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Siebentes Kapitel

Benno

»Ach!« sagte Benno, nachdem er mit einem einzigen Schritt in die Mitte des Zimmers getreten war, wo er stehen blieb wie angenagelt, so lang und so dünne er war, die Hände zusammenlegend und so höchstüberrascht und beglückt umherblickend wie die Unschuld am Geburtstagstisch. »Ach! Hier ist ja alles wie früher! Georg! Aber das ist nicht zu glauben! Das ist unerhört!« Und Georg sah sein heißes und immer gerötetes Profil mit dem Haken der Nase, der über den zitternd hangenden Schnurrbart hinweg nach dem entgegengekrümmten Kinn langte, sich hin und her drehen in kleinen Rucken, vor Freude rundäugig, und die vorstehenden Wangenknochen bebten. Er erging sich in Ausrufen. »Die Vitrine! Und die japanischen Koffer! Und da –« Wieder mit einem Schritt stand er unter der Alabasterschale, die überm Sessel der Fensterecke hing, streifte sie mit zärtlich erhobener Hand – »die Lampe!« – worauf er mit einem Knie in dem Sessel lag vor Rembrandts Drei Bäumen, »und die alten Bilder!« Im nächsten Augenblick sich herumwirbelnd mit fliegendem Haar, stand er bei Georg, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte, schmelzend vor Glück und Scham und kaum hörbar: »Und daß ich noch hier bei dir stehen darf? Und Du sagen? Und dich anrühren! Einen Herzog! Es ist unerhört!« Er schüttelte den Kopf, unter den Augen tausend Fältchen eines fast mütterlichen Lächelns.

»Großherzog,« sagte Georg, »aber setz dich!«

Mit einem Schwung saß er schon im Sessel, hatte, bereits fertig in Attitüde, die Hände im Schoß, gradsitzend mit übergelegtem Bein, und bat mit Kehltönen: »Und jetzt mußt du mir etwas vorlesen! Magst du nicht? Du hast Verse! Ich hätte dich heute morgen schon bitten wollen, aber – da war alles so fremd; ich konnte mich gar nicht gewöhnen. Diese Renate dazu! Man sieht sie an – – und man ist einfach – – hin!« Er endete verlöschend und ließ den Kopf sinken wie ein sterbender Krieger.

»Aber Georg,« fing er wiederum an, »du bist traurig. Ja, dieser herrliche Mensch ist nun auch gestorben …«

Georg sagte, daß er zwar traurig sei, deshalb aber doch Verse lesen könnte, wenn er nur welche hätte.

»Stehn keine in dem Buch?« fragte der Enttäuschte mit einem Blick auf Georgs noch daliegende Aufzeichnungen.

»Nein, das sind prosaische Aufzeichnungen und Aphorismen. Aber warte, ein Gedicht muß darin sein, aber – es ist nicht sehr von Belang.«

Georg setzte sich und begann zu blättern. »Hier! Nein, das ist es nicht. Nun, dann waren es zwei, – also höre! Dies ist übrigens noch aus Berlin.« Er las:

»Und alles dieses: Speise, Schlaf und Wein,
Endlose Nächte, aufgebauschte Wonnen,
Schiffe im Nebel, Irrfahrt, Einsamsein,
Stein jeder Tag, gewälzt und dann entronnen –

Jahrlange Mühsal und am Ziele Scherben,
Verwelkte Kränze, Zweifel, Gram und Zorn,
Versucher jeden Stoffs: Gold, Lehm und Horn:
Und alles dies, damit wir endlich sterben.

Und alles dies, daß uns wie dünnes Laub
Das Leben hinsinkt auf ein kahles Leinen,
Noch im Gehör, das schon erstickt und taub,

Aus Meilenferne ein verlornes Weinen, –
Dann der Erkenntnis Seufzer: Schwester, glaub,
Es war nicht wert, zu sein, und nicht, zu scheinen.

»Seltsam, es paßt ja hierher … Aber doch eigentlich wohl kaum. Nur daß es vom Sterben handelt … So, hier haben wir das andre!

» Hora melancolica

Langsam gehen die Dinge uns vorüber,
Wolkig hinunter in die Ewigkeit.
O Hades fern! es lockt mich selbst hinüber.
O später Tag! o müdes Leid!
Als führen wir im Wagen eingeschlossen …
Da draußen gleiten Bäume, Feld und Haus,
Wohl kommt das Licht, auch Wind herbeigeflossen,
Wir aber sehen immer nur hinaus.
Was könnten wir denn tun in unserm Fahren?
Wir wissen kaum, wer das Gefährt bewegt,
Und sehen nur verständnislos seit Jahren
Den bleichen Weg, den wir zurückgelegt.
Was halten denn die Augen, die im Weiher
Des Lichtes schwimmen, blanken Fischen gleich?
Ach, stürzte einmal doch herab ein Reiher
Und trüg uns flügelbrausend in sein Reich!
Ins wirkliche aus unsern Wasserkreisen,
Darum die Bäume voller Schwermut stehn.
Wir ziehn, wir ziehn, – so werden wir die Leisen,
Die alles mit gekühlten Augen sehn.
Dies Niemalstun, dies Nurgeschehenlassen,
Dies weiche Wollen, ach, dies Ungefähr,
Dies macht das Herz so schauerlich erblassen
Wie treibend Schlingkraut in dem wüsten Meer.
Mit tausend Siegeln ängstlich eingemauert,
Wir zwingen nichts hinein in unser Herz.
Nur jeder Flügel, der vorbeigeschauert,
Erfüllte uns mit immer tieferm Schmerz.
Aus hundert Schmerzen aber ward am Ende
Nur Müdigkeit. Die Augen sinken zu;
Sie wollen nichts mehr, die getäuschten Hände,
Die Seele wiegt der letzte Traum von Ruh.
Und endlich kam es so, daß wir nur gleiten.
Genügsam wurden wir; die Blicke gehn
Zu Wolken auf, um den Vergänglichkeiten
Mit bitterem Begreifen nachzusehn.
Die weicheren Gebilde in den Bahnen
Des Äthers tun den kranken Augen wohl.
O wo bliebst du, der Jugend trunknes Ahnen,
Du einst unsterblich flammendes Idol:
Wo bleibst du, Liebe, die um nichts bekümmert,
Sich selbst vertrauend, rings Gesetze giebt,
Die jeden Makel an sich rasch zertrümmert,
In ihre Reinheit grenzenlos verliebt!
Die herrscherlich, mit Augen hart und stählern,
Mit Löwenschritten und mit Adlersgriff,
Die mantelsausend stürmte über Tälern
Und über Berge nach den Brüdern pfiff?
Doch wir sind froh bei unsern Mittagsmählern,
Und sicher trägt uns das gebauchte Schiff.

Geschehen mag und gehen, was die Hände
Nicht schufen, nur berührten fremd und blind:
Der tatenlosen Liebe arme Spende,
Der kleinen Hoffnung süßes Angebind.
Vorüber ziehn die bunten Bilderwände,
Wir schauen und vergessen, was wir sind.
Die Dinge schweben her und gehn hinunter,
Wahllos hinunter nach dem einen Tod.
Und wir, ach Schwester, schwanken selbst darunter,
Unwissend Lächelnde ins Abendrot.«

Benno, steif sitzend, schwieg und sah vor sich nieder. »Das ist recht schön, Georg«, meinte er dann. »Aber – besonders finde ich es nun eben nicht.«

»Es soll ja auch gar nicht –«

»Weißt du, ich liebe das eigentlich gar nicht. Das sind solche – Feststellungen. Die Welt ist so oder so, trübe, unbegreiflich – –, das ist alles solcher Hofmannsthal. ›Was frommt es, alles dies gesehen haben?‹ Nicht wahr? Das ist ja auch gar nicht deine wirkliche Meinung! Oder doch?«

»Vielleicht nicht eben länger, als ich daran schreibe. Nun lassen wir das, mir liegt daran nichts, ich bin ja kein Dichter und habe also höchstens die Erlaubnis, zu sagen, was ich leide.«

»Aber – –, ja, Georg, ist denn das nicht die einzige Aufgabe des Dichters?«

Georg schüttelte trübe den Kopf. »Benno, du wirst nie im Leben dahinterkommen. Nie im Leben! Aber wir wollen nicht wieder davon anfangen. Ich lese dir lieber noch einiges von den Aufzeichnungen, sie stammen alle aus der Zeit von Hallig Hooge, – wenn du magst. Hier ist etwas über Flauberts Education sentimentale, magst du das? Also höre.

»Zu Flauberts L'éducation sentimentale

Dieses als Kunstwerk gewaltige Buch scheint mir bei fortschreitendem Lesen von Tag zu Tag mehr das, was der Titel, den es ursprünglich haben sollte, ausdrückt: ›Dürre Früchte‹. Es ist dürr, langweilig und von erschrecklicher Einfalt. Eine Menschendarstellung ohne Seele und Seelen. Da ist nur Dasein, nichts als um sich selber und um einander kreisende Daseinsgestalten, deren nüchternes Gesetz leider jeden Schein von firmamentaler Wirkung ausschließt. Der ›Held‹ (der keiner ist und sein soll in unserm Sinne) streicht als nur Erlebender durch diese in ihrer Trostlosigkeit den einzigen Ausdruck von Unendlichkeit tragende Ebene umgetriebener Figuren wie ein lauer Windzug, ohne Bewußtsein seiner selbst, ohne Frage, ohne Aufblick, ohne Sterne, ohne Seele und ohne Geist. Was hier Seele scheinen könnte, ist nichts als eine Art romantischer Glorie um die Sinne. Von allem um ihn her nur ästhetisch, das heißt in seiner Anschauung berührt (oder – was fast schlimmer ist – moralisch, das heißt an seiner bürgerlichen Existenz mit ihren Wünschen und Zielen, oder – was das einfältigste ist – an seinen Trieben), ist sein ganzes Sein und Tun: zu erleben, was aber nicht heißt, das eigene Leben mit anderen, mit Lebenserscheinungen durchtränken; es zu ernähren, zu entfalten, zu steigern, zu vertiefen, mit einem Wort: zu wandeln; sondern nur heißt: Erlebnisse sammeln; und so ist er selber am Ende (ich blätterte im Ende) nur ein Schrank voll alter, nicht einmal getragener Erlebnisse, undurchdrungen, unverirrt, unverzweifelt und unerhoben derselbe, als der er auf der ersten Seite des Buches erschien: un jeune homme à longs cheveux et qui tenait sous son bras un album, – nur daß eben das Skizzenbuch mittlerweil voll wurde. Undurchdrungen also – und deshalb ungestaltet, das heißt: ohne Geist –, ungewandelt also – und deshalb ohne Innerstes, ohne Seele –, unberührt in beiden, die nicht vorhanden scheinen – ist er auch: ohne Leid. Kein Leiden ist im ganzen Buche zu finden außer Notleiden, Bürgerjammer und Alltagselend. Sie arbeiten Alle sich in sich selber ab, wie das Eichhorn in der Radtrommel, und wenn selbst dieses das zu tun scheint aus Unruhe, aus mangelnder Freiheit, so fehlt ihnen selbst die leiseste Ahnung, daß es eine Welt geben könnte, außer der ihren.

»Flaubert war augenscheinlich eine kleine Vernunft mit gewaltigen Kräften, ein Zwerg mit riesigen Armen, der nicht erschaffen konnte, sondern nur schaffen, aufbauen, von außen arbeitend, nicht von innen, hin- und darstellend, weil für ihn – in seinen andern Büchern ist es nicht anders –, wie gezeigt, letztes Inneres – der Gott, die Seele, der Geist – nicht vorhanden waren. Mit einem Wort: Franzose, würde ich sagen, läge nicht auch über ihm der Schatten des Giganten, der, wenn auch keinen Gott, so doch einen Dämon in der Brust und einen Ätna im Gehirn trug: Balzac.

»Dennoch, wovon auch Balzac nichts wußte, das ist: die Wandelbarkeit einer Seele; ist: Verändertwerden durch das Leben; ist: Durchsäuertwerden und Süßwerden von Leiden; ist Streben, Suchen nach dem ›wahren‹ Leben als dem wahren Stoffe des Daseins, das in ihm enthalten sei und aus ihm geläutert werde; ist Wachsen und Werden. Er kannte das menschliche Labyrinth in jeder Windung und Verschlingung nebst dem Minotaurus, aber er wußte so wenig wie Flaubert von der aus tausend Opferfeuern darüber aufsteigenden Säule Rauches, deren höchster und gereinigter Niederschlag an der gläsernen Nachtkuppel die Bilder des Firmamentes bildet.

»Freilich: in keinem Werk aller europäischen Literaturen, weder der französischen noch englischen oder russischen, findet sich der in der deutschen immer wiederkehrende Mensch, jenes Gebilde, als dessen innere Form sich immer wieder jener herausheben läßt, welcher der erste war, Parzival. Wobei zweierlei zu bemerken ist, nämlich erstlich und weniger wichtig: daß Wolfram von Eschenbach den Stoff seines Gedichtes aus dem Französischen schöpfte, und zweitens, daß zwar immer von der ›Form‹ des Franzosen, seiner Begabung dafür, seinem Bemühen darum, geredet wird, daß es sich aber in Wahrheit bei ihm um ›formales‹ Bemühen und formale Begabung handelt, ohne Wissen von wirklicher Form. Was Parzivals Schicksal war: Erkennen und Wissen um eine Bestimmung, Suchen des Weges, das Streben nach Erlösung: Formung des Lebens ist das, Erlösung des eigenen Ich und der chaotischen Welt im geformten Schicksal, in der reinen Form. (So tappte auch dieser Wagner daneben, der nichts bilden konnte als einen unwandelbar ›reinen Toren‹.) Auch Parzival war im Anfang Franzose, in der Gralsburg froh, essen, trinken und schöne Dinge sehen zu können, und: er fragte nicht.

»Parzival, (auch Simplizissimus sogar,) Faust, Wilhelm Meister, der Grüne Heinrich, Spittelers Prometheus, Leonhard Hagebucher, Hyperion, Michael Unger und tausend Unbekanntere in minder reinlicher Form enthalten als Gesetz, als Form allesamt den Einen und Erstgenannten: Parzival mit dem Panier über sich: ›Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen.‹

»Du aber, Georg Trassenberg, an Erkenntnissen Reicher, wohlweislich diese Dinge Zerlegender und Aufzeichnender: was bist du gewesen, und was bist du jetzt? In Wahrheit, bei Gott, wenn ich auch noch bis gestern ein armseliger Frédéric Moreau war, qui tenait sous son bras un album, so bin ich es heute nicht mehr! Und wenn es wahr ist, daß nichts kommt aus nichts, daß ich also nichts sein kann, wozu ich nicht zumindest den Stoff zuvor enthielt, das heißt: wenn ich heute etwas andres sein kann, daß ich es – oh meine Unschuld! – niemals ganz war.«

Benno sprang auf wie eine Stichflamme, daß die kleine Alabasterschale bebte und pendelte. »Ich kenne das Buch nicht, Georg,« sagte er mit empörter Gewißheit, »aber ich kenne Bücher, die so sind!« Georg sah, sich umdrehend, mit glücklicher Rührung all das lange Vertraute wieder –, die alten Bewegungen der Aufgeregtheit, der Entrüstung, das Zurückwerfen des Haars, das mit einem Schritt dahin und dorthin sich Pflanzen, das im Nachdenken, bei fast über den Wirbel hochgedrehtem Handgelenk über das Stirnhaar Kämmen mit den Fingern, den Unglücksausdruck der Brauen, und es war eine Wohltat zugleich, alles Süße der Schuljahre wieder zu fühlen in der gebrochenen Stimme, ihren glühenden Betonungen und gezogenen Pausen der Überlegung.

»Und es ist entsetzlich!« fuhr Benno nach langem, erschöpftem Dastehen fort. »Es ist die Fläche. Nicht die Fläche unserer Er–de – –, die sich wölbt und abhängt nach den Seiten. Sondern sie ist nach oben gewölbt, und man kann nicht über den Rand sehn, und alles was gegen den Rand hinaufgeraten ist im Umherschleudern der Scheibe, das muß nach innen zurückfallen. Schau–er–lich!«

»Fliegen mit ausgerissenen Flügeln in einer Glasschale, – ja, das sind wir.«

Benno schüttelte sich verneinend mit Leidenschaft. »Nein, sage das nicht, Georg! Ja, es giebt Stunden, wo es so scheint. Ich kenne diese Stunden, diese horas melancolicas, und sie sind – – entsetzlich!«

»Nun, Benno, aber was heißt das?« fragte Georg behutsam. »Ich denke, du bist glücklich?«

Benno setzte sich still und sah vor sich hin.

»Du mußt mich jetzt richtig verstehen, Georg. Ich wäre ein – – Ehrloser, wenn ich mich beklagen würde. Ich bin verlobt – –, ich werde bald heiraten. Und sie – – oh, du kennst sie ja leider nicht, und sie ist – – sie ist – wie aus Goldstaub! So leicht, so schwebend, und so rieselnd. Natürlich hat sie auch ihre Launen,« gestand er voll Großmut und Menschenkenntnis, »warum wäre sie ein Weib! A–ber – – – Nein, an ihr liegt es nicht, nur – – – Es ist alles zuviel!« schloß er, völlig erschöpft.

»Zuviel, Benno?«

»Zuviel! Ja, viel, viel, viel zuviel!« stöhnte er auf wie ein gebrochener Held im Theater, die Hand vor der Stirn. »Alles ist zuviel! Es ist kaum zu ertragen!« Er sprang auf. »Siehst du, was ist das Wunderbare immer wieder im Leben? Das sind die Anfänge! Nie sollte man hinauskommen über die Anfänge, und ich – – kann es nicht!!«

Leider, dachte Georg, auch in deiner Musik! – während er halblaut sagte: »Brentano!«

»Ja, natürlich, natürlich Brentano, der hat so empfunden wie ich! Gehe hinaus – – im April! im März! an einem unverhofften Tag. Wie dich da alles verlockt! Der Himmel scheint wegzuschmelzen, kaum daß er nahte. Dich ziehts mit ihm in das Unendliche der Sonne. Eine unermeßliche Bangigkeit zugleich treibt dich fort, und du kommst dir vor, Georg, – – wie ein Schauer Schnee. Und alles Glück der Welt scheint sie doch zu enthalten – – diese Bangigkeit. Oh, du willst dich hinwerfen, du willst weinen, du bist aufgebrochen, – – und nun erst – wenn du liebst! Georg, weißt du die Nächte nicht mehr? Die endlos stillen Straßen, die einsam leuchtenden Fenster, das nasse Pflaster, und der zitternde Stundenschlag. Und das dunkle Fenster endlich – – der Geliebten! Aber – – Georg, das erloschene Fenster, hinter dem sie schlief, es enthält mehr Wonnen für das Herz, als das Zimmer selbst, wenn du es betreten darfst. Es ist alles zuviel! Glaube mir, Georg, es war mir eigentlich schon zuviel, daß ich sie kennen lernte. Als ich sie noch grüßen durfte – – von weitem – –, da schlug mir das Herz, und ich war ergriffen!! Nun –« sang er lieblich – »ist alles ganz einfach geworden. Ist aber der magische Kreis einmal durchbrochen, was – ist – dann – noch? Ihre Stimme hören – ihr nachgehn von fern durch die bewegten Gassen –, ihren Gang zu sehen –, oh diesen Pendelschlag der Stunde ohne Ziffern! – ihr im Wald zu begegnen, wo sie Anemonen sucht an den Abhängen – –, oh Georg, wenn ich erzählen wollte, ich habe Abenteuer erlebt – – unerhört!«

»Was, Benno, jetzt? Ich denke, du willst heiraten?«

Benno lächelte schwermutvoll. »Ich genieße halt meine Freiheit«, sagte er natürlich. Dann lachte er verschämt. »Nun, Georg, so genau darfst du das nicht nehmen! Das Entfernte still zu genießen, wer will mirs verwehren? Und ich brauche das, Georg, ich brauche das. Oh sie ist lieb, sie ist edel, sie ist rein, aber daß ich nun täglich ihre Hand küssen darf, ihr Gesicht – –, und sie über alles sprechen zu hören, – – zu sehn, daß sie ungeduldig ist und hart und – – das, Georg, – – das schlägt mich zu Boden!«

»Und das ist, was ich dir immer sagte, Benno!« fing Georg an und stand auf. »Es ist schön. Es ist, so wie du es betreibst, menschlich schön und ergreifend, aber: es ist eine Schwäche des Lebens, verstehst du? Stark zu fühlen, ist noch keine Kraft, so schön es auch sein kann. Die Kraft ist im Bilden, in der Handlung, im Werk. Die ›Intensität des Erlebens‹, ja, so heißt es heut. Erleben, schon das Wort ist mir unleidlich. Das sind diese Zusammenballungen, die nachher nichts können als zerfließen. Erleben um des Erlebens willen, und keinerlei Wirkung fürs Leben selbst. Euer Handeln, euer Meinen, eure Haltung zu den Andern – alldas bleibt unbeeinflußt. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, aber – auch ich habe erleben wollen, jedoch nicht – –, um Erlebnisse zu fangen, sondern um meine Lebenskraft zu steigern und wegen der Erfahrung. Und wenn ichs zehntausendmal nicht getan habe, so tat ichs doch unbewußt, und zuletzt ist es alles in die eine Schleuse hineingeströmt. Ihr macht euch Zaubergärten von vornherein aus der Welt, dann brechen die wirklichen ein, und schon sind euch alle Schalmeien verstummt bis auf die der Trübsal. Bei dir, wie gesagt, ist es schön, weil es fromm ist und zart, und du zu weich und zu gütig, das Leben entgelten zu lassen, daß es dir deine Träume nicht hielt. Aber sieh in die Literatur von heut. Da wird aufgeblasen und aufgebauscht: Einssein mit der Geliebten, Ewigkeit der Verschmelzung, und was weiß ich, und kaum daß die Geliebte an ihrem Schuhband schnürt, wenn dich eben der göttliche Abend berauscht, so geht dir ein Meteorschwarm von Illusionen ins Chaos hinunter, und vom Augenblick an sind sie die Verächter, die tiefen Greise, die das Herz Gottes im brechenden Lächeln der Dirne entdecken, wo es ›verreckt‹. Sie rasen nach Gott durch die Welt, schlagen Fenster und Türen zusammen, brüllen: Ist keiner da? und dann endlich – endlich lächelt ihnen die weise Hure. Die ganze Literatur ist nicht zum Teufel, aber zum Zuhälter gegangen, und das Großartigste ist, herumzustelzen, die ganze Brust bedeckt mit den Kotillonorden der verlorenen Illusionen. – Diese Folgerungen – das heißt nur diese zufällig zeitlichen des Zuhältertums – ziehst du zwar nicht, Benno, aber im Kern ist es bei dir nicht anders. Hast du nicht immer verklärt und erhoben? Und bist du nicht schon getrübt und gesunken?«

»Aber was soll man denn tun, Georg, was soll man denn tun?«

Georg schwieg und sah nach dem Fenster. Ja, was? dachte er still. Auge im Auge mit einem Menschen das Leben ertragen, – das wäre schon viel. »Was man tun soll, Benno? Wege giebts so viel wie Menschen. Aber – man sollte vertraun. Nicht immer das Fluten sehen, ›die zehntausend Spinnen in der Kufe‹, das Getümmel der achtlosen Bestien; und die Heiligen darüber aus Regenbogen auch nicht. Das Leben ist kein Ballhaus, und ein Heiligtum auch nicht, und es wird nicht scharenweise gelebt. Gieb acht auf den Einzelnen! Es giebt nur Einzelne. Denen aber vertrau! Von dem fall nicht gleich ab, wenn er nicht augenblicks einstimmen will in deine Augenblickslaune. Seele kann nicht in Seele gelangen, obschon Leib in Leib. Leib fügt sich in Leib, und gezeugt wird aus Zweien das Eine. Seele in Seele, was zeugen die? Gemeinsamkeit. Wenn ich das Leben süß gefunden habe, so war es darin.« Ach, Cordelia! dachte Georg, und glitt von ihr zu der Schwester mit n, indem er sich sagte: Cornelia und Cordelia –: die Eine war, was die Andre, und darum verließen mich Beide. Eine Wiederholung nur, und ich habe es kaum gemerkt.

Benno saß still da, eine Hand auf der Tischkante neben sich. Er sagte:

»Du hast recht, Georg, natürlich hast du vollkommen recht. Immer hast du recht, und überhaupt – ich bin ja einmal so, daß ich immer auch den Gegenteil vollkommen begreife, a–«

»Aber,« rief Georg das Wort, das er längst kommen sah, »aber du handelst ja nicht danach! nach deinen Erkenntnissen! Du hängst ab nach zwei Seiten wie ein Gespaltener und –«

Benno ließ sich nicht abschütteln, flüchtete hinter Georg ins Zimmer und rief, ihm unsichtbar, von dorther: »Nein, und du hast doch nicht recht! Ja, das Leben mag so sein, wie du sagst, aber – – soll es denn immer so bleiben? Und wer macht denn, daß es vielleicht einmal anders wird? Würde die Welt nicht stehen bleiben, wenn Alle so wären wie du? Wer sorgt für Änderung? Wir sind das, wir! Die Träumer, die Schwärmer, die Seher der Ferne. Haben nicht immer Dichter und Weise, sie, die Spiegel der Menschheit, das Bild einer Welt aufgefangen, die hinter der sichtbaren liegt? Wir haben die wahrhaftigen, die platonischen Gesichte! Wir schreiben unsere Träume mit goldenem Griffel in die rosigen Wolken, und wer die Schrift liest, den erfüllt sie mit Sehnsucht. Sehnsucht, Georg, Sehnsucht! Was helfen denn eure Feststellungen, eure Hofmannsthals und Georges, wo alles erstarrt ist! Ich erkenne sie ja an, diese Form, ich bewundere sie, aber sie ist die Giftschlange, die euch alles erwürgt! Wir, wir, wir, die Träumer, die Schwelgenden auf den unerreichbaren Gipfeln, wir –«

»– pfeifen wie die Rattenfänger, und pfeifen die Narren in den Berg!« rief Georg aufgebracht und hieb mit der Faust auf den Tisch. Danach verstummte er in plötzlicher Erschlaffung und dachte: Wozu? Er hat ja keinen Kern, wie soll ich ihn angreifen?

»Na, lassen wirs gut sein, Benno, wir sind darin zu verschieden. Du –«

»Vielleicht, Georg, – und doch nicht. Ich verstehe dich ja, wir mißverstehen uns nur, ich meine genau das selbe wie du, nur –«

Georg kniff schmerzlich die Lippen zu. »Hör auf, Benno, es hat keinen Sinn. Weißt du –, ich bin auch sehr müde. Tu mir die Liebe und laß mich jetzt ein bißchen allein.«

»Ich gehe, Georg, ich gehe! Hättest du mir doch nur gesagt, daß du vielleicht lieber schlafen möchtest. Es tut mir –«

Georg brüllte beinah, verstummte aber im letzten Augenblick angesichts dieser schmelzenden Betrübtheit, die schon die ganze Stunde schwarz sah, bloß weil er an ihrem Ende erklärte, müde zu sein.

Benno nahm zärtlich Abschied, und Georg versprach, ihn in Bälde zu sich zu rufen, worauf er entfloh.

Georg

Nun bin ich bald am Ende der Kraft, dachte Georg, und fiel in den Sessel. Er wollte sich eilig bemühen, zu schlafen und zu vergessen. Aber die Lehne war rauh und heiß, er war nicht mehr gewohnt, im Sitzen zu schlafen, dachte, sich auf das Bett zu legen, aber – in Kleidern? nein, und ausziehn? Er blickte auf die Uhr, – nein, in einer Viertelstunde vielleicht kam die Anna. So rückte und drehte er sich hin und her, ächzte leise und meinte zu fiebern. Nicht denken, nicht denken!

Und was ist es denn, was war es, was gab mir wieder das Recht, mich so als stärker zu fühlen und gütiger? Ist er mir verpflichtet? oder dem Dasein? Es ist schrecklich, aber es ist wohl so, daß jeder Gegensatz an dem, den wir lieben, uns mehr Ärgernis bereitet als am Fremden.

Hat er nicht doch vielleicht recht? Wenn er so sprechen konnte, dies herausfühlen konnte aus mir: muß dann nicht doch ein quietistischer Hang vorhanden sein? ›Geh an der Welt vorüber, es ist nichts.‹ Ja, was will ich denn? Ich verstehe mich selber nicht. Ich will ändern; aber alles, was ich sehe, ist, daß ich vorläufig nicht kann …

Er saß schon wieder mit offenen Augen, gewahrte nun das noch aufgeschlagene Buch auf dem Tische und empfand bald den Wunsch, sich noch einmal nachzuprüfen, oder vielmehr, sich zu beweisen, daß er recht hatte und nicht so war, wie Benno ihm vorwarf. Das Buch –, nun, was drin stand, hatte seine Erledigung gefunden, aber es enthielt doch Angaben über den Weg.

Noch unschlüssig streckte er die Hand nach dem Buch aus, zog es langsam heran und begann, es auf dem Tischrande neben sich liegen lassend, zu blättern und zu lesen.

Angehängt an das erste der Gedichte, die er Benno vorlas, fand er da:

›Wahr im Stoff, unwahr in der Form ist dieses Gedicht wie fast alle derartigen, ich meine gedanklichen, von mir. Von der ersten Zeile bis zur achten ist alles echt. Bei der neunten beginnt schon leise Verwirrung (da ich, als ich dies schrieb, noch nichts ahnte vom Tode!), die letzte ist eitel Lüge, das heißt nur Wahrheit des Augenblicks, der aus dem Schmerz die Verachtung erzeugte. Wie aber dürfte ein Gebilde, das dauern soll, die Prägung des Augenblicks an sich tragen? Bogner hat wahrlich recht mit seiner Vergiftung. Ich hob diese Verse als die stärksten auf aus meiner Berliner Zeit, und die war so faul, ganz so faul wie ein morsches Stück Holz, das leuchtet; nur im Dunkel leuchtet, und nur aus Miasmen.

Mit achtzehn Jahren machte ich Gedichte von Heiligen: Er war schon der Vollendung fast ganz nah … So konnte keine Gestalt mir großartig genug scheinen, in ihr meinen Seelestoff kostbar zur Darstellung zu bringen. Der Vollendung fast ganz nah … ach, durch drei Jahre war selbst der Gedanke an einen Weg zur Vollendung unendlich fern! Auf Schritt und Tritt nur Griff um Griff nach dem Nächstliegenden, Ausfüllen mehr schlecht als recht, statt Erfüllung, – warum zum Unheil muß mir ein anderer Vers jenes Alters ins Gedächtnis kommen, wenn er auch, schlimmer als schlimm in diesem Fall, nicht von mir ist, doch behielt ich ihn wohl, ob wider meinen Willen:

Georg, der Trasse,
Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer,
Drum sieht er nichts als: Masse, Masse, Masse.

Ach, giebt es keine Erlösung aus diesem Klumpen von Wahrheit, der an mir hängt? – Ah, ein Licht! eine süße Strophe: wer sagte sie mir noch?

Richtig, Magda! An dem Morgen nach der Nacht, wo ich nicht starb, stellte sie mich wegen eines Briefes, den ich in der Nacht erwähnt habe, eines Briefes von mir an sie. Es war jener, den ich für sie bestimmt hatte, ihn nachher zu lesen. Ich gab ihn ihr, und sie sagte, nachdem sie las: was ich darin vom seefahrenden Sindbad und dem bösen Geist, den er schleppen mußte, geschrieben habe, erinnere sie an eine Legende, die Jason ihr und noch einigen Andern aus der Friedliebenden Gesellschaft einmal erzählt habe, und sie gab mir wieder, was sie davon behalten hatte. Jason hatte sie später für Renate aufgeschrieben, und so hatte A. die beiden Strophen daraus im Gedächtnis behalten, die mein eigenes, leichtes Versgedächtnis mir bewahrte. Die Legende handelte, wie mir schien sehr schön, von Orest, den die Eumeniden verfolgten, schlaflos, bis auch sie, die Verfolgerinnen einmal ruhen mußten im Schlaf:

Oh Nacht und Tiefe! Draußen auf den Stufen
Des Hauses ruht die Eumenide nun.
Noch ist die Gottheit dringend anzurufen,
So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn.

Die … die Wölbung schwindet,
Gestirne wandern über Wäldern fort.
Blick hin: er steht schon längst im Winkel dort,
Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet.

Wahr, oh wahr! Wenn wir ihn wirklich finden, den Schlaf, so ist es kein fremder, kein erst im Augenblick mühsam aus uns erschaffener, sondern Kindheitsschlaf, und er ist es, der ›uns wiederfindet‹.‹

Wunderschön! dachte Georg und gähnte. Alles ganz wunderschön! Bloß – wie soll ich damit regieren?

Immerhin, muß ich sagen, enthalten diese Dinge eine gewisse Kraft der Sprache und der Formung, die eigentlich nicht nur an dieser Stelle … sondern auch sonst im Leben … Seine Augen waren ihm zugefallen.

Oder, fragte er noch, ist das Ganze nur ungesättigter Geschlechtstrieb?

Darauf entschlief er.

Bogner

Renate stand mit Erasmus nach einem stillen und schönen Spaziergang durch den klaren Nachmittag der Wiesen vor Bogners jetziger Behausung, die im Tiefland um Böhne, ein kleines Stück unterhalb der alten Stadtwälle lag, bis auf ein nahes Gehöft einsam in weiter und flacher Gegend.

Renate wußte, daß Bogner einen ehemaligen Tattersall bewohnte; das, wovor sie stand, war ein kleines weißgetünchtes Haus, hinter dem sich das flache und schwarze Dach eines mächtigen Rundbaus – der Reitbahn – erhob. Auf ihr Klingeln erschien nach einiger Zeit der Maler selber, sie begrüßten sich hocherfreut, er führte sie in den Flur und gleich durch einen dahinter liegenden Gang zwischen den ehemaligen Boxen der Pferde, deren eine nur von einem großen und äußerst dicken braunen Rosse bewohnt war – Renate kam es bekannt vor, ohne daß sie sich gleich erinnern konnte –, während die übrigen mit Leinwänden und dergleichen Malsachen vollgestellt waren, in die Reitbahn.

In dem riesigen kreisrunden Raum war es noch taghell vom allseitig voll einflutenden Licht der breiten Fenster, die Renate für Augenblicke fast blendeten. Vor ihr, in der Mitte der Halle waren drei große Rechtecke, die nun zu Bildern wurden, Kehrseiten von aufgestellten Bildern, liegende Rechtecke, höher als sie selbst. Aufgespannte Leinwände waren im ganzen Umkreis an die Wandung gelehnt, häufig übereinander, hundertfach zuckend von abenteuerlicher Gestalt und lodernden Farben, und Renate ging hastig zwischen zweien der in flachen Winkeln gegeneinander gestellten Bilder und drehte sich um.

Da stand sie vor einem so klirrenden Aufgebot der Phantasie, daß sie zurückfuhr. Sie mußte sich zusammenraffen, um die Augen auf das nächste der Bilder zu heften, wo ein gewaltiger Schwung hinsprengender Pferde sie anzog.

Dieses Bild war sehr lang im Verhältnis zur Höhe. Einher vor einer drei Viertel der Bildhöhe füllenden Wand von schwarzem Blau flog ein Gespann fahler Rosse, graugelb, lebensgroß scheinend und überlebensgroß durch ihre Gestaltung, gewaltig an Gelenken, Hälsen und Häuptern, langausgestreckt im Galoppsprung. Dahinter – kein Wagen, nur ein einziges Rad mit erzbeschlagenen Speichen in bräunlichem Metallglanz, trug die Gestalt eines fast nackten Mannes, um dessen Brustmitte geschlagen ein kurzes rotes Manteltuch flatterte, einen Arm und die Hand mit einer großen Bewegung des Lenkens ausgestreckt, mit kaum sichtbaren Streifen von Zügeln zu den Rossen hin. Dieses Rot des Mantels, das bräunliche Weiß seiner Glieder und das fahle Gelb des Gespanns war wie das Blau der Arenawand nicht irdisch; unbekannte Farben, entseelt vom Lichte dahier, innerlich verfinstert und wie getränkt mit einer tieferen Essenz farbigen Daseins. – Aber Renate erschrak vor dem oberen Viertel des Bildes, aus dem Gesichter sie anblickten, tausend wie es schien, in Reihen übereinander und immer tiefer und kleiner in eine niemals endende Ferne hinein. Und all diese waren schändlich entstellt von Verhöhnung, Gelächter, Spott, Roheit, allen Lastern. Und so blickten sie alle in einer fleckigen Buntheit, ein wimmelndes Blumenfeld strotzender Abscheulichkeit. – Jedoch unten der Held, schmalen Gesichts, das einen eher duldenden als tätlichen Ausdruck trug, zog ruhig dahin.

Dies ganze unerhörte Schauspiel zeigte sich Renate in einem außerweltlichen Licht, das nicht darauffiel, sondern ihm, seinen Farben, nur entsickerte; in einer trotz der jagenden Fahrt gefesselten Stille; tosend und doch tief in Ruhigkeit; in Vereinsamung, in Entlegenheit; in einem so fernen Fürsichsein, daß Renate glaubte, über eine Mauer einen Blick in verbotene Gegend zu werfen.

Endlich gesättigt fürs erste, trat sie zurück und vor das nebenstehende Bild hin.

Hier war Kampf. Im dunkel gehaltenen Vorgrund zur Linken galoppierte auf einem grau geharnischten Pferde mit braunen Beinen ein schwarzgrau Geharnischter über einen Haufen Erschlagener schräg aus dem Bilde, statt des Kopfes nur einen graden Helmtopf mit Augenschlitzen auf den Schultern, den braunen Schaft seiner Lanze aus dem Bilde heraus gerichtet. Links von ihm tief in der Bildecke zusammengekauert war ein nackter Neger, der den Bogen spannte –, dessen Pfeil stak rechts drüben in der Weiche eines Sarazenen, der mit seiner reichen Kleidung nach hinten schlug, so daß der Pfeilschuß die Breite des Bildes überspannte. Den Mittelgrund nahm eine leere Aufhöhung ein, und hier war alles hell, weißlich und silbrig, und silbrig grüne und eisbläuliche Erscheinungen. Ganz hinten, klein, jagte mit lichtblauen Bannern, weißen Harnischen und weißen Pferden ein Reiterzug die Anhöhe herauf und jenseits wieder hinunter, entschwindend. Er war herausgekommen aus einem altertümlichen silbergrünlichen Stadttor, das vor dem dunklen Hintergrund wie vor einem düsteren Meere stand. Inmitten aber, wo der Raum der Anhöhe weit und breit frei war, kam langsam, Renate sichtbar erst jetzt, die in der Entferntheit kleine Gestalt des Eroberers geritten, gleich erkennbar als solcher. Das weiße, massive Roß in lichtblauem Geschirr bewegte sich, den dicken Hals angezogen, sich drehend, in einem großartigen Pomp, geführt von einem Pagen in Blau und Silber. Der Heros im Sattel zeigte, so klein er war, die Züge des Fahrers vom ersten Bild. Er schien eine Wolke von weißem Licht um sich zu verbreiten.

Renate staunte, kaum atmend, über die Stille. Die schmetternde Gewaltigkeit des Vorganges vorn schmolz im Augenblick an der ruhevollen Erhabenheit dessen in der Mitte, dessen Feierlichkeit nun in eins klang für sie mit jener, in deren Schutze sie hergekommen war durch den sonnenstillen Charfreitag.

So wagte sie sich vor das dritte Bild.

In einem Sessel saß hier die Madonna auf einem kleinen Thron aus verschiedenartigem Marmor, schwarzem, weißem und braunem, Stufen, Plattform und Säulengeländer, in einem Gewand von ähnlichem schwarzen Blau wie das gewitterwandgleiche des ersten Bildes, gradausblickend, sehr still – und plötzlich mit ihren eigenen, Renates, Zügen, den unheimlich entfremdeten durch dunkle Brauen und schwarzes Haar. Vor ihr der stehende Knabe in einem hellrötlichen Hemd, hatte ein sanft ovales Gesicht, von schwarzen Haarsträhnen umrahmt, leicht bräunlich, indisch, und die mandelförmigen Augen von lichtem Blau hielten ein zauberhaftes Lächeln der Stille wie eine Blume fast mit Fingern empor. Auf dem braunen Erdboden davor kniete ein nackter Mensch, der eine schmale Krone von braungoldenen Zacken niederlegte, und in den gemeißelten Gliedern, weiß mit bräunlichen Schatten, glaubte Renate die des Fahrenden zu erkennen.

Und nun von beiden Seiten auf diese Gruppe zu war in schreitender Haltung je eine Reihe von Figuren geordnet, in Mänteln, in Priesterstolen, mit Tiaren, in Harnischen, in bürgerlicher Festkleidung des Mittelalters, Frauen dazwischen, jede behangen mit Farbigkeit, mit Purpur und dunklem Grün, braunem Pelz, Violett und bleichem Gelb, mit zaubrischem Rosa, gewässertem Blau, Rostrot und Zimtfarbe. Und jede war in sich beschlossen und allein, obwohl oftmals nur ihr Gesicht, ihr Oberteil zwischen den Andern erschien, nachdenklich, verschollen, die schwer ernsten Züge umwölkt von Zeitlosigkeit, aus der sie blickten.

Diese beiden Züge immer kleiner werdender Figur entfernten sich in ruhiger Biegung in den Hintergrund. Daselbst dehnte zu unendlich scheinenden Tiefen Landschaft sich aus: ein Strom, grade durchfließend von links nach rechts, Brücken darüber, Wälder entfernt, Gebäude. Und überall befanden sich und tauchten auf winzige Gestalten, Pflüger, Jäger, Pilgerscharen, Wandrer, Reiter, ein Hirt. Und jeder war ein in Kristall abgeschlossener Teil Lebens, in seinem Schicksal befangen, friedvoll, ein ihm Aufgetragenes ausführend, sein volles Dasein darstellend in diesem stillen Augenblick der Handlung, in einem kleinen Umkreis von Einsamkeit jeder und in einer Luft ohne Verhängnis. Ah diese Luft! Woher kam sie? Ganz klein in der Ferne eine niedrige Kette grünlich weißer Gebirgszacken war vom linken Rahmen zum rechten gespannt in einer atemlosen Stille; und über ihr rieselte ein morgenfarbener Himmel, vielleicht bläulich, vielleicht grau, mit bebenden Ahnungen von Licht, von Röte, von erbleichenden Sternen, und doch nichts als Schweigen und Hauch des unendlichen Raumes, der in Morgenluft schaudert.

Renate verirrte sich völlig in diesem Bild. Augenblicke lang schien das immer wieder anziehende eigene Antlitz sie auf etwas Unerkennbares aufmerksam machen zu wollen, allein kaum beim Raten, verlor sie jede Besinnlichkeit über der tiefer und schauerlicher gewordenen Entseeltheit ihrer Züge von menschlicher Seele; als stünde sie vor blickender und atmender Unsterblichkeit, aus der doch in der nächsten Sekunde schon das menschlichste Lächeln süßer Ergebenheit wie eine Blume tauchte. – Dann versuchte sie, sich durch die Mauer erstarrter Lebendigkeiten in Kleidern einen Weg zu bahnen, aber – hielt hier das bläuliche Licht im Pflaumenschwarz einer Samtbrust, dort das knisternde Grau von Atlas, das braune Gold eines Harnischs sie auf –, so jetzt die tiefe Leidenschaftslosigkeit all dieser Züge, dieser Gegenstände haltenden Hände; dazu der Gedanke, daß nur feuerflüssige Leidenschaft eines Schöpfers diese gebildet haben könnte; daß sie deshalb so unbeirrten Ernstes erscheinen mußten, weil sonst Übermaß sich ergeben hätte. Nun aber hatten sie nur Dasein, und dieses in Ewigkeit. – Auf einmal hatte sie dann doch die Reihe durchbrochen und fand sich selbst auf der Wanderung in der dunklen Weite, atmend die Morgenfrühe, die Einsamkeit, vorüber an dem stillen Fischer auf der Brücke, zu dem Hirten am Waldrand, zum kleinen Pflüger unter dem Eichbaum, – und schon wieder fern allen diesen und bei sich selbst, sah sie jeden in seine entlegene Vereinsamung herversetzt aus der Oberwelt; aus mühsalvollem Leben in dies elysische Land, ewig fortzufahren im Tagewerk, kummerlos, in der zeitlosen Stunde vor Aufgang der Sonne, deren verborgene Strahlen niemals diese Berggipfel übersteigen würden.

Sie merkte endlich eine Veränderung an ihren Augen und sah, daß es dunkel geworden war. Seltsam waren die eben noch deutlichen Bilder im nächsten Augenblick unkenntlich geworden, und mit einem Gefühl von Unheimlichkeit wandte sie sich um.

Da standen ja Menschen! Wie? Menschen? oder Gemalte? Erscheinungen? Spiegelungen von – ja, Bogner, Jason und Erasmus, die in der Nähe der Wand standen und etwas betrachteten. Sie vermochte nicht hinzugehn, nicht zu diesem Menschen, der – jetzt erst traf sie der Schlag –, der dieses gemacht hatte.

Jason aber kam daher, neigte sich freundlich zu ihr und gab ihr die Hand. Erfreut von der menschlichen Wärme darin, sagte sie leise zu Jason: »Freund, erkläre mir dieses!«

»Dies«, sagte der bereitwillige Jason, »ist gemalt. Es ist ein Werk des Lebens und deshalb höher als das Leben. Hier ist nicht Wirklichkeit, sondern Bild. Hier ist kein Handeln, das wir kennen, hier ist kein körperliches, keine wahrnehmenden Sinne, und deshalb auch keine Beziehung, kein Schicksal, keine Verstrickungen und keinerlei Erregung. Könnte man derlei nachmachen mit Farbe und Pinseln? Und was käme heraus dabei? Dies ist wahrhaftig gemalt: andres Leben, andre Handlung, andrer Sinn, andre Gesetze, andere Lust und anderer Boden, der nicht sich betreten läßt, und Landschaft und Wesen, die wir nicht anrühren können, um ihnen gleich zu sein. Hier ist nichts gelöst als ein sehr einfaches Rätsel, nämlich das des Entfremdens. Es ist, wie wenn du einmal in den Himmel gelangtest, – wie fremd müßtest du dir erst werden! Und dies ist des Lebendigen letzte Kraft: Schauer und Magie eines höheren Lebens hervorzurufen, aus dem die uns anwehende Luft uns die Witterung des Ewigen zuträgt.«

»Es scheint sehr einfach«, murmelte Renate kaum bewußt und mußte sich wieder zu Bogner umwenden. Sie sah durch verschleierte Augen, daß er vor Erasmus stand, eine Hand auf der höheren Schulter des Freundes, der in der alten ruhigen Haltung, die sie kannte, den Kopf etwas gesenkt hielt und zuhörte, was Bogner leise mitteilte. Indem wurde Renate bewußt, daß jener der Anfang ihres Herzens gewesen war, – und nun dieser das Ende sein sollte, und nichts erstaunte sie so sehr als die Ähnlichkeit dieser Beiden. Sie konnte sich bald nicht mehr halten, ging zu ihnen, die sich nun wandten, und sagte, jeden leise am Arme berührend, dankbar zum Einen, dankbar zum Andern: »Ich wußte es wohl, ihr seid Brüder! – Ich habe euch lieb.«


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