja, was fällt dir denn ein? Kannst du denn nicht warten? So kurz meinte ich doch nicht! Und – überhaupt – du?«

Dem geschorenen Lämmlein war es bei der Ueberraschung offenbar selbst nicht wohl. Verlegen fuhr sie ein paarmal mit der Hand über den glatten Kopf.

»Liebe, gute Mama, ich wollte doch nicht, daß Fanny ihren Zopf hergeben sollte! Meiner ist lange nicht so schön,« stotterte sie unter Tränen. »Sei nicht böse! Ach, ich habe es ja so gut gemeint.«

Der guten Frau waren selbst die Tränen nahe. »Das schöne Haar,« sagte sie seufzend, »ich wollte es dir ja ein hübsches Stück hängen lassen, – na, das wird lange dauern, bis das wieder gewachsen ist! Nun ist das Unglück geschehen, und wir müssen uns darein finden. Also Fanny zulieb warst du so voreilig? Hast du dein Schwesterchen denn so sehr lieb?«

Hanni nickte und schluchzte. »Na, Schatz,« sagte die Mutter, »nimm hier das Körbchen mit Falläpfeln und komm! Ich bin neugierig auf Fannys Gesicht. Eins ist erreicht, – niemand kann euch wenigstens jetzt verwechseln!«

Eilig stiegen beide die Treppe hinauf. Oben ging eben die Haustür, und zu Hannis Freude sah sie der Schwester blaues Kleidchen, von einem einfallenden Streifen Sonnenlicht beschienen, schon von unten leuchten.

»Fanny, warte, – eine Überraschung,« rief sie lustig und stürmte nun, von der Mutter gefolgt, den letzten Treppenabsatz vollends empor.

Allerdings eine Überraschung!! Auf beiden Seiten eine glänzende Überraschung!! und auf seiten der armen Mutter die größte!!

Auch Fannys Köpfchen war geschoren!

Um der Schwester den Schmerz des Zusehens zu ersparen und deren Opfer gleich ganz unmöglich zu machen, hatte das gute Kind diese heimliche Freude für ihre Lieben ersonnen. Während Hannis Kopfschmuck beim alten Theaterfriseur am Kirchplatz gefallen war, hatte die Schere des kleinen Barbiers im Nebengäßchen Fannys Flechte herniedergemäht. Und auch sie hatte im fröhlichen Liebeseifer den armen Kopf beinahe bis an die Haarwurzeln kahl scheren lassen.

Bis sie Ruhe und Kraft fand, dies der Mutter deutlich zu erzählen, dauerte es ein Weilchen. Zunächst hörte man nur ein wirres Durcheinander von Fragen, Weinen und Jammern.

Die Mutter war außer sich. Sie schlug die Hände immer von neuem entsetzt zusammen. Aber da sie Hanni nicht gescholten hatte, konnte sie doch auch Fanny nicht schelten. Sie hatten es beide gleich gut gemeint, – wenn das Ganze nur nicht so schrecklich gewesen wäre, – das schrecklichste, daß sie sich jetzt erst recht zum Verwechseln glichen, die armen Zwei!

Welch ein Entsetzen, als der Vater sie sah! Welch eine Verwunderung am andern Tag in der Schule!

Hanni und Fanny haben alles tapfer über sich ergehen lassen. Auch an ruhigem, fröhlichem Mut waren sie einander gleich.

Jetzt sind die blonden Haare beiden wieder gewachsen.

Hanni trägt die ihren zu einem kurzen, dicken Zopf zusammengeflochten, während die Fannys immer etwas gekürzt werden und ein niedliches Lockenköpfchen bilden.

Ich glaube, aus herzlicher Liebe zu einander würden die prächtigen Mädchen sich noch jeden Tag die Köpfchen kahl scheren lassen!

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