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Renate, die Augen aufschlagend, staunte über die Schönheit der Welt.
Vom Schlummer tief erquickt, lag sie im Grase, leicht, ungeblendeten Auges, im Innern zart im Entflüchten abwärts lächelnde, farbige Träume, vor Augen die nahe von allen Seiten herangedrängten grünen Nischen und Bögen von Flieder, Goldregen und Holunder – voll großer, noch grüner Beerenscheiben –, durchspannt von einer leeren Hängematte, durchstochen von langen, haarfeinen Goldstrahlen der Sonne, und nahe gegenüber seltsam schön und nachdenklich die durchsichtigen Züge Ulrikas; sie saß, seitwärts die Knie unterm blaßvioletten Rock, am Stamm der Kastanie; auf der goldenen Tunika mitten vor ihrer Brust brannte in feuriger Stille ein Sonnenfleck; das dunkelrote Haar war wieder in Flechten schwer aufgenommen; sie hatte die rechte Hand neben sich ins hohe Gras gestützt; die linke lag im Schoß zwischen einer großen, grünbeerigen Holunderscheibe und einigen aufgebrochenen Kastanien, grün mit noch weißem, feuchtem Kern. – Glücklich in sich, glaubte Renate sich atmend zu fühlen mit ganzem Leib, wie in der Mutter ein Kind, auswärts strebend nach keiner Richtung, sondern alles in sich habend, Natur und Menschen, Gegangenes und Kommendes. Ich bin glücklich, dachte sie dankbar, nun darf ich es sein! Oh, wie gut ist der Schlaf! Josef ist im Haus, Onkel gesund und froh, und Woldemar fern und nah … Holunderbeeren … Wann sah ich die einmal schwarz an Ulrika? Zu Irenes Hochzeit trug Ulrika sie im Haar, ein schwerer, böser Tag, und nun ist doch alles wieder heil.
»Sage, was denkst du, Ulrika?« fragte sie leise. Ulrika wandte langsam das Gesicht herüber, ihre Augen glitten über Renate hin und blieben stehn; mit einem eigentümlichen Blick von Glücklichkeit und Ferne, den Renate nicht recht verstand, sagte sie: »Ich horche …«
Bemüht zu lauschen, glaubte Renate in der Kapelle hinter sich Magdas Singstimme zu hören. Allein es war still. Ein kleiner Vogel zirpte entfernt im grünen Dickicht. Meinte sie den? Eine Scheu hinderte Renate, zu fragen.
»Du«, sagte Ulrika nach einer stillen Weile, »hast eine Stunde geschlafen, und ich war glücklich unterweil.« Sie hob den Stoff im Schoße ein wenig an, so daß Holunder und Kastanien ins hohe Gras rollten, glättete ihr Kleid, ein paar winzige Blätter und Stacheln fortstreifend, und fuhr fort: »Glücklich. Eine volle Stunde. Freilich auch der Vormittag war schön, er war so heiter –, aber all das Bunte war nicht in mir, sondern lose herum, und auch das Glück meine ich nicht, das heiter ist, sondern das ernste. Eine Stunde davon, – vielleicht ist das so viel, wie ein Mensch wünschen darf, wenn ein Wunsch ihm freigestellt würde vom Schicksal. – Und nun geht es wieder weiter.«
Sie sprach sehr gefaßt. Ungewohnt tief klang Renate ihre langsame Stimme. »Sage nun alles«, bat sie schlicht.
Ulrika faltete die Hände um das Knie, lächelte, sah aufwärts, und mit einem Schlage war ihr ganzes Gesicht so heilig, daß Renate auf das tiefste erschrak und sich und alles vergaß, kaum hinzuschauen wagend und bald nur noch hörend.
»All meine Gedanken?« sagte Ulrika leise. »Ich will es versuchen. Eben stand alles still. Ein Vogel zirpte irgendwo, und mehr war nicht. Die Sonne wanderte, ihre Strahlen kamen schräger, und so füllte sich langsam die Schleuse. Nun steht die Flut bis zum Rand, die Fahrt geht weiter. Es geht langsam im Anfang, da kann ich noch allerlei am Ufer sehn, das geräuschlos zurücktritt, und es dir nennen.
»Von ihm und mir, was früher war, weißt du alles. Zwischen Seele und Seele blieb alles so unverändert, wie ich es dir damals beschrieb, du wirst es noch wissen. Einmal machtest du einen Vers auf ihn, das ist lange her. Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner, so hieß es, und daran dacht' ich heut, als dein Vetter Josef von der Selbstzucht sprach. Auch er hat mir einmal davon gesprochen. Die Bienen, so sagte er, lassen die Giftblumen aus, aber nicht so das männliche Herz im Flug durch die Welt. Auch aus Unrat und Gift den lebendigen Honig zu schmelzen, das ist die Aufgabe des Werdenden bis zum siebenzigsten und achtzigsten Jahr. – Alle seine Worte stehn unverlierbar in meinem Herzen.
»Doch liebe ich ihn nicht. – Ich fürchte ihn vielleicht.
»Zwanzig Jahre und mehr wuchs ich auf an mir selber, glaubte den Anforderungen des Lebens zu genügen, liebte meine Mutter und die Freunde, schrieb Briefe und las, nannte mich stolz eine Dienerin und fühlte daneben immerhin das Fehlende. Ich liebte niemand. Ich wußte es nicht, denn ich liebte die Kunst.
»Er aber liebt nicht die Kunst, und: man darf sie nicht lieben, sagt er, man darf sie nur haben. Zu lieben ist die Welt, Kunst ist nichts. – Der Schatten auf einem Blatt, die Runzel in einer Stirn, an einem Stuhlbein das zögernde Licht, des Baumes Wuchs und große Haltung, die Ebene, menschliches Lächeln, alle menschlichen Verwandlungen durch Trauer und Hoffnung, Trübsal, Geduld, Gram, Leichtheit und Tiefen, die sind seiner ernsten Seele lieb, und über diese gebeugt, macht er sie nach mit einer ungeheuren Kunst, die er hat, daß sie sich wieder erkennen und ihn ansehn und sich verwundern und sagen: Wir sind es. – Und dann sind sie schön.
»Oh, er sah sie so großäugig an, wie liebten sie ihn, sie sahen ihm lange nach, wenn er vorüberging, er wanderte ja tastend im Irrsal, aber er erzog sein Herz. Er diente. Er wurde weit, alles Land zog in ihn ein, Schicksale kamen und schlugen ihre Zelte in ihm auf, der Strom rollte um sein Herz, Vögel brachten Samen, und Bäume schlugen Wurzel auf ihm, und die Vögel spielten auf im Gezweig. Wir sind es! sangen sie, wir sind es! – In seinem Schatten schlief ich ein und war froh.
»Er sagte, er liebe mich, und ich wunderte mich nicht. Er liebte so vieles zu seiner Zeit. Er wollte mein Herz, er sagte, es sei weich, und ich gab es und gern. Er trägt ja das Abbild fremder Gesichter in Büchern nach Hause, und uns sind es Lichter und holdes Gebrause. Er malt sie mit flüchtigem Strich auf den reinen Grund seiner Liebe zum Lachen und Weinen, – wie schön ist die Welt!
»Und alles war gut.
»Alles schien gut, ich wußte es, ich fühlte es nicht. Denn ich war immer nur ein armer Mensch; das, was ich konnte, tat ich wohl, jedoch am Grunde meines Lebens wucherte es fort, die trüben Gedanken, wer kann sie verscheuchen? Denn ich liebe ihn nicht.
»Oh, nicht dies ist es, mein Gott, nicht die Kluft zwischen ihm und mir, nicht daß, wenn er liebend und eifrig sein ganzes Innres vor mich hinschüttete, daß hinter den goldenen Bergen immer die graue Wand sichtbar blieb, daß ich seufzen mußte und sein fernes Herz hören hinter dieser Wand, wo es im Ewigen wandert mit Stürmen und Flüssen, dort, wo ich nicht bin.
»Dies ist es nicht.
»Wenn es still ist und ich lausche, höre ich es von fern. Oh – jenseit ist sein Land, das Allerseelenland; in dem er wandert fern und wohl zu Hause ist. Du kannst es heute sehn und morgen, wann du willst – betreten kannst du's nicht. Dort ist ein jeder Baum sein Haus, Nachtlager, Traum, und jede Frucht ihm Speise. Oh nein, er hat es selbst gemacht, es ist nur, weil er ist.
»Ich liebe ihn nicht, weil ich ihn niemals genug lieben könnte, weil ich nicht hineingelangen kann dort. In meinen grauen Stunden liege ich davor, die Stirn gebeugt auf die Knie und klage. In den heiligen Stunden lege ich die Stirn gegen seine Mauer und die flachen Hände und fühle im kalten Stein den zuckenden Schlag seines Herzens, denn voll von ihm, so voll ist jenseit die göttliche Luft, daß es den Stein schwellen und tönen macht, – ich aber bin dort nicht.
»Oh, wer kann sich denn genug tun in der Liebe, wenn er liebt? Wer kann jemals aufhören, zu begehren, wo alles unendlich ist! Wer kann sich an die Brust schlagen und sagen: Genug! Wer wollte die Arme breiten um die Welt und sagen: Ich habe! Ich fliege und bin doch kein Vogel, ich flute und bin doch kein Strom, ich singe und bin nicht Gesang, ich brenne und bin nicht die Glut, ich schöpfe und schöpfe mich aus bis zum Boden, und es ist nicht Liebe genug, nicht Liebe genug.«
Ulrika legte die linke Hand unter die linke Brust und sagte nach langer Zeit kaum vernehmbar leise:
»Aber doch ist er zu mir gekommen, und ich – wenn ich nun lausche auf das ferne Pochen seines Herzens, so höre ich es näher und näher, nahe, ganz nahe, und endlich ist es hier; nicht im Herzen, sondern darunter trage ich das seine. Drei Monate sind es bald …«
Blaß, leuchtenden, schwimmenden Auges blickte sie aufwärts, ihre Lippen zitterten, sie schluckte, dann fiel die Hand unter ihrem Herzen fort, sie setzte einmal, zweimal zum Sprechen an, bis die Worte kamen, ein Hauch:
»Gott! – Gott! – Gott! – Nun habe ich dir alles gesagt, was göttlich und schön war. Rein, rein, rein habe ich es dir hingehalten, habe keine gemeine Schlacke daran gelassen und es gehalten, wie einen schweren Spiegel, vor dein Gesicht. Nun – laß ichs – – fallen.«
Lange war es still. Mit brennenden und vergehenden Augen richtete Renate sich langsam auf, kniete, bückte sich auf Ulrikas Hand und küßte sie. In demselben Augenblick stürzte sie seitwärts mit Gesicht und Brust so schwer auf den Boden, daß Renate ein leises Dröhnen durch die Knie bis zum Herzen zittern fühlte. Die Luft war noch ganz voll von dem leisen Gesang der Liebe; Renate, hülflos auf die Daliegende blickend, weinte vor sich hin und sah mit grenzenlosem Mitleid diese goldenen Arme und die Hände über ihren Kopf lang hin geworfen, so daß sie dalag wie eine Angespülte. Schicksal und alles hatte sie ausgegossen und verströmt und war nun wohl so leer in dünner Hülle, daß der Schritt der Stunde, der sie träfe, einbrechen müßte; aber vielleicht stand die Stunde still, getraute sich nicht und ging leise einen andern Weg.
Renate wagte es endlich, legte sich zu Ulrika, faßte nach einer ihrer Hände; aber wenn sie auch neben einer Gestürzten lag, so empfand sie doch nur, daß sie ihre eigne, geringe Demut zu einer unendlich größeren gebettet hatte, und daß die Hülflose immer noch wie ein Engel war gegen sie. »Weine nicht, oh weine nicht!« bat sie. Ist nicht Josefs Vater heil und gesund, fragte sie sich, Rettung suchend, ist nicht dieser Tag sonnig, begünstigt, was kann denn nur fehlen?
Ulrika setzte sich auf, auch Renate mußte es tun und sah, daß Ulrika nicht Tränen geweint hatte. Ihre Augen waren heiß, aber trocken, sie griff nach ihrem Haar, steckte eine gelockerte Flechte fest und sagte ruhiger:
»Was wußten wir von Kindern, Renate! Sage die Wahrheit! Sie kommen und sind da wie so vieles in der Welt, Häuser, Blumen, sind Freude oder Plage, und wir wußten wohl, daß wir eine bestimmte Beziehung zu ihnen haben sollten, aber wir bedachten es nicht. Im Gegenteil, man hat uns so erzogen, daß wir alles eher bedenken als sie. Du freilich bist klüger als ich, aber ich gehörte doch zu denen, die nichts wissen, denen am Hochzeitstage ihre Mutter weinend um den Hals fällt und unverständlich von grausigen Dingen spricht. Eine von denen, die beim Einrichten der neuen Wohnung hin und wieder so etwas hören wie: Vorläufig genügen ja vier Zimmer, aber wenn erst Kinder kommen … Und man hört das nicht, denn hier ist – wie sagte dein kluger Vetter? – eine Lücke im Gesichtsfeld, die weiß der Himmel mit Keuschheit so viel zu tun hat wie der Teufel mit Gott.«
Renate, die unter unklarem Empfinden zustimmen mußte, hörte sie immer härter und zorniger weitersprechen:
»Und wenn wir auch dies und das in Büchern gelesen haben, um zu wissen, du wirst es ja zur rechten Zeit immerhin getan haben, wie ich es nicht tat, so lasen wir doch nur, – wie man auch von einer Löwenjagd liest, ohne zu denken, daß man je dazu kommen könnte. –«
Sie schwieg grüblerisch, Renates Gedanken waren weit fortgeeilt, sie faßte wieder Ulrikas Hand und sagte eilig: »Du, sage doch gleich: soll ich Magda bitten, daß wir nach Helenenruh fahren, wenn es soweit ist? Du weißt, ihr gehört Helenenruh, und –«
»Du weißt ja noch nicht alles,« unterbrach Ulrika, aber sie lächelte danach und sagte: »Du bist doch ein praktisches Mädchen, Renate, ich hatte das gar nicht gewußt.« Wieder dunkler blickend, fuhr sie fort:
»Ich fürchte mich vor dem Kind, ich erschrak zuerst namenlos, und noch heut kann ichs nicht glauben.« Ihre Augen glänzten stumpf, als sie sagte: »Wir werden von bösen Geistern erzogen, Renate, zum Grimm erzogen, und –« sie jammerte jetzt fast – »was soll ich mit einem Kind? was weiß ich von einem Kind?« Sie lachte plötzlich verzerrt, ja grausam, indem sie schloß: »Ich hab nun schon seit Wochen die Vorstellung, daß ich sehe, wie mein schwarzer Flügel Kinder bekommt, immer eins nach dem andern.« Sie brach schluchzend ab und verbarg ihr Gesicht.
Da merkte Renate mit leisem Schauder, daß etwas in ihr war, das dies nicht an sich herankommen lassen wollte. Sie wehrte sich Augenblicke lang besinnungslos nach zwei Seiten hin, und plötzlich stand der Herzog vor ihr. Entsetzt sprang sie auf, glühte und stieß rauh hervor: »Nein!« Sie streckte die Hände von sich, krallte wild die Finger, biß sich auf die Lippen und sagte wieder: »Nein!« und ein drittes Mal: »Nein!« Sie sah Ulrika vor sich stehn, unbegreiflich dunkel glühte ihr das rote Haar. »Was sagst du?« hörte sie von einer fremden, nahen Stimme und stammelte: »Was hast du gemacht, Ulrika, um Gottes willen, was hast du …«
Dann wurde sie ihrer bewußt, rüttelte sich hart zusammen, strich mit der rechten Hand den linken Arm hinunter, mit der linken den rechten, schloß einen Haken am Halsausschnitt, zog am Saum der Tunika über den Knien und arbeitete unterdes mit gewaltiger Anstrengung innerlich an einem Koloß, der aus dem Wege sollte und mußte, und dann hatte sie ihn aus dem Weg. Eine schneidende Stimme zwischen ihren Schläfen sprach: Das war Unsinn. – Mit flackernden Augen und zitterndem Mund sagte sie zu Ulrika: »Man denkt diese Dinge nicht, man tut oder läßt sie.« Noch brauste es um sie, sie stand frierend im warmen Schatten und sah einen feinen Sonnenstrahl durch das Laub, vorüber an einem zitternden Blatt, dessen Spitze er vergoldete, nach dem Stamm der Kastanie stechen, wo ein talergroßer Sonnenfleck erschien und drinnen, sehr deutlich und ganz hell, die Flecke und Falten der Borke. Rundherum war Grün und Schatten.
»Ja, und nun ist es genug,« sagte sie kalt, »komm, sprich nun weiter, du Gute!« und zog sie, an den Boden gleitend, mit sich nieder. Ulrika zauderte noch mit besorgten Augen, besann sich eine Weile und fing ruhig an zu sprechen:
»Damals, vor drei Monaten, schrieb ich an meinen Mann. Er lag damals vor Valparaiso, der Brief reiste ihm nach und erreichte ihn erst in Deutschland. Ich schrieb ihm, daß – daß wir ja nie verheiratet waren, daß ich bei ihm geblieben sei, weil er sagte, daß er mich liebe, und es wollte; daß ich nie gewußt hätte, was das heiße für ihn; daß ich seine Güte kaum begriffe, die nie gefordert habe, obgleich er doch im besten Vertrauen auf mein Wissen und meinen Willen vor Jahren den Bund mit mir schloß, dessen Erfüllung ich dann verweigerte; und dann schrieb ich, daß ich nun alles verstünde, weil ich selber liebte; daß ich ihn um Freiheit bitten müßte … Mehr wagte ich damals nicht zu schreiben; es war ja auch wohl alles, für mich war es das, – freilich, was wissen wir von den Gedankengängen eines Andern?
»Dann kam er. Ein wortkarger Mensch war er stets, jetzt brachte er kaum ein Wort heraus. Seine Haut war braun von Meer und Sonne, aber es schien kein Blut darunter zu sein, sie war grau. Wenn es sein müßte, sagte er, so solle ich einen Andern lieben; meine Pflicht sei freilich, diese Liebe zu bekämpfen, doch sei das meine Sache, er habe ja mein Herz nicht in der Hand. Aber daß ich einem Andern gehören solle, das wäre nicht zu ertragen. Er ließe mich nicht frei.
»Vielleicht glaubst du, daß es in diesem Augenblick viel schwerer gewesen sein müßte, den Mut zu haben, den ich vor Monaten nicht hatte. Es war wohl auch kein Mut, es war – die Henne verjagt den Habicht blindlings, – hieß es nicht so? – Ich war eiskalt vor Angst, aber ich sagte ihm die Wahrheit.
»Er kam auf mich zu und sah mich nur an. Oh sein Gesicht, sein Gesicht! Laß! laß!« rief Ulrika, die Hände vor den Augen. Sie ließ die Hände fallen, sah vor sich hin und sagte: »Wie Asche von Papier, so war es. Dann ging er hinaus. Er ist bei meiner Mutter gewesen und hat wohl den Namen erfahren. Aber das war vorgestern, bei Benvenuto ist er nicht gewesen, auch weiß niemand sein Haus, selbst seine Eltern wissen nur ungefähr, wo es liegt, und – du lieber Gott,« schloß sie kopfschüttelnd, »was könnte Benvenuto geschehn!«
Seltsam klang Renate auf einmal der Name Benvenuto im Ohr, – als sei der Maler plötzlich ein andrer Mensch dadurch geworden, zarter gleichsam und nicht mehr so abgewandt. Indem sah sie Ulrika's stille, traurige Züge sich heben und von einem Lächeln kräuseln, als ob sie jemand ansehe, und hörte sie gleich darauf sagen: »Sieh da, Jason!«
Richtig – Renate wandte sich – stand dort Jason, halb verdeckt vom Buschwerk wie ein guter Geist der Gewächse, schwarz gekleidet, sehr weiß von Gesicht durch das Grüne ringsum; so nickte er von oben auf die im Grase Sitzenden mit freundlich glänzenden, schwarzen Augen und sagte: »Ein schöner Anblick, ihr Beiden, das muß ich sagen.«
Renate, ein wenig hochmütig über diese äußerliche Art, zu sehn, sagte, wie ihr selber schien, einfältig: »Es ist nicht alles Gold, was glänzt, Jason.«
»Es sieht doch aber gut aus,« versetzte er beharrlich, »ihr kennt nur viel zu wenig meine Vorliebe für schöne Gegenstände. Jetzt zum Beispiel habe ich Lust, Brahms' deutsche Tänze zu hören. Ich glaube fast, ich bin deswegen hergekommen.«
Renate blickte kopfschüttelnd und forschend Ulrika an, aber die erhob sich gleich, stand frei da und sagte: »Gern, Jason, wenn Renate will …«
Da dachte sie, daß Jason doch wohl insgeheim das Rechte meine; daß es gut sei, eine Zeitlang die Ohren mit schönem Geräusch zu füllen und das Herz zu erleichtern, sie nahm Ulrikas Arm und wollte sie durch das Gebüsch auf den Weg ziehn, doch mußte sie sich noch einmal umdrehn, da sie Jason sagen hörte: »Was liegt denn da?«
Im hohen Grase lagen zusammen eine Schildpattspange Renates, eine Holunderdolde und zwei grüne Kastanien, ein seltsam armes Häuflein, wie Spielzeug von einem Kinde, das plötzlich fortgerufen wurde.
»Blumen, Früchte und eine Spange,« sagte Jason, sich bückend, nahm die Spange auf und gab sie Renate, indem er leicht bemerkte: »Das übrige Spielzeug kann da liegen bis nächstes Jahr; vielleicht findens dann andre Kinder und spielen damit.«
Jason wußte, schiens, wieder alles.
Sie saßen in der Kapelle an den beiden Flügeln, im rechten Winkel zu einander, so daß sie sich sehen konnten, und spielten ohne Noten einen der heiter und festlich stampfenden Tänze nach dem andern, zuweilen sich zulächelnd, so daß Renate heitrer gestimmt, wenn Ulrikas Gesicht leicht emporgedreht von ihr abgewandt war, durch die laute Musik wieder ihre leise, fast nur atmende Stimme hörte, mit der sie den reinen Gesang ihrer Liebe aus sich schöpfte.
»Bravo,« sagte Jason, als sie geendet hatten, »das hat mir sehr gefallen. Es ist doch sehr sonderbar und kaum zu begreifen, wenn man so vier Hände sieht, immer zwei ganz für sich, springend hin und her, greifend und tanzend, und dann diese ordentliche, sinnreiche Musik hört. Aber dieser Brahms ist nun weiß Gott und wahrhaftig wie schöne Kleider. Darin ist er Feuerbach wieder ähnlich, Feuerbach ist auch lauter schöne Kleider und kein Herz.«
Renate blickte sich um; Jason saß über ihr auf dem Drehstuhl vor der Orgel, hatte das rechte Schienbein quer vor sich auf den linken Oberschenkel gelegt, ganz hoch, und hielt es mit beiden Händen wie ein delikates Instrument.
»Kein Herz,« sagte sie, »Jason, das geht zu weit, – aber –«
»Ach, ich habe mich wohl auch versprochen,« unterbrach er sie, »ich meinte irgendeinen andern Gegenstand mit H –, warte, wir werden das gleich haben, Halsband, Handwerk –« er zählte, innerlich suchend, weiter –, »Herrlichkeit, Hintertür, Hoheit, Humor! das wollen wir nehmen,« schloß er blinzelnd und zufrieden, »und nun, was wolltest du sagen?«
»Ja, nun weiß ichs nicht mehr,« lachte Renate, »Ulrika, vielleicht weißt du es.«
Ulrika, die Hände vor sich auf dem Tapet, sah aus, als ob sie eifrig nachsänne. Jason aber war aufgestanden. »Ja. – Ja, gewiß,« meinte er zerstreut, vor sich hinsehend, »allein …« Er ging die Stufen hinunter, hielt an, sah angestrengt mit gerunzelter Stirn gegen den Fußboden und ging plötzlich durch den Raum und hinaus.
»Was hatte er denn?« fragte Ulrika. Renate machte, ohne denken zu können, ein paar Griffe im Baß, formte einen Übergang, hörte gleich darauf Ulrika in der Mittellage einfallen, und dann waren sie, ab und zu einander mit Frage und Bejahung anblickend, im leichten, verfließenden Durcheinander der kunstlosen Verknüpfungen und Lösungen, die sie sich aufgaben und ausführten, bis wieder Jason zwischen ihnen stand und gewillt zu sprechen schien. Sie hörten auf, und er sagte zu Ulrika:
»Es wird doch besser sein, wenn du jetzt gehst. – Ich habe Reinhold gebeten, vorzufahren,« sagte er leicht zu Renate hinüber, »möglicherweise ist es eilig. Aber du mußt dich nicht sorgen, Kind, ich kann mich auch irren«, endete er ermunternd, indem er die linke Hand auf Ulrikas Schulter legte, die still saß und gradeaus blickte. Sie stand nun wortlos auf, war aber sehr weiß im Gesicht, nickte Renate fremd lächelnd zu und ging mit Jason hinaus.
Renate sah sich an der niedern Brüstung des mittleren Fensters stehn, die alle drei weit offen waren. Nur Grün, nur Grün … murmelte sie, hinausblickend. Oben hing ein Stückchen Himmelsblau herein wie eine Fahne, und Renate murmelte wieder, tief beklommen: Die letzte Fahne vom Fest … Sie fröstelte mitten in der Wärme. Nun erinnerte sie sich des Onkels, – ob er noch schlief –? Und sie sah ihn sich weinend zu Josefs Schulter bücken und sah Josefs schnelle und feste Bewegung und die gepreßten Lippen, als er den Kopf neigte und ihn küßte und wieder grade stand. – Überflutend plötzlich wünschte sie inständig nach oben: Wäre doch der Tag schon zu Ende! – Warum bin ich nicht mit Ulrika gefahren? fragte sie sich unwillig, wandte sich nach einem Geräusch hinter ihrem Rücken um und sah Jason wieder eintreten. »Du bist nicht mit ihr?« fragte sie enttäuscht.
Er antwortete nicht, und sie spürte etwas Erleichterung, weil er geblieben war. Jason ging zu Ulrikas Flügel, setzte sich davor, legte leise den Deckel nieder und drückte einmal fest und weich die Handflächen darauf. – Muß ich denn jetzt überall etwas wittern? fragte Renate sich ängstlich und verdrossen, – aber was dachte ich denn bei diesem Schließen von Ulrikas Klavier? – Sie wollte sich Worte Ulrikas ins Gedächtnis zurückrufen, aus jenem schönen Augenblick, wo sie lag und sang, fand aber kein Wort mehr und sagte nur zu Jason: »Ulrika hat vorhin von der Liebe gesprochen, so wundersam …«
Jason nickte ein-, zweimal langsam mit dem Kopf, indem bemerkte Renate, daß er nicht mehr den Kopf schüttelte, und rief hocherfreut: »Was ist mit deinem Kopf, Jason?«
Er faßte nach der Stirn. »Ist etwas?« fragte er unsicher.
»Das Schütteln, Jason, wo ist es?«
»Das Schütteln?« fragte er. »Ach, es ist fort? Siehst du, ich habe es gewußt und habe es gesagt,« fuhr er fröhlich fort, »die Zeit, prophezeite ich, wird es an sich nehmen, man muß nur zu warten verstehn und nicht immer denken, das, was gerade geschieht, ist das All- und Einzige, was überhaupt geschehen kann; es kommt vielmehr immer noch andres, immer noch andres, das ganze lange Leben hinunter, und mit dem Tode ist das wirklich auch nicht alles so sicher, wie die Lehrer sagen. – So, hat sie von der Liebe gesprochen? Das ist schön. Es wird so viel Mißbrauch getrieben mit der Liebe.«
Renate, dankbar und beruhigt, ihn nur sprechen zu hören, glitt auf die Fensterbrüstung und fragte, da er schwieg: »Inwiefern, Jason?«
»Zum Beispiel sagen manche, Liebe müsse auch treu sein. Ja, wie kann sie denn? Muß sie denn nicht sein, wie sie will, hat sie nicht einen Anfang, mitten im Leben des Menschen, und muß also ihr Ende haben? Ist sie nicht eine sonderbare Gabe, die keiner kommen sieht, keiner sich verschaffen kann, mit keiner Münze und mit keiner Kunst, und da wollt ihr sie nun verhaften und binden? Wenn sie kommen darf, muß sie nicht auch gehen dürfen? Ist sie nicht mehr ein Gefühl? Da sprechen Andre zum Geliebten: Wir lieben uns Beide, aber ich liebe dich mehr, und du liebst mich zu wenig, und heute liebst du mich nicht wie gestern und die andern Tage vorher, aber du hast mir Versprechungen gemacht, und wenn ich dir nicht glauben kann, kann ich dich auch nicht mehr lieben. Dann sagen sie auch: Du hast mir Liebe geschworen, und nun liebst du an andrer Stelle, was soll das bedeuten? und mit alledem verändern sie ihre eigne Liebe, machen sie groß und klein, je nachdem, und indem sie drüben dies und jenes fordern, tun sie doch selber jenes und dies. Oder auch da heiraten sie und zeugen Kinder und meinen, damit drückten sie nun ihre Liebe aus. Sie schmieden Pläne und haben schöne Gedanken, sie streiten herum, weinen und versöhnen sich, sie verdienen Geld, kochen und backen, mieten Wohnungen und sitzen viele Tage über Tapeten und Kücheneinrichtungen, und all das halten sie für Gestalten ihrer Liebe, und nun, es ist da wohl etwas Richtiges, denn es ist göttliche Eigenschaft, alle Gestalt annehmen zu können, sie aber wollen den Gott verhaften und binden mit dieser Gestalt, verhaften und binden, und martern sich selber allein und wissen nicht, daß der Gott alsbald auch wieder die Gestalt verläßt und kehrt nach Hause und wohnt bei sich selber. So ist die Liebe ein Gefühl, wohnt allein im Gefühl und läßt ihrer nicht spotten. Ulrika hat wahrlich die wunderbare Demut erlernt, denn sie liebt nur, sie liebt. Lieben, solange der Odem reicht, nicht fragen nach Gegenstand und Erwiderung, nach Plage und Wonne, nur ganz und gar sich darbringen, unverlangt und ungelohnt, wer hat euch das gelehrt? Und dann, Renate, danach, so Gott will, wirst du nach deinem Ende in eine schöne Blume verwandelt werden, deren Anfang dein Ende ist, eine Sonnenblume vielleicht, aber auch die einfache Primel trägt ein deutliches Zeichen an ihrem gelben Kleid, daß sie die Sonne sieht und nichts sieht als die Sonne, jene uralte, der dein weißer, zarter Freund Ech-en-Aton Stadt und Tempel baute, die an demselben Tage, wo er starb, verlassen und gestürzt wurden, dieweil die Menschen gehorchen und vergessen, er aber von ihrem Wege wich und in die ewige Verwandlung einging. Komm, Renate, wir wollen in den Garten gehn.«
Wie schön war es nun, im Garten umherzugehn! Zu ihrer völligen Beruhigung legte Renate die linke Hand auf des kleineren Jason linke Schulter, und so gingen sie schweigsam und friedfertig auf den kleinen, engen Wegen, an der Veranda vorüber und um den Rasenplatz. Dem Haus gegenüber, an dem ihre Augen hinaufglitten, blieb Renate vor einem überraschenden Bilde stehn. Im Schlafzimmerfenster des Onkels war, nicht hoch über der Fensterbank, sein hoher Kopf und weißer Bart zu sehn, wie sie ihn des öftern während dieses Sommers sitzen gesehn hatte, da er den Blick von oben auf den Garten zu lieben schien; jetzt blickte er zu Josef auf, der in der linken Fensterhälfte ein wenig zurückstand und rauchte und sprach, die rechte Hand gegen den Rahmen gestützt, und in dieser Haltung beugte er sich eben vor und ließ mit klopfendem Zeigefinger ein Stück Asche von seiner Zigarre tropfen, wobei er Renates gewahr wurde, nickte und winkte, und jetzt wandte auch der Onkel die stillen, dunklen Augen her, lächelte und nickte. – Welch ein Frieden, ach, welche Erleichterung!
Schon im Weiterschreiten glaubte Renate im Fenster über den Beiden, dem des Erasmus, etwas zu gewahren, ging aber weiter, hörte Jason etwas sagen und sah währenddem aus dem unkenntlichen braun und grauen Haufen auf der Fensterbank, den sie bemerkt hatte, den Kopf und die eisenbekleideten Schultern des Erasmus werden, als ob er hinter der Fensterbrüstung kniete, eine sinnlose Vorstellung, da Erasmus in der Fabrik sein mußte. Es mochte ein Stück seiner Rüstung gewesen sein. – Sie fragte Jason, was er gesagt habe, und hörte ihn wiederholen, indem er stehen bleibend sie zum Halten zwang:
»Ich fragte, ob du dich eigentlich über nichts wundertest, wenn du mich solche Sätze sagen hörst wie soeben.«
Seine gedämpften, leise fragenden, ganz wenig ironisch zusammengezogenen Augen unter sich, versetzte sie: »Nein, Jason, ich finde es immer so schön, daß ich zu keinem andern Gedanken komme.«
»Das,« sagte Jason, die Stirn senkend, »das ist es. Du triffst den Nagel auf den Kopf wie immer. So schön, daß ihr euch nicht das geringste dabei denkt, das tut ihr, ja, das tut ihr, oh welch unsagbar kümmerliche Einrichtung!« Mit unendlichem Bedauern den Kopf wiegend, wanderte er weiter, indem er sagte: »Ich weiß es alles und trage es in schönen Perioden vor, ich, der ich kein andres Leben mehr habe als eben dies, zu wissen und zu sagen, und die Andern leben es, und das heißt: sie leben es nicht. Sie wissen nichts, auch du, wenn du in irgendeiner solchen Lage bist, auf die meine Sprüchlein passen, erinnerst du dich dann vielleicht des langmütigen Jason und seiner blühenden Erkenntnisse? Nein, denn dann seid ihr alle höchlich kurzmütig, dann ist da nur die fassungslose Geschwindigkeit, nur die Lage ist eben da, blindlings muß gehandelt werden, keiner besinnt sich, keiner befolgt andern Ratschluß als das brennende Verlangen seines gepeinigten Herzens, – ja, könntet ihr wohl an einem meiner Sätze gehn wie an einem sichern Geländer, könntet ihr darauf reiten oder fahren, wenn eure Füße müde geworden sind? Hundert und tausend Menschen kenne ich wohl, denen ich und meine Reden immer willkommen sind, aber würde vielleicht ein einziger dadurch klug? – Man hört, sagt ja, spricht von andern Dingen und vergißt, und dieses nennt man das tägliche Leben.«
»Es ist deine Schuld, Jason,« sagte Renate mit leichter Wehmut, stehen bleibend vor den ersten Sonnenblumen an der Rückwand der Kapelle und undeutlich dies und jenes bedenkend, woran die zu stolzer Neigung erhobenen kleinen und strengen Antlitze sie erinnerten. – »Es ist deine Schuld, denn du sagst es zu schön. Du sagst es, wie soll ichs nennen, sanft einschläfernd. Du bist zu gut, Jason.«
»Und wäre ich böse, Schwester Sonnenblume, wer denn, glaubst du, wollte mich hören?«
Schwester Sonnenblume – tönte es seltsam in Renate nach, wer hatte das einmal zu ihr gesagt? Ach, sie selber hatte einmal eine Sonnenblume so angeredet an jenem Tage, wo Sigurd –, wo die Todesnachricht von Esther kam. – »Nun, was giebt es denn da?« hörte sie Jason indem halblaut sagen und wandte sich.
Innerhalb der kleinen Lindenallee in der Nähe der Kapelle stehend, über die Kohlköpfe und Erdbeerpflanzungen des kleinen Gemüsegartens hinweg sah sie die rote, häßliche Rückwand des Herzbruchschen Hauses im Schatten, dann hinter dem Zaun eine Bewegung in dem dichten Holundergestrüpp, dessen Zweige schwerbelaubt und doldenvoll herüberhingen. Irenes blonder Kopf und schwarze Schultern wurden jenseits sichtbar, sie schien einen schweren Gegenstand durch das Buschwerk zu heben und zu drängen, einen Stuhl, und Renate fragte sich verwundert: Will sie herübersteigen? es ist doch eine Tür da! – Indem erschien am Ende der Lindenallee eine abenteuerliche Figur in schwarzem, faltig zerknittertem Hemde von Kaliko und brennendroten Strümpfen mit gerollten Wülsten unterhalb der Knie, und das wild aussehende, rote und schwarzbärtige Gesicht war das von Klemens, der, ohne sie und Jason zu sehn, stehen bleibend nach Irene hinüber starrte, deren Gesicht eben deutlich im Blätterwerk auftauchte und still blieb, gegen Klemens gewandt. Klemens schwang jetzt ruckweise einen und den andern Arm, stieg mit weiten Tritten über die Beete, hielt mitten und schrie außer sich Irene an:
»Was wollen Sie denn schon wieder? Wollen Sie mich bis ans Ende der Welt verfolgen? Sie – oh Sie, ich leugne diesen Vorfall, ich leugne ihn, ist Ihnen das noch immer nicht klar geworden? Soll ichs Ihnen beibringen?«
Mit zwei Sprüngen war er am Zaun, Irene streckte die Arme aus, über den Zaun zwischen ihnen faßten sie sich und fingen an sich zu küssen, so daß Renate vor besinnungslosem Staunen die Augen nicht abwenden konnte, und erst als sie gar nicht aufhören wollten, drehte sie sich, die Unterlippe zwischen den Zähnen, weg, sah den unverwandt und sehr teilnehmend das Schauspiel betrachtenden Jason neben sich, wollte etwas äußern, fühlte aber seine Hand am Arm, und er sagte, ohne den Kopf zu heben, leise: »Scht! man spricht nicht in der Tragödie.«
War das Ernst oder – –? – Sie wagte es, wieder zum Zaun zu blicken, da stand Klemens allein und keuchte, in den Büschen rauschte es noch. Er wurde jetzt der Beiden ansichtig, schüttelte den roten und schwarzen Kopf mit blinden Augen wie ein Stier, versuchte zu lachen, starrte an die Erde und kam langsam zwischen den Beeten heran. Vor ihnen blieb er stehn, stützte sich wie vorm Umfallen an einen Stamm und sagte: »O Gott!« und noch einmal: »O Gott!« so zerbrochen, daß Renates Herz klopfte. Dann sah er verloren auf, betrachtete seinen Ärmel, faßte den Saum mit den Fingern und wischte sich mit dem schwarzen Zeug überm Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn.
»Nein,« sagte er endlich, »geleugnet kann es wohl doch nicht werden, und nun kann ich ja hingehn und meinen Freund umbringen.«
Er schluchzte haltlos auf, die Tränen liefen ihm hell übers Gesicht. Mit beiden Händen am Leibe nach Taschen tastend, schien er seinen Anzug zu bemerken und schnob: »Der verfluchte Mummenschanz! Der verfluchte Mummenschanz ist an allem schuld!« trocknete sich die Augen mit den Händen und blickte Renate trostlos an.
»Es war ja schon das zweite Mal,« sagte er leise; »wenn wir uns sehn, geraten wir aneinander, so oder so. Ja, wie bin ich denn hier hereingekommen?« fragte er, steckend bleibend.
»Ich vermute,« sagte Jason ruhig, »Sie wollten eigentlich ins Herzbruchsche Haus, und da Sie an diesem vorüberkamen, sind Sie in Ihrer Verwirrung hineingegangen, weil Sie's kannten.«
»Das wird es gewesen sein«, versetzte er stumpf.
Am Ende der Lindenallee tauchte Irene auf; im schwarzen, wehenden Kleid, kam sie leicht und schwebend daher.
»Hören Sie nur,« sagte Klemens, der sie nicht sah, »ich habe sie immer geliebt. Aber das ging mich allein an, und sie haßte mich ja, ich sie auch wegen ihrer lächerlichen Lebensführung.«
Irene, nicht mehr weit von ihnen, blieb stehn, faltete die Hände unter der linken Brust, sah zugleich schmerzlich und beseelt und fast glücklich aus.
»Da hatten wir heut morgen wieder einen Zweikampf, oder mittags meinetwegen. Ich war den ganzen Vormittag draußen gewesen, um zum Großherzog zu gelangen, konnte nicht zu ihm und kam todmüde zu Herzbruchs. Da fingen wir wieder an, uns wegen dieses verfluchten Zeuges zu zanken, – es durfte ja keiner ohne Kostüm draußen herumlaufen, da bekam ich dies geliehn, und sie verhöhnte mich wegen meiner Teilnahme an dynastischen Festen, und da –« Indem drehte er sich seitwärts und sah Irene dastehn.
»Ich war bei meinen Eltern,« sagte Irene leise, »aber es ist niemand im Haus. Da kommst du wieder, und es ist wohl recht, und – da bin ich.«
»Zu mir?« fragte Klemens entsetzt. »Da sei Gott vor! Und dein Mann?«
»Ich – du – zu meinem Mann schickst du mich?« fragte sie leiser. »Und ich war doch schon da …«
»Schon …? Bist du …? Was hast du denn da gemacht?« stöhnte er.
»Ich habe ihm gesagt, daß ich nun nicht mehr bei ihm bleiben könnte. Es war schrecklich …«
Renate suchte ängstlich nach einem Ausweg für sich, aber Irene kam nun zu ihr, faßte ihre Hand, und Renate fühlte, daß sie innerlich zitterte.
»Was sagte er?« fragte Klemens.
Irene, heftig Atem schöpfend, brachte heraus: »Nichts. Gar nichts. Er saß da und – sah mich an. Da bin ich wieder gegangen.«
Klemens hob die geballten Hände und schüttelte sie und schluchzte: »Du! schämst du dich denn nicht?«
»Eins, zwei, drei, marsch,« sagte Renate kräftig, »entweder Sie beherrschen sich jetzt, Herr Doktor, oder Sie gehn Ihres Weges, Punkt.«
»Klemens! Klemens!« flüsterte Irene angstvoll, aber er bearbeitete seine Stirn mit den Fäusten und weinte in sich hinein.
»Es fällt ihm ja so schwer, sich zu beherrschen,« flüsterte Irene an Renates Ohr, »wir müssen Geduld haben.«
Überdem wurde er still, ließ die Hände fallen, blickte Irene verstört an und sagte: »Meinst du denn, ich wollte meinem Freunde seine Frau wegnehmen? Meinem Freunde, von dem ich alles habe, was ich bin? Das einzige, was er hat?« Er kam auf Irene zu, sie streckte die Hände aus, er packte ihre Handgelenke, schüttelte sie rasend, drehte um und stürzte den Weg hinunter wie ein Trunkener. Irene hob, ihm nachsehend, ihre Handgelenke, wischte um die roten Eindrücke und sagte leise: »Du tust mir unrecht, Ot–, Kle–« Sie schrak zusammen und flüchtete sich zu Renate.
»Ich habe noch niemals«, sagte Jason ganz ergriffen, »an einem sonst vernünftigen Menschen ein so schreckliches Verhalten bemerkt. Und nun kehrt er wieder um.«
Klemens kam wieder zurück, ruhiger, wie es schien, blieb ein paar Schritte entfernt stehn und sagte:
»Noch ein Wort, Irene. Du befindest dich in einem Irrtum, denn: ich glaube dir nicht. Ich weiß von Otto, daß du seine Frau gar nicht gewesen bist, daß du ihn betrogen hast; endlich bist du zu ihm gegangen, und das war aus Angst vor mir, zu dem du nun von ihm wegläufst. Das genügt mir. Wenn du doch Kinder hättest! Dann könnt' ich denken, du hast wenigstens deine Pflicht getan. Aber so – bloß mit einem Manne gelebt und gelacht und geschlafen, und jetzt das selbe mit mir –, und dann wirst du eines Tages kommen und sagen, du hättest dich wieder geirrt – so wie damals mit deiner Gottesmutter.«
»Warum so hart?« sagte Renate, da sie Irene heftiger zittern fühlte, doch ließ die jetzt ihre Hand los und fragte: »Geirrt? wie meinst du das?«
»Ich meine,« versetzte er und jetzt nicht ohne Haltung und Würde, »daß du damals ebensogut wie zu Otto zu mir hättest kommen können. Mich kanntest du freilich nicht und hättest mich schwerlich da gesucht, wo ich lag. Aber krank war ich auch, Pflege braucht ich auch, um genau dieselbe Zeit.«
Irene flog auf ihn zu, lachte, faßte seine Schultern, rief ganz erlöst: »Klemens! Aber dann wissen wir's ja! Dann bin ich falsch gegangen! Dann war's meine Schuld! Dann ist ja alles gut!«
Ohne sich zu bewegen, sah er sie an und versetzte: »Das meinst du! Ich finde aber, diese Erkenntnis kommt dir etwas spät. Wievielmal, sage, willst du denn noch fehlgehn? Sicherheit will ich. Deine Ehe und meine Freundschaft – all das soll hin sein? Sicherheit! Glaubst du, daß ich so eines Aberglaubens wegen der Dritte sein will?«
»Der Dritte?« fragte sie zurückweichend.
Klemens warf einen Blick auf Renate und sagte: »Hattest du nicht einen himmlischen Bräutigam zuerst? Da gab dir der Himmel ein Zeichen, und du nahmst einen Andern. Nun erzählst du mir, das Zeichen war falsch, und kommst zum Dritten. Das soll ich glauben? Waren denn Otto und ich die einzigen Kranken in der Stadt? Wirst du nicht morgen kommen und sagen: Das Zeichen war falsch, es hieß überhaupt, daß ich Krankenschwester werden sollte? Darum sage ich –« Er brach ab, sein Gesicht wurde weich, er sagte erschüttert: »Gott verzeih mir, Irene, ich bin zu hart zu dir gewesen. Das war wohl Unsinn, was ich geredet habe, aber auf all das kommt es ja gar nicht an, und auf unsre Liebe kommt es nicht an, sondern nur auf die Treue. Ich halte sie, ich halte sie, und wenn ich in Stücke gehe. Vergieb mir, vergiß mich! Aus uns wird nie was. Leb wohl!« Er drehte sich schnell um und ging den Weg hinunter und verschwand. Irene stand hülflos.
»Vielleicht«, hörte Renate Jason neben sich sagen, »wunderst du dich nun, indem du meiner Reden gedenkst. Welch wunderbare Erläuterung! Wie hinfällig sieht doch die ganze schöne Liebe aus, vom Gesichtspunkt der Treue aus betrachtet.«
Sie machte vergebliche Anstrengungen, das Ganze zu begreifen, entschied sich vorläufig zum Mitleid mit Irene, zog sie an sich und fragte: »Was soll nun werden?«
»Ich kann nicht weiter«, erwiderte sie erschöpft, widerstand aber Renates Bemühung, ihren Kopf an die Brust zu ziehn, stumpf zu Boden blickend.
»Ja, nun – immer gleich helfen lassen«, sagte Jason. Irene blickte ihn fragend an. »O nein, nein, Kind,« fuhr er gelassen fort, »möchtest du vielleicht Redensarten von mir hören? Nun sag uns nur einmal: warum willst du nun durchaus von deinem Mann fort?«
»Ach, Jason, du bist furchtbar,« seufzte Irene, »glaubst du denn auch nicht, daß ich Klemens liebe?«
»Aber wie denn? Hab ich das gesagt? Er hat es doch selber anerkannt, daß du ihn liebst. – Ach so, nun willst du ihn auch heiraten. Ja, weißt du, das ist doch aber eigentlich etwas viel verlangt.«
Irene richtete sich auf. »Ich will ihn nicht heiraten. Ich weiß nur, daß ich bei Otto nicht bleiben darf. Herrgott, wie mir das jetzt unaufhörlich in Augen und Ohren brennt! Da kam Klemens zur Tür herein, damals, und dann hat er schon gebrüllt, und ich lauter, und dann wurde ich wie Holz, und dann war alles Haß. Jason, kann denn ein Mensch so schauerlich verblendet sein? Wie soll ich das jemals wieder gutmachen? Er spricht von seiner Freundschaft, ich hab sie nicht verstanden. Von meiner Ehe, – ich hab sie nicht verstanden, ich verstehe mich selber nicht, wie soll ich da wissen, was zu tun ist? Und nun –« schloß sie, sich zusammenraffend, »nun will ich zu meinen Eltern.«
Sie nickte Renate und Jason zu und schritt ganz leicht und schwebend in ihrem schwarzen Kleid zwischen den Beeten hindurch zum Zaun, öffnete die Tür und verschwand.
»Ist es zu begreifen, Jason?« fragte Renate vor sich hin. »Sie lieben sich und bekämpfen sich doch.«
»Sie bekämpfen einander nicht,« sagte Jason verloren nach oben blickend, »sie bekämpfen nur immer sich selbst – durch den Andern. Sie stehen in Rauch und Flammen und suchen einen Brandstifter. Sie wollen jeder das Seine und lassen sich immer hindern. Wäre ich nicht so leicht,« schloß er leise, den Kopf senkend, »wie, meint ihr, müßte alle Last meines Wissens mich zu Boden drücken. Oder nein,« verbesserte er sich trübe, »ich bin der Schwere, denn die Wahrheit ist immer leicht – für den, der sie nicht braucht.«
Renate hörte ihn wehmütig an, sah auf einmal ihre Hände, in die sie verloren hineinblickte, fand sie unsauber und erinnerte sich, daß sie sich im Ankleidezelt der Burg zuletzt gewaschen hatte. Gleich ergriff sie der Wunsch, zu baden, mit unerklärlicher Heftigkeit, sie setzte sich in Bewegung, Jason ging schweigend mit, so kamen sie ins Haus, wo ihnen Magda begegnete, Renates lavendelblaues Kleid über dem Arm.
»Könntest du mir wohl helfen?« bat sie verlegen lächelnd. »Ich habe mir doch dein Kleid für heut abend zurechtgemacht, aber hier am Ausschnitt will es nicht sitzen …«
Renate, bereitwillig lächelnd, setzte sich in einen Sessel der Halle, nahm das Kleid auseinander, hob aber den Kopf und sagte: »Bitte, Kind, erlaube, daß ich mich eben etwas wasche, ich komme dann gleich und helfe. Wie spät ist es eigentlich?«
»Es wird sechs Uhr sein,« meinte Magda; »willst du nicht bleiben, Jason?« fragte sie ihn, der an der Tür stand.
»Richtig, wohl,« versetzte er mit nachdenklich auf Renate gerichteten Augen, »ich kann auch bleiben.«
Renate wollte sich erheben, indem kam er zu ihr, sah immer nachdenklicher auf sie herunter, beugte sich dann und küßte sie auf die Stirn. Sie litt es lächelnd und erfreut, sah ihm nach, wie er zur Verandatür ging und dort stehen blieb, stand auf, nickte Magda zu und ging hinaus.