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Neuntes Kapitel

Zimmer

Renate lag nackend auf dem Rücken schräg über ihr Bett hin, schlaff neben sich Arme und Hände, die Füße hingen nach unten. Wie sie hingesunken war im Dunkeln, so lag sie, glaubte, schon Stunden zu liegen, schwer atmend, das Hirn im Feuer aller durchhinzuckenden Bilder des Tages. Losgefesselt von ihr jagte es haltlos durch ihre geschlossenen Augen, flatterte in Fetzen, wirbelte eins ins andre, und ineinander und auseinander zog und ergoß sich schon, was sie als Bild vor Augen sah und was sie im Halbschlaf träumend selber mit lebte. Sie glaubte, ein Bild aus einem Kinderbuche zu betrachten, eine Wiederfindung, harte Holzschnittfarben, aber es waren Klemens in seinem bäuerlichen Kleid und Irene, die über dem Zaun zusammenhingen, zum Bilde erstarrt. Sie ritt auf dem silbernen Pferd, fühlte sich gewiegt von den weichen Gängen, Ulrika stand am Weg, hielt das Pferd fest, weinte und sagte: So laß dir doch endlich erzählen, was geschehn ist! – Eine rote, brennend rote Uniform ohne Kopf wirbelte in ein Zimmer herein und fuhr wieder hinaus, – der Satan! sprach Jason mit warnend erhobenem Zeigefinger. Unter sich sah sie Rücken und Hinterbeine der Elefanten sich vorwärts bewegen, sie wurden kleiner und kleiner, es waren Hunde, weiße, kleine, sie erschrak und dachte: Sollen die den riesigen Wagen ziehn? aber das geht doch nicht, man muß es den Leuten sagen, daß es nicht geht! – Plötzlich hörte sie sich seufzen und schlug die Augen auf.

Neben ihr, beinah über ihr, sah sie die seitwärts gerafften Vorhänge des Fensters und den matten Glanz einer offenen Scheibe, aber es kam keine Kühle herein. Dann blendete sie von drüben der schmale senkrechte Lichtspalt der angelehnten Tür; sie konnte sich nicht entschließen, hinzugehn und das Licht zu löschen. Gott sei Dank, dachte sie ergeben, wenigstens ist es Nacht! Weit zurück in der Zeit glaubte sie die Heimkehrgeräusche der Andern zu hören, Schritte treppauf, Türen, – sie legte den aufgerichteten Kopf wieder hin und war wieder hineingerissen in den feurigen Strudel, Bilder aus der biblischen Geschichte, sie selber war darunter, der verlorene Sohn kniete vor seinem Vater, – abseits, verfinstert, stand Erasmus, sie seufzte und fand sich gleich darauf liegend auf dem kleinen Rasenplatz im Gartendickicht, Ulrika beugte sich weinend über sie und bat: Wach doch auf, um Gottes willen wach doch auf, sonst ist es zu spät! aber sie konnte die Lähmung nicht abschütteln, rang mit dem Nacken, spürte endlich ihr wirkliches Genick, das sich löste, und brachte den Kopf in die Höhe.

Da! – sie fuhr entsetzt zusammen, – es schlürften Schritte nebenan! Eine Stimme fragte: »Schläfst du schon, Renate?« Es war Josef.

»Nein, Josef, was ist denn?« fragte sie zitternd.

»Verzeih nur,« sagte er, »ich sah im Garten unten dein Licht und kam herauf. Ich glaubte, du habest ›Herein‹ gesagt, und eben hörte ich dich rufen …«

»Habe ich gerufen? Ja, wie spät ist es denn?«

»Es wird bald elf Uhr sein, ich dachte, du gingest vielleicht noch etwas ins Freie mit mir …«

Erst elf Uhr? fragte sie sich bitter enttäuscht, legte die heiße Stirn gegen den Handballen und bemühte sich, zu denken. Ja, am Wasser war es vielleicht kühl, zu schlafen war unmöglich. »Ich komme gleich, Josef!« rief sie leise. Sie wartete dann, hörte ihn durchs Zimmer zurückgehn, einen Stuhl rücken, erhob sich lautlos, schlich zur Tür und machte sie leise zu. Dann stand sie tief aufatmend, suchte ihre Kleider, die weiß am Boden vor dem Bett lagen, ihr Kopf schmerzte heftig, sie kleidete sich hastig an, machte Licht überm Spiegel, aber nachdem sie, mit geblendeten Augen kaum ihr Spiegelbild wahrnehmend, eine Flechte aufgelöst und neugeflochten hatte, brachte sie mehr nicht fertig, ließ die Zöpfe hängen, ging zur Tür und trat leise ins Nebenzimmer.

Josef saß vor dem Schreibtisch, ihr den Rücken wendend, die Hände um das übergelegte rechte Knie geschlossen, und sah zu der kleinen, schneeweiß leuchtenden Gipsbüste des Ech-en-Aton empor. Wieder wie immer, da sie den kleinen Königskopf im zarten Licht der gelben Schirmlampe unten schimmern sah, erfüllte seine gesteigerte Süße und Schönheit sie mit leisem Schreck. Die Zartheit des schrägen Profils, der unbeschreibliche Ausdruck der flachen, ganz wenig nach außen abhängenden Augen, das wunderbare Kinn, die himmlische Blüte der küssend immer gewölbten Lippen und – vielleicht das Wunderbarste – am Halse die senkrechten beiden Muskelfalten, leise schattend und unsäglich lebendig – all dies auf dem Grunde grüner, schimmernder Blätter und Ranken, im Zwielicht so weiß, zart und locker wie von frischem Schnee – hielt lange ihre Augen fest, während sie hinter Josef trat, die Hände auf seine Schultern legte und leise sagte:

»Ich danke dir – heute erst – für ihn. Er war mir fremd im Anfang. Aber nun ist er mir von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr unbeschreiblicher und lieber geworden.«

»Er wächst«, hörte sie Josef sagen, »wie eine Blume, die Jahr um Jahr köstlicher blüht. Er blüht und wächst für sich selbst, aber wer ihn ansieht, über den wächst er selig hinaus und nimmt nur die schauenden Augen mit sich hinauf. Als ich hier saß, war er mir fast schon ein Stern geworden, bis du kamst und er wieder nahe, klein und lieblich wurde, – denn wir sind unten.«

Er sprach sehr leise. Sie schwieg und hörte bald darauf seine Stimme wieder:

»Wasser sind wir; ja, wir sind das Wasser. Wir sind das Fließende, immer sich Gleichende, nur Wellen, nur Wellen, eine der andern ganz gleich, eine verfließend zur andern, immer das nämliche Weinen und Traurigsein, nämliche Lachen und Stehn und Nichtwissen, Schluchzen auf Steinen und Schluchzen in Kissen, und Vergehn.

»Du aber bist aus dem dämmernden Strom von uns Andern getaucht …

»Du trägst den reinen Spiegel an der Stirn, – o du Delfin des Lichts!

»Du bist der Fisch, der selige Tummler im Klaren, du weidest einsam durch die Wogenscharen, schon lange halb durchgotteten Gesichts!

»Du bist des Wachstums zarteste Lieblichkeit, wie eine Blume in Bescheidenheit – erglüht dein weißes Antlitz …

»Die Sonne spreitet hundert goldne Hindernisse, Delfin, Delfin, du überschaukelst sie getrost dahin …

»Du wiegst dich schnelle durch das Ungewisse, denn deine Reinheit war von Anbeginn. – Du kamst voll großer Freude aufgetaucht, Lüfte küssend, trunkener Delfin, Göttern ähnlich, so erlaucht, weil die Strahlende erschien.

»Nun stehst du in Sternen vielleicht als uns funkelndes Bild, – näher der Ewigen als wir, bald in die Flamme getaucht, die uns den düsteren Scheitel umraucht. Wir sind das Wasser, sind hier …«

Er hatte bei den letzten Worten die Fingerspitzen leicht auf ihre Hände gelegt, die noch auf seinen Schultern waren. Sie schwieg noch eine Weile, seinen Worten nachlauschend, durchschaudert und gekühlt von Schauen und Lauschen, aber indem sie zu sagen im Begriff war, wie glücklich sie sei, daß er wieder hier war, bewegte er sich unter ihr, streifte ihre Hände sanft fort und stand auf. Undeutlich erblickte sie nahe über sich sein Gesicht im Schatten, die entstellte Hälfte erschreckte sie nicht. »Laß uns nun gehn«, sagte er; sie nickte dankbar lächelnd und ging vor ihm hinaus.

Wehr

Bald waren sie im Finstern außerhalb des Gartens unter den Bäumen. »Gieb acht!« warnte Josefs Stimme hinter ihr, sie fühlte seine Hand an ihrer linken. »Kannst du mich denn sehn?« lachte sie leise. »Dein weißes Kleid«, hörte sie sagen, glitt ihm davon, wäre aber fast an einen Pfosten der Schaukel gestoßen, sah nach oben blickend das Schwarze des Gerüstes gegen die mattere Dunkelheit und zwei Sterne, wandte sich und sagte: »Hier ist die Schaukel.« Er antwortete nicht. Sie fragte: »Josef?« »Hier!« hörte sie weit rechts hinter sich seine Stimme, drehte sich, ging weiter, vorsichtig um den Schatten eines breiten Baumstamms, fühlte die harten Falten der Borke und sah Josefs Schattengestalt unter sich im Freien gegen den grauen Grund der Wiese. Wie kühl war es hier schon! – Sie holte ihn ein, seine feierliche Stimme klang wieder in ihrem Ohr: O du Delfin des Lichts! – – So hatte die Heimkehr zum Vater ihn doch tiefer ergriffen … Aber, als sei noch ein andrer Ton in seiner Stimme gewesen, mußte sie nun, die rechte Hand in seinen Arm schiebend, sagen: »Du hast so abschiednehmend gesprochen, Josef, als wolltest du morgen schon wieder davon.«

»Nun, wie lange meinst du denn, daß ich bleibe?« fragte er freundlich. Sie konnte nicht antworten, da sie sich nun fragen mußte, ob hier wirklich eine Stätte für ihn sei, und so wandelten sie wortlos weiter auf dem Sandweg. Der Himmel war besät mit den Sternen, die klein waren im warmen Dunst der Nacht; dunkel lagen die Wiesen. Josef blieb stehn, gleich darauf auch sie, sich zu ihm wendend.

»Höre einmal,« sagte er leicht, »was ich noch fragen wollte … Wußte –, oder sagen wir: weiß Erasmus eigentlich, daß du mit dem Herzog verlobt bist?«

Renate versuchte sich zu besinnen. »Ja, warum fragst du? Ich glaube wohl. Nein – das heißt, – ich sagte es ja bei Tisch, als er nicht da war.«

»So«, bemerkte Josef, vor seine Füße blickend. »Ich dachte, als du im Zelt –«

»Ach ja, Josef,« rief sie rasch, im Gefühl, von etwas andrem reden zu müssen, »ich wollte dich ja auch immer etwas fragen. Nun fällt mirs wieder ein, da du vom Zelt redest!«

»Nun?«

»Warum hast du dich mir eigentlich heut gezeigt?« Sie trat auf ihn zu, liebevoll. »Hast du doch geahnt, daß ich dich brauchte? Oder was trieb dich?«

Er antwortete nicht, sondern sah sie nur fest an durch die Dunkelheit. Alsdann wandte er das Auge fort und trat zur Seite.

»Die Antwort«, sagte er, in das Dunkel der Wiesen blickend, »ist nicht leicht. Du fragst nämlich nach meinem Geheimnis. Ich werde es dir gleich erklären. Ja,« hörte sie ihn mit einer schönen Ruhigkeit fortfahren, »das Geheimnis meines Lebens. Es hat endlich – vor einigen Tagen – seine Lösung gefunden; und also wurde es Zeit, zur Versöhnung zu schreiten.«

»Mit deinem Vater?« fragte sie hastig, und er erwiderte mit gesenkter Stimme: »Jawohl«, – aber das klang wie eine Verneinung, und er setzte eilig hinzu: »Versöhnung, ja, wenn du das Wort in einem sehr weiten Sinne –« Er brach ab.

Da waren sie am Zaun, gingen durch das schief wie immer zur Erde hangende Pförtchen, über die Brückenplanke und weiter den weichen Wiesenpfad, wo Renate seine Hand wieder losließ. Bald war das Rauschen des Wehrs zur Linken hörbar, über ihnen war der rote Himmel der Stadt. Renate bat: »Komm ans Wasser!« Sie bogen vom Wege ab und gingen unsicher und stolpernd über die sommerdürren Buckel der Wiese im tiefen Grund. Baumsilhouetten wuchsen über ihnen aus dem Dunkel, dann wurde die schwarze Linie des hohen Ufers sichtbar, da war der Hang, Renate stieg von Josef gestützt hinan, oben empfing sie das laute Brausen der stürzenden Wasser. Die Geländer der schmalen Holzbrücke waren zu sehn, die über den Fluß führte gerade dort, wo die Wasser abstürzten. Renate ging daraufzu und sah einen Augenblick mit leichtem Schwindel, umrauscht vom jähen Getöse, unter sich die dämmerweiße, schräge Ebene von Schaum, die ihren Blick in das tosende Wirrsal gelblich weißen Gischts hinunterriß und weiter hindurch, wo dies entströmte in die dunkle, langsam sich glättende Fläche des Stroms, wo gemauerte Wände dunkel standen, Bäume, und Sterne zu sehen waren. Sie faßte den dünnen Geländerbalken vor sich mit den Händen und gab sich dem Donner der Fluten und dem geheimnisvollen Niederschießen des Weißen hin, in aller Weite doch eingeengt durch die Betäubung des Ohrs; dann sah sie zu ihrer Linken dicht neben sich Josef auf dem Geländer sitzen, ganz dunkel. Unsicher hob sie die linke Hand und streckte sie nach ihm aus; er nahm sie, hielt sie mit seiner linken auf dem Oberschenkel und deckte die rechte darüber. Sie glaubte, ihn etwas sagen zu hören, verstand nichts und sah fragend in den dämmrigen Schein seines Gesichts. Nun beugte er sich näher und sagte, ihre Hand fahren lassend: »Sei so gut und tritt etwas zurück.«

Sie tats unwillkürlich, doch war gleich hinter ihr das Geländer, an das sie sich lehnte.

»Kannst du meine Stimme verstehn?« fragte er durch das Rauschen.

Sie bejahte.

»Dann, mein Kind,« fing er nach einer Weile wieder an, »dürfte es an der Zeit sein, dir mein Geheimnis zu sagen. Wie dir bekannt sein wird, hat jeder Mensch sein Geheimnis, das nur der Tod oder höchstens die Geliebte erfährt. So erlaube mir, dich dafür anzusehn. Höre zu. Was in meinem Brief gestanden hat, dem Abschiedsbrief, das sind lauter Lügen gewesen. Nicht so gemeine, senkrechte Lügen, wie man sie alltäglich gebraucht, sondern feine, schräge natürlich, und zwar deshalb, weil da hundert Gründe für mein Fortgehn angegeben wurden, statt des einen wirklichen. Nun höre wohl zu …«

Er schwieg Augenblicke lang, dasitzend schräg auf dem Geländer, eine Hand auf dem Knie, die er zu betrachten schien, während er mit gelassener Stimme fortfuhr:

»Der einzig und alleinige Grund, den ich dir nun zu verraten habe, war der: daß ich auszog, das Fürchten zu lernen. Lächle meinetwegen, Mädchen,« sagte er, flüchtig aufblickend, »du weißt nicht, was du tust. Sich nicht fürchten, denkst du, das ist weiter nichts, oder man nennts auch Tapferkeit, wovon ich freilich nicht rede. Wovon ich rede, das ist: sich nicht fürchten können und doch immer: sich fürchten wollen, fürchten müssen, ja einfach eine unwiderstehliche, eine maßlose, eine wütende Lust nach dem haben, vor dem sich grausen ließe. Verstehst du's vielleicht? Oder soll ich dirs erklären? Was mag es denn wohl heißen für einen Knaben, daß er Tiere langsam zu Tode martern muß und dabei warten, bis aus ihren nicht verstehenden Augen das Grauen überschlägt in die eignen? Nicht gefürchtet. Siehe auch einen Jugendlichen, der die kleinen Tiere satt hat, zum Schlachthof gehn und dem Totschläger der Bullen die Axt fortnehmen und Stiere und Rinder in Reihen erschlagen, um zu sehen, wie der Tod in ihre Augen und das Feuer darin zu blauer Asche tritt. Nicht gefürchtet. Ich habe gesehn, kann ich dir sagen – denn zum andern bekam ich naturgemäß die Gabe, immer dort zu sein, wo es etwas zu fürchten gab –, wie Menschen sich von Rädern zermalmen ließen. Nicht gefürchtet. Ich sah Menschen bei Feuersbrünsten aus Wolkenkratzern hüpfen wie die Flöhe und auf dem Pflaster unten zerspritzen wie Gefülltes. Nicht gefürchtet. Ich sah den Lift aus der Höhe herunter sausen und seinen zerquetschten, noch lebenden Inhalt im Kellerschacht. Nicht gefürchtet. Ich habe Männer bei langsamem Feuer rösten sehn – nicht gefürchtet; Kinder bei satanischen Messen lebendig zerlegen – nicht gefürchtet. Ich habe mir alle Arten der Hinrichtung besehn, Strick, Stuhl, Axt und Maschine. Ich sah in China Menschen, denen die Köpfe von zurückschnellenden Bambusbäumen ausgerissen wurden, die durch Tropfen von Wasser auf die bloßen Schädel zum Rasen gebracht wurden, – nicht gefürchtet, – Frauen, die bis an den Schoß in die Erde gegraben wurden, und denen ein schnellwachsendes Gewächs … nicht gefürchtet. Ich habe alle diese Menschen zur Richtstätte führen, in Todesangst schlottern und wahnsinnig werden sehn – nicht gefürchtet. Ich –«

Plötzlich fühlte Renate, die ganz erloschenen Leibes mit zugefallenen Lidern gehört und gehört hatte, ihre Handgelenke von Händen ergriffen, sich vorwärts gezogen und ihre eine Hand mitten auf seine Brust gelegt. Sie konnte die Augen nicht aufbringen, als sie ihn jetzt sagen hörte:

»Da! Fühlst du mein Herz? Hier mitten in der Brust, nicht wie beim gemeinen Volk links oder gar rechts, da – kannst du den Schlag fühlen?«

Er zählte, und wie er langsam, langsam die Zahlen sagte, und sie mitzählte: »Eins – – – zwei – – – drei – – – vier – –«, hörte, fühlte sie die entsetzliche Langsamkeit des Schlagens darunter, kein Herz, ein eisernes Gangwerk, und Josef sagte:

»Spürst du's nun? Kennst du den Schlag? Er ist gar nicht so langsam, wie dirs vielleicht vorkommen mag, er ist der Schlag der Sekunde. Aber! Dies Herz, dieser Schlag ist nur in einem einzigen Augenblick meines Lebens schneller gegangen. Begreifst du, was das heißt? Ah, Kind, das heißt, sagen sie, daß meine Mutter mit diesem Uhrenschritt um die Sonnenuhr gegangen ist, als sie mich trug, um mich hart zu machen für das Leben. Ich kann mich nicht fürchten, Renate, nein, du brauchst mich nicht anzusehn, ich kann mich nicht fürchten, ich habe nur einmal – ja, hin und wieder einmal habe ich etwas gespürt, das von weitem – sehr von weitem, denn es war nur eine Möglichkeit, ein Reiz – aussah wie Furcht, ein süßer Hauch der letzten Zerstörung, des Grauens, und das war die Möglichkeit: dir Gewalt anzutun. Nun genug. Du weißt alles bis auf das Letzte. Nämlich: heut vor drei Tagen –, ja, heut vor drei Tagen habe ich das Fürchten – gelernt. Und das war freilich so, daß es mich jetzt wundert, daß ich es überlebte. Ich will dirs sagen. Ich habe –«

Plötzlich war sein zerspaltenes Gesicht so nah vor dem ihren, daß sein Mund fast den ihren berührte, daß sie nichts sah als die Gräßlichkeit des blinden zerflossenen Auges, während seine Stimme von unten her flüsterte oder zischte: »Ich habe – mich selbst erschossen.«

Renate schloß die Augen, öffnete sie wieder. Josef saß wie vorher. Ihre Haut war kraus und eiskalt geworden am ganzen Leibe, sie glaubte kein Herz mehr zu haben, als sie von ihm fort sich am Geländer dahinschob.

»Ja, geh nur,« hörte sie ihn noch sagen, »für dich ist es Zeit. Geh nur zu, Kind!« Er hob winkend die Hand. Sie entlief.

Gleich darauf strauchelte sie über eine Unebenheit und gewahrte in der Wiesentiefe zur Linken eine Gestalt. Sie blieb stehn, die Gestalt kam näher; erst dunkel, ward sie grau; ihre Augen umklammerten sie angstvoll, sie wußte schon, wer es war, sie wollte nicht –, da kam er den Hang herauf, Erasmus, noch immer im Harnisch, barhaupt, und sie gefror. Aber ein jähes und wütendes Grauen trieb sie zwischen ihn und Josef, sie lief zurück.

Josef stand aufrecht oben und rief jetzt mit heller Stimme:

»Hier bin ich, Erasmus, hier! Ich fürchte dich nicht!«

Da stand Erasmus oben wie ein Gespenst, schrecklich groß, sie konnte seine Augen sehn, die aus den Höhlen quellen wollten, er hielt beide Hände geballt vor der Brust, die wogte, – nie, schrie es in Renate, ist er in der Fabrik gewesen, er trägt ja immer die Rüstung noch! – Und sie riß aus dem zugewürgten Hals klingend ihre Stimme heraus und sagte: »Erasmus? Ja, willst du denn –« wirklich jetzt immer geharnischt gehn? wollte sie fragen, aber er schlug ihr die dünne Klinge, die sie vorstreckte, mit einer Keule nieder und mitten durch, indem er sagte: »Du!« sonst nichts, doch eben dies hob sie wieder ganzen Leibes so leicht, als ob sie flöge, und sie lächelte angstlos und sagte: »Was hier geschehen soll, das wird nie geschehn.«

Im Augenblick darauf taumelte sie zur Seite, von einem Stoß oder – sie wußte es nicht, sie sah nur, in die Knie brechend und nun von Sinnen vor Angst, Erasmus dastehn, als stürze er vornüber und hörte ihn, keuchend, schäumend, gurgelnd:

»Endlich – ists – soweit. – Du! Mörder! Dieb! Mutter–mörder. – – Gestohlen – – Mutter hast – – mir gestohlen … Vater – Liebe – – gestohlen. Liebe – immer, immer – gestohlen, immer – stohl … nun – nun – stehlen – diese – die – willst – diese – du – du – verlorner Sohn! Abrechnen – rech – ich – Jahre geduld – – geduldet. – – Alles – alles – alles – getan – – rechnet, ge – – schunden, Blut unter – Blut – – und – nun, nun, nun – auch diese – Re – – Renate. Weg! du! weg du! weg, weg! Oh – uh – weg!«

Renate legte die Hände auf die Augen und drehte sich um. Sie machte einen Schritt, strauchelte und glitt den Abhang hinunter, brach unten auf die Knie, richtete sich schwer und mühsam auf und sah nun ruhig staunenden Blutes hoch über sich alles rot und in dem Rot eine ungeheure Gestalt, die eine andre wagerecht über sich hochgehoben hatte.

Da floh sie besinnungslos in das Dunkel, lief, im Fallen unzählige Male sich aufraffend, lief, ihr Kleid riß, sie packte es mit den Händen und hob es vorn und lief, hakte mit dem Fuß an Latten, riß ihn los, ihr Atem versagte, sie lief, blindlings einem bleichen Streifen am Boden folgend, keuchte und lief eine Schräge hinauf, wich einem Baum aus, der ihr jählings schwarz entgegentrat, und indem schmolz aus ihren Knien alle Kraft. Sie glitt vornüber und nieder, raffte sich wieder hoch, fiel gegen den Baum und schrie, ihn mit den Armen umklammernd: »Das war die erste!« Sie hing und sah sich selber im Dunkel, in ihrem weißen Kleid, in einem jahrfernen Traum, in die Knie gleiten und wieder aufrichten, und stammelte: Die Verneigungen, die Verneigungen, die Verneigungen … nun kommen die Verneigungen, oh Gott! – und sie lief weiter, sie war im Garten, in der Veranda, im Flur, – da mußte sie halten.

Treppenhaus

Einen Augenblick lang in großer Leere des Herzens mußte sie plötzlich erkennen, daß die Angst, die eben noch hinter ihr gewesen, vor ihr war; vielmehr war es nicht Angst, sondern nur ein leises Grauen, mit dem sie etwas Unheimliches über sich, im Treppenhaus witterte, und da wagte sie es, dem zu entfliehen, und bewegte sich bis zur Haustür hinüber, wo sie, jetzt gelähmt, stehen blieb und sich umwandte.

War denn Licht im Treppenhaus oder nicht? Wie seltsam helle es dämmerte! Weiß stieg die Treppe mit dem blauen Läufer bis zur ersten Biegung, von da aus das weiße Geländer. Und jetzt wußte sie: oben war etwas; das kam herunter. Kein Mensch, ein Tier, ein riesiges Tier, wild, sie hörte schon das langsame Treten der Tatzen von Stufe zu Stufe, das rauhe Fell, das am Geländer schräge nach unten sich hinabschob und scheuerte, sie roch den wilden heißen Dunst, und ihr Herz stand still. Gleich darauf tauchte der riesige weiße Kopf des Tigers oben hinter dem Geländer auf, die Lichter glommen auf in den gedehnten Augen, er wandte das Gesicht herum. Plötzlich saß er auf der Plattform, ganz still, die weißen Tatzen vor sich, und Renate sah das furchtbare, streifig bemalte Tiergesicht in einem Kranz weißer Mähnenhaare, sah, vom wilden Atem auf und nieder bewegt, die gelben, roten und schwarzen Streifen der Flanken. Der lange Schweif legte sich nach vorn, er duckte den Kopf, schloß die Augen und war verschwunden.

Sie stieg langsam die Treppe hinauf ohne andres Empfinden als die furchtbare Mühsal des Steigens. In ihrem Zimmer drückte sie die Handballen gegen die Stirn, stand und hörte sich stöhnen. Sie sah einen schwarzen Menschenkörper in einer ungeheuren Höhe schweben, und dann klatschte Wasser. Wieder stieg in ihr das Grauen, sie wankte vorwärts, ertastete den Türvorhang, fiel dagegen und an dem weichenden hin auf den Fußboden.

Renate lag totenstill. Alles war still geworden. Sie bewegte die klebrigen Lippen und lallte: Nichts … Es war ja nichts. Nichts ist geschehn. – Sie hob den Kopf hoch, tastete nach ihrem Haar, entsetzte sich vor dem Rauhen ihrer eignen Flechte und gelangte mühselig auf die Knie. So lag sie eine Weile zitternd, stellte sich dann auf die Füße, tastete nach der Bettstelle, fühlte das Holz, machte zwei Schritte und setzte sich auf den Bettrand. Wankend vor und zurück fühlte sie, daß sie ohnmächtig wurde, aber im selben Augenblick mußte sie aufhorchen. Es waren Schritte auf der Treppe. Langsam kam es herauf, Fuß um Fuß, Stufe um Stufe, sie erhob sich und ging vor, trat in die Tür, lehnte sich mit Rücken und Kopf gegen den Pfosten und flüsterte: Sein Vater – kommt, nun – nun wollen wir Rede stehn. – Sie lächelte.

Langsam kamen die Schritte über den Flur näher, immer ein wenig lauter, und nun war alles still vor ihrer Tür. Sie wartete gefühllos. Ihre Augen, im Dunkel irrend, sahen die Fenster, und weiß den kleinen Schein der Gipsbüste in der Luft. Nun ging die Tür auf; da stand Erasmus. Sie sah seine Augen, die nicht Augen mehr waren, sondern nur Entsetzen. Dann hörte sie eine Stimme leise sagen:

»Ich hab's – getan.« Er schluckte. Sie sah seine Hände, die sich einander näherten, dann rieb die eine die Knöchel der andern. »Nun,« sagte er unendlich leise, »nun steht, auf der Treppe, steht – – Gott – Vater, mit dem Licht und sagt – – wo – wo ist …«

Renate sah den alten Mann oben stehn und die Treppe hinunterleuchten. Aber als die Erscheinung verschwunden war, wurde ihr leichter um die Brust, sie sah die Gestalt des Erasmus in der Tür sich wenden, sie löste sich vom Türrahmen und ging zu ihm; da fühlte sie wieder das Grauen, biß die Zähne auf die Lippe und sagte: »Erasmus …« Sie mußte die Augen schließen, hörte einen Fall und fühlte seine Hände in den ihren und sein Gesicht. Dann sah sie ihn vor ihr knien, machte eine Hand los, legte sie auf seinen Kopf und fing an, ihn zu streicheln. Er weinte und sagte kindisch mehrere Male: »Er sollte ja nur weg …« Dies dauerte eine Weile, dann war Erasmus plötzlich verschwunden, sie saß vor dem gelben Schirm ihrer Lampe am Tisch, sah über sich das weiße Antlitz Ech-en-Atons unverändert, oder lächelte es nun? Dann war nichts mehr.

Hörsaal

Renate hing verzweiflungsvoll am Drücker einer Tür, rüttelte mit aller Kraft und brachte sie nicht auf. – Ja, was ist denn? fragte sie sich, ablassend. Es war dunkel; was sie in der Hand hielt, war der Türdrücker an Reinholds Wohnung, sie sah die dunklen Fenster neben sich, Blumenstöcke und Gardinen. Da fühlte sie wieder ihre Angst, sie weinte: Ich muß ja fort, ich muß ja fort! – Indem hörte sie links hinter sich ein Knarren, die große Einfahrt bewegte sich, Reinhold kam herein mit seiner Frau. Im selben Augenblick auch schon saß Renate in ihrem Automobil und sah durchs Fenster die Straßenlaternen vorbeiziehn. Kaum hatte sie dies gesehn, so flammte es vor ihr und ward wieder Nacht, sie erschrak und sah, daß sie durch die Stadt fuhr, daß unaufhörlich Schwerter von einfallender Helle und Dunkel vor ihr in den Wagen schnitten, und nun sah sie im schmalen Spiegel gegenüber ihr Gesicht. Jetzt kommen Leute, dachte sie, sammelte sich, so gut sie konnte, und sah, daß sie in einem goldenen Mantel saß; ich hab ihn verkehrt umgenommen, dachte sie, es schadet nichts. – Sie schloß einen Haken am Halsausschnitt der Tunika, beugte sich vor und sah im Spiegel ihre Augen, sehr dunkel und tief in den Höhlen. Man sieht mir nichts an, dachte sie verwirrt, saß in einer großen Leere und merkte, daß der Wagen stillstand. Doch fuhr er gleich wieder, ein Gesicht kam ganz nah an die linke Scheibe, sie drückte Haupt und Rücken an und saß aufrecht, die Arme nach beiden Seiten gestreckt, und zitterte. Sie hörte dumpfes Brausen, die Lider sanken ihr zu, unter ihr sah sie die gelbliche Schaumfläche des Wehrs, es zog sie hinunter, sie warf den vorübersinkenden Kopf zurück und stöhnte: Oh Gott, wie lange dauert diese Qual! – Heftig erschreckend fiel ihr ein, ob Reinhold denn überhaupt wußte, wohin sie wollte, sie rückte ans Fenster, sah die Alleebäume dunkel, umwogt von menschlichem Getümmel, dachte inbrünstig an den Herzog, an alle Beruhigung, an Schlaf. Jetzt wurde die Wagentür aufgerissen, Reinholds Gesicht war draußen, sie raffte Mantel und Kleid und dachte: Zusammennehmen …

Langsam stieg sie aus, ging zu der breiten Freitreppe der Universität vor und hinauf. Es schwirrte vor ihren Augen, groß und größer wurde der dunkel glänzende Fleck ihres violetten Kleidrocks, auf den sie hinuntersah, sie glaubte vornüber zu fallen, und erreichte mit Mühe die oberste Stufe. Ein Mensch, ein bunter, ein Türsteher, fragte sie etwas, sie antwortete: »Zum Herzog.« »Seine Königliche Hoheit –« hörte sie sagen und unterbrach: »Herzog Trassenberg.« Der Mann verbeugte sich und ging fort.

Renate stand in einer Halle, sah einen breiten Korridor mit Türen zur Rechten und ging im ohnmächtigen Verlangen, nur sitzen zu können, hinein. Musik … sagte sie, aufhorchend, ein Klavier … Eine helle, singende Stimme schmetterte unverständliche Worte, sie ging daraufzu, eine Tür neben ihr stand halboffen, sie sah drinnen eine Wand mit einer schwarzen Tafel, darunter ein Podium und ein Katheder. Ach, dachte sie, ein Hörsaal … Weiter vortretend, gewahrte sie unterhalb des Podiums Kopf und Rücken eines Menschen, der vor einem Flügel saß, spielte und zu einem Mädchen mit Haarschnecken an den Ohren aufsah, das in der Einbuchtung des Flügels stand, ihn lächelnd ansah und sang. Nun wurde auch das Profil des Spielenden sichtbar, ein hängender Schnurrbart, große hängende Nase und fliehende Stirn mit schwermütigen Brauenbögen; sie sah das nach hinten gestrichene, lang fallende Haar und glaubte den Menschen zu kennen. Die Schultern waren braun, Frackschöße hingen zwischen den Stuhlbeinen, oben darüber brannte eine harte Flamme, die ihre Augen blendete. Ach, Benno ists! dachte sie dankbar, da sitzt er nun und spielt … Renate fühlte es rieseln im Herzen, sie lehnte sich an den Türrahmen, die Augen der Sängerin bewegten sich zu ihr, aber sie sang weiter, obschon sie betroffen schien und die Augen nicht wieder abwenden konnte. Ihr Gesicht war weiß wie eine Blüte, die Augen glitzerten blank und dunkel, die Backenknochen schienen etwas vorzustehn, sie sah munter und herzlich aus, und als sie nun wieder lächelte, mußte Renate es auch tun, während eine zarte, auf und nieder schwebende Melodie ein weiches Band um ihr Herz wand und wieder davon abzog und sie die Worte hörte: »Der mich ins Zimmer trägt, mir in die Hand – Wärmend ein Herz giebt mit Glutenbestand.« Dann wechselte die Tonart in Moll: »Kommt jetzt der Winter mit Schloßen und Schnein …« sang das Mädchen wehmütig, fragend, wartete ein Weilchen auf einer Fermate in der Höhe und endete mit kurz und trübselig hervorgestoßenen Lauten in der Mittellage, eintönig: »Frier ich am Feuer und blase hinein …« während aber dahinter die Klaviermusik in einem lustigen Spottgelächter einen rauschenden Dur-Aufschwung nahm und abspringend, wie ein landender Vogel, mit zwei, drei Sprüngen prasselnd endete.

»Bravo!« sagte Benno hochentzückt, »Du hast herrlich gesungen, ganz herrlich!«

»Guck mal da!« antwortete die Sängerin, »da steht Fräulein von Montfort!«

Benno drehte sich um und sprang auf; sein heißes und gerötetes Gesicht wurde ganz dunkelrot, als er mit vielem Dienern auf Renate zukam, die Arme schlenkernd nach außen bewegte und lächelte und etwas stammelte mit seiner gebrochenen Stimme.

»Guten Abend, Benno,« sagte Renate ihm die Hand reichend, »war das von Ihnen? Ach, machen Sie's noch mal, es war so lieblich, bitte, wollen Sie so gut sein?« fragte sie das Mädchen, in dem sie nun Bennos Braut erkannte, und das gleich bereit war. »Heliodora gebietet,« sagte sie zu Benno, der sich maßlos wand und zierte, »also los!«

»Es ist aber ganz unbyzantinisch«, suchte Benno sich herauszuwinden. – Renate schwindelte es plötzlich, sie beherrschte sich mühsam, ging auf eine graue Bank zu und setzte sich. Bald darauf hörte sie das Klavier wieder, ihr schien, wehende Gartenzweige gingen vor ihr auf und nieder und die Sonne brannte. Aus Vogelgezwitscher schmetterte eine singende Stimme:

Lieblich ist Sommer mit Ähren und Mohn,
Ach und die Bäume entlaubten sich schon …

Die Stimme, während das Klavier rumorte und aus der Fassung zu kommen schien, wurde wehmütig und murmelte:

Warfen die Kleider hin, steigen ins Grab;
Werf ich die Schuhe, die Kleider jetzt ab,
Find't mich doch keiner, der eilig und gut
Um mich den Mantel der Zärtlichkeit tut …

Die Stimme schwieg, das Klavier suchte murmelnd und ein wenig schnüffelnd wie ein unruhiges Tier im Baß, Renate öffnete die Augen, glaubte Schritte zu hören, da erschien die rote Uniform und das Gesicht des Herzogs mit fragenden Augen. Es waren noch Menschen da, aber er schloß die Tür hinter sich. Renate bewegte sich nicht, sah ihn nur unendlich erquickt und beruhigt an, nur mit ihrer Haltung andeutend, daß gesungen wurde und nicht zu stören sei.

»Der mich ins Zimmer trägt, mir in die Hand –« hörte sie wie vorhin, die Worte entgingen ihr, gegen Ende stand sie langsam auf, der Herzog bewegte sich vor, und sie faßte seine Hände. Es war still.

»Danke schön, Benno,« sagte Renate den Kopf neigend, »dank Ihnen tausendmal, kleines Fräulein! Und – Benno, – mir ist etwas eingefallen, – ich möchte Sie gern um etwas bitten …«

Sie sah das Mädchen bittend an, die verstand, nickte Benno zu, rief: »Ich warte auf der Terrasse!« und lief mit halbem Knicks vor dem Herzog hinaus.

»Dies ist Benno Prager,« erklärte Renate, »du kennst ihn wohl …«

Benno mußte in seiner tödlichen Verlegenheit herkommen und dem Herzog die Hand geben. Da wurde wieder der Boden und alles umher weich und löste sich um sie, auf einmal saß sie, sah das besorgte Gesicht des Herzogs nahe über sich, drückte ihm die Hände und sagte leise: »Nichts – fragen, Liebster, ich – ich darf noch nicht denken. Nur ein wenig ausruhn!« bat sie müde. Mit geschlossenen Augen raffte sie nun ihre Gedanken zusammen, merkte, daß hinter ihr etwas Hinderndes war, an das sie nicht rühren durfte, öffnete die Augen und sagte:

»Es ist nur, – ich kann nicht zu Hause schlafen heut nacht. Ich dachte erst an dich, aber –« es gelang ihr zu lächeln – »was sollst du mit mir? Benno, nicht wahr?«

»Aber,« fiel der Herzog ein, »Georg kann ja im Stadtschloß – – ja,« unterbrach er sich, »was das nur mit Georg sein mag?« Und nun glaubte Renate zu erkennen, daß er selber in Aufregung war. »Ist etwas mit Georg?« fragte sie.

»Ach …« Er zauderte. »Ich weiß ja nicht. Er ist verschwunden. Um Mitternacht sollte doch große Huldigung sein vor der Universitätsterrasse, im Garten, und jetzt gehts auf Viertel –« Er warf den Arm aus dem Ärmel vor, um nach der Uhr auf seinem Handgelenk zu sehn, und murmelte erschreckt: »Gleich halb eins.«

Renate schwieg und mußte die Augen schließen vor Schwäche. Sie hörte sprechen, es rauschte in ihrem Gehör. Die Lider mühsam aufbringend, sah sie aus weiter Ferne den Herzog und Benno miteinander sprechen, doch kamen sie näher, als sie selber den Mund öffnete.

»Wir können vielleicht«, sagte sie, »so lange in Georgs Zimmer sein, bis bei Benno zurechtgemacht ist, – Benno, nicht wahr? Sie haben ja einen so schönen Diwan …«

Benno schien erlöst, daß es nicht sein Bett sein sollte, rang die Hände und konnte vor Dienstbereitschaft, Peinlichkeit und Wonne kein Wort hervorbringen.

Alessandro Stradella … las Renate fortwährend in kleiner, mickriger Kreideschrift an der Wandtafel, dahinter eine ausgewischte Jahreszahl und, etwas darunter: Pugiani. – Alessandro Stradella, sagte der Herzog nun, – was wollte er denn damit? – Sein Gesicht und das Bennos entfernten sich unaufhörlich und schwebten wieder näher, – nein, um Gottes willen, flüsterte Renate sich zu, du mußt dich doch zusammennehmen!

»Wollen wir gehn?« fragte sie und sah lächelnd vom Einen zum Andern. »Ihr dürft mich nicht auslachen, daß ich so mitten in der Nacht ankomme! – Benno, und wie reizend war das kleine Lied!« Sie lachte leise, erhob sich, wäre aber zurückgesunken, wenn sie nicht allen Willen aufgeboten und sich zornig angeherrscht hätte. Sie ging mit halbgeschlossenen Augen, an der Treppe nahm sie Bennos Arm, bald darauf saß sie in einem Wagen und fühlte, daß er rollte. Es dauerte nicht lange, sie sah Benno vor sich aussteigen, nahm seine Hand und trat auf die Erde. Dann war sie in Georgs Zimmer, das sie erkannte.

Schlafzimmer

Sie saß in einem Sessel und sah undeutlich den roten Rücken des Herzogs sich entfernen, ein Türrahmen war herum, er wurde kleiner in einer andern Tür, die Augen fielen ihr zu, sie öffnete sie wieder, da sie die Stimme des Herzogs nahe über sich hörte. Sie sah ihn lächeln, während er sagte:

»Dieser Georg! Hier hat er noch ein Zimmer, komm nur, das ist wie für dich erfunden.«

Sie stand müde lächelnd auf, nahm seinen Arm und ließ sich davonführen. Es ist wie als Kind, dachte sie ergeben, die Augen geschlossen, wenn ich mit Vater blind spielte … »Kann ich nun aufmachen?« fragte sie leise, öffnete die Augen und sah den Herzog lächeln ohne zu verstehn.

Nahe vor ihr stand ein Diwan, dunkelviolett wie ihr Kleidrock mit lichtfarbigen Kissen. Große schwarze Reiher flogen schön über Vorhänge, und hinter dem Herzog war das gelblichweiße Gewoge und Gewölk eines großen Himmelbetts. Sie sah es zweifelnd an, witterte leicht mit der Nase und sagte: »Ich weiß nicht …«

Langsam gegen das Himmelbett vorgehend, blickte sie zwischen den gerafften Falten hinein und sah einen schönen und großen, blauen Schmetterling auf dem Kopfkissen stecken. »Nein, sieh, Woldemar,« sagte sie, »das scheint doch für jemand anders …«

Plötzlich kreiste das Bett vor ihr, der Schmetterling wurde zu vielen, die sich auseinander schoben und umher zuckten, sie fiel vornüber und sammelte den Rest ihrer Kraft, um den Schmetterling nicht zu zerdrücken, faßte darunter, fühlte sich im selben Augenblick aufgehoben und sanft niedergelegt. Eine Weile war es schwarz um sie her, aber sie konnte die Lider wieder heben. Der Herzog stand deutlich vor ihr, besorgten Auges, sie fing an, die Ordensreihe auf seiner Brust zu zählen, deren Kreuze übereinander gelegt waren. »Wie die Schmetterlinge«, sagte sie ganz leise und sah, daß sie den blauen noch in der Hand hielt. Sie steckte ihn mit schweren und lahmen Händen auf den Brokatstreifen vor ihrer Brust, die Augen fielen ihr darüber zu, sie dachte erschreckend: ich muß es ihm doch sagen, er muß es doch wissen! Schon saß sie wieder aufrecht, blickte hart und fest in seine Augen empor und sagte, kaum ihre Stimme vernehmend:

»Du mußt noch wissen … Es ist etwas – geschehn. Nein, laß nur,« wehrte sie todmüde ab, da er eine beschwichtigende Bewegung machte, »einmal muß es doch sein. Nun – mußt du – ganz verstehn,« brachte sie in Absätzen hervor, »willst du?« Er nickte.

Eine Weile war alles fort, sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Endlich dämmerte es langsam wieder, sie hielt sich mit beiden Augen an den verschwimmenden Linien der weißlichen Wässerung in einer orangefarbenen Schärpe und sagte, seine Hand fassend:

»Josef ist – tot. – Erasmus …«

Da merkte sie, daß ihr Kopf sich ganz tief neigte, und dann lag sie wieder. Sie brachte mit unsäglicher Mühe die Lider hoch, sah das Gesicht des Herzogs und hörte ihn, gütig zuredend, sagen: »Nun mußt du aber schlafen …«

»Erasmus«, flüsterte sie sehr leise, »ist böse, nicht?« Der Herzog nickte und nahm ihre Hand. »Aber Josef,« sagte sie heller und froh, »Josef ist gut! Ist er nicht gut?« fragte sie, sich schnell aufrichtend.

»Liebes Kind,« hörte sie den Herzog sagen, »du drückst mir das Herz ab, es ist ja nun genug! – Mein Gott,« stöhnte er ganz erschüttert, saß da neben ihren Füßen und hielt die Stirn in der Hand, »mein Gott, es ist ja fürchterlich, wie du dich aufrecht gehalten hast!«

Ach, dachte Renate, da ist schon wieder einer, dem ich den Kopf streicheln soll! – Sie legte die Hand auf sein Haar und hörte sich ferne sagen: »Haltung, lieber Freund, giebt es ganz umsonst, wenn das Schicksal seinen Tribut – –«

Sie verlor das Ende des Satzes und sank zurück. Aber sie konnte nicht stilliegen, schlug plötzlich die Augen wieder auf und sagte mit kleiner Stimme: »Du meinst vielleicht, – weil sein Gesicht – weil er – – nur noch halb ist … Aber weißt du, – er hat ja eine – – Ergänzung, – oh, eine schöne! Das glaub nur ja nicht, daß sie nicht gut paßt, sie ist ja von einem Chinesen! Sieh, nun weißt du's!« sagte sie triumphierend und dachte: wie vernünftig ich doch sprechen kann, er merkt sicher nichts. »Und siehst du,« fing sie wieder an, unterbrach sich aber und sagte: »Hast du's gehört? Siehst du, habe ich gesagt, und Ulrika behauptet, daß ich immer ›weißt du‹ sage, aber das tue ich gar nicht. Nein, siehst du, Josef, – du mußt nicht denken, daß er es nicht gewußt hat. Oh, Josef ist so gut, so gut, er ist ein solcher Held, er sagte: ich fürchte mich nicht! – Das sagte er, und es lauerte doch, weißt du, immer lauerte es schon, unter den Bäumen, wo die Schaukel ist, weißt du, und dann in den Wiesen, am Wehr, oh wie das rauschte, hörst du? ganz laut – höre ich es …« Sie schöpfte Atem, bewegte den Kopf hin und her und sprach heiß und eilig weiter: »Kein Wort, hörst du wohl, kein Wort hat er gesagt, so saß er da, du mußt es seinem Vater sagen, daß er kein Wort gesprochen hat, er war ein Held, war er nicht? – Was not he?« flüsterte sie, »das ist englisch … Ach, meine Stimme – will gar nicht mehr«, sagte sie heiser und gequält und merkte, wie ihr die Worte erloschen.

»Schlaf nun, du mußt wirklich schlafen«, sagte jemand.

»Muß ich?« fragte sie lächelnd mit geschlossenen Augen.

»Ja, ja, du mußt«, sagte die gute Stimme wieder.

»Dann will ich gern, wenn du's sagst«, flüsterte sie gehorsam, drehte den Kopf auf die Seite und machte die Augen fest zu. Gleich aber öffnete sie die Lider wieder, lachte leise und fragte: »Ists so recht?«

Sie hörte noch ein Gemurmel, seufzte tief, streckte sich und empfand dankbar die Dunkelheit.

Schlafzimmer (das andre)

Doch stürzte sich jetzt ein peitschender Knall mitten durch ihr Herz. Sie schnellte hoch, schrie auf: »Erasmus! Du darfst nicht, du darfst nicht mehr!« Ein wütender Ingrimm jagte sie auf, da knallte es wieder, sie fiel innerlich zusammen, wankte gegen Hartes, fühlte einen Türdrücker, riß und zerrte ohnmächtig daran, endlich schlug die Tür nach außen auf, es war blendend hell, der rote Waffenrock … bläulicher Dampf – – und wieder ein Knall und scharfes Pfeifen dicht neben ihr … Dahinten stand in der Tür ein Mensch, schwarzbärtig; aber sie kannte ihn, sie rang nach dem Namen, sie mußte ihn rufen, der Herzog hob den Stock und rief wütend: »Du bist verrückt, Schurke, wirst du endlich aufhören!« Menschen warfen sich herein, packten ihn, er schüttelte sich mit ihnen herum, es knallte wieder, Renate, am Türpfosten hängend mit Kopf und Rücken, wand sich und schrie plötzlich: »Sigurd!«

Da fielen ihm die Arme herunter, sie sah Sigurds Nase und bestürzte Augen, dann den Herzog, der an einer Badewanne lehnte und schwankte. Sie lief zu ihm, kniete vor ihn hin, stützte seine Stirn, er machte die Augen weit auf, lächelte und sagte leise: »Es ist ja nichts. Ein Streifschuß, – oder …«

Nun giebt es zu tun, dachte Renate, aber sie bewegte sich nicht, lehnte matt in der Tür zum Badezimmer, bis ihr einfiel, was sie suchte, eine Waschschüssel, doch war keine zu sehn. Es rauschte, laut und lauter rauschte es in ihren Ohren. Sie drehte sich wieder um, da lag der Herzog furchtbar groß auf dem Bett mit riesigen, spiegelblanken Reiterstiefeln an den Füßen; seine linke Hand, die herunterhing, war ganz rot, und das Blut tropfte eilig an den Boden und bildete eine Lache. Menschen standen herum, die Tür ging auf, eine Waschschüssel, in der ein Handtuch lag, wurde hereingetragen, Renate ging draufzu und nahm sie aus den Händen eines zitternden alten Mannes, kniete neben dem Herzog nieder, setzte die Schüssel hin und wusch die Hand, es war keine Wunde daran.

»Ein Messer,« sagte Renate, hatte gleich darauf ein Taschenmesser in der Hand und trennte die Ärmelnaht auf, schnitt und riß den Ärmel ab, knöpfte die Manschette auf, streifte den Hemdärmel hoch und sah am Oberarm einen klaffenden Riß, den sie wusch. Impfnarben kamen groß und zerflossen zum Vorschein, sie drückte das Handtuch auf den Riß und sah, einen Augenblick dahockend, das Gesicht des Herzogs, sonderbar still und bleich mit geschlossenen Augen. Er atmete. Und sie dachte, da er so in sich gekehrt dalag: Das kann doch von dem Riß nicht kommen …?

Schritte kamen, ein Gesicht mit einem spitzen Bart neigte sich von oben, eine Hand nahm stillschweigend das Messer aus ihrer Hand und fing an, die Schärpen durchzuschneiden. Sie begriff und hakte den Waffenrock von unten auf, ließ es aber, da das Blut wieder vom Arm lief, nahm das zusammengepreßte, nasse Handtuch auseinander und wickelte es, so fest sie konnte, um die Wunde. Mit dem Taschenmesser, das sie wieder auf dem Boden liegen sah, schnitt sie das Ende des Tuches auf und knotete es fest. – Nun konnte sie die Brust des Herzogs sehn, ganz schwarz von krausem Haar, darunter sehr weiß, und in der Nähe der bräunlichen Brustwarze war ein kleiner Fleck. Plötzlich fühlte sie, daß sie sich in ihrer hockenden Stellung nicht mehr halten konnte, und stand auf.

Etwas Blaues und Weißes schaukelte zur Erde. Jemand hob es auf und gab es ihr: es war der Schmetterling mit den Schleifen. Sie behielt ihn in der Hand, ging vorwärts und atmete kühle Luft. Der Garten, sagte sie, trat durch eine Tür, lehnte die Flügel hinter sich aneinander und sank mit dem Rücken dagegen. Sie sah das Schwarze von Bäumen, eine dunkle Lücke darin und zwei weiße Sterne, der rechte ein wenig tiefer als der linke. Sie konnte die Augen nicht abwenden von ihnen, ihr Blick war unendlich fest und ruhig, bändigte den ihren, bändigte ihr ganzes Herz und Dasein.

Zu Gottes Ehr' bin ich durch Feuer geflossen, hörte sie sagen, Matthias Zach hat mich gegossen, Hötting siebenzehnhundertundachtzig. – Sie lächelte und wiederholte willenlos: Zu Gottes Ehr' bin ich durch Feuer geflossen … Wie still und kühl es war! Nur das Rauschen hielt an. – Hötting siebenzehnhundertundachtzig, Matthias Zach hat mich gegossen … Eine alte Glocke hing still im Gestühl, Schwalben schrien, kleine Engelsköpfe von Bronze glänzten dunkel auf der Glockenspitze, und sie las die Inschrift: Matthias Zach hat mich gegossen … Die Sterne flackerten ganz wenig, als ob der Wind sie bewegte, der durch den Garten kam. Ein Tropfen näßte kühl ihre Stirn. Es fängt an zu regnen, dachte Renate und wandte sich um.

Hinter den Glasscheiben sah sie, daß die Tür zum Flur geöffnet wurde, jemand kam groß, bleich und schwarzbärtig die Stufen herab, die Hände auf dem Rücken, – Sigurd. Renate öffnete die Tür, trat ein, ging zum Fußende des Bettes, sah das bleiche und verschlossene Gesicht des Herzogs, unter einer wollenen Decke die Umrisse seines Körpers, und neben sich in der Tür den Arzt.

Der Herzog öffnete die Augen, lächelte bei ihrem Anblick, fragte dann: »Ist er da?« Renate nickte.

Ein Offizier in blauer Polizeiuniform bedeutete Sigurd vorzutreten, – da stand auch ein Schutzmann. – Der Herzog wandte das Gesicht herum, betrachtete lange den Dastehenden, der bei Renates Anblick den Kopf senkte, fragte dann mit leiser Stimme: »Was hat das – zu bedeuten?«

Sigurd schwieg. »Ich verrate nichts«, sagte er endlich, den Kopf hebend, und senkte ihn gleich wieder.

»Sie sollen nichts«, sagte der Herzog, »verraten. Ich will – wissen, wie ich – zu der Ehre komme …« Er hob mühsam den Kopf, blickte zornig und brachte knirschend hervor: »Haben Sie mich denn weiß Gott mit meinem Sohn verwechselt?«

Sigurd schien erstaunt. Ob er denn nichts wisse, fragte er nach Sekunden, zögernd. Der Herzog bewegte den Kopf, und Sigurd sagte mit einem eigentümlichen, irren Aufleuchten der Augen: »Er liegt in – der Gracht. – Nicht ich!« setzte er hastig und laut hinzu, – »er stürzte hinein, ich – ich sah es von weitem.«

Renate sah die Brust des Herzogs auf und nieder gehn, sein Atem rasselte, er stöhnte: »Unsinn! er kann schwimmen!«

»Er kam nicht wieder hoch«, sagte Sigurd.

»Ach, in Teufels – Namen,« keuchte der Herzog, »was wollen Sie – dann von mir?« Sigurd hob den Kopf, blickte glänzend geradaus und sagte kurz: »Den Nachfolger.«

Der Herzog sah ihn nur an. »Wir wissen alles«, erklärte Sigurd nicht ohne Stolz.

»Und – und der Sinn des Ganzen?« fragte der Herzog leise. Sigurd blickte Renate mit flackernden Augen an und sagte: »Ich will es der Dame erklären, wenn sie verspricht, es nicht vor morgen abend weiterzusagen …«

Der Herzog blickte Renate fragend an, sie winkte Sigurd mit den Augen und ging ihm voran in das Zimmer mit dem Himmelbett; sie ließ ihn eintreten, lehnte die Tür hinter ihm an, Sigurd stellte sich dagegen und fing sofort an, die Augen niederschlagend, zu sprechen, heiser und halblaut:

»Er ist nicht der einzige. Es handelt sich um zweierlei gleichzeitig. Wir stehen vor einem Kriege. Die einzige, wirkliche Gefahr ist der Patriotismus in Deutschland oder das dynastische Gefühl. Nur in Deutschland giebt es Fürsten. Ich bin nur ein Glied in einem großen Plan, nach dem sie Alle fallen heute und morgen. Der Schrecken wird die Gemüter bändigen. Es folgt die soziale Erhebung. Renate,« sagte er noch leiser, plötzlich das Gesicht und die schönen Augen hebend, die – o, sie sah es! – irre waren, ganz irre! – »vor Ihnen muß ich mich nun verteidigen … Was ich tat, war gut und – schwer.«

»Ich weiß«, sagte sie stumpf, während eine entsetzte Stimme in ihrem Herzen schrie: Er ist ja wahnsinnig, o Gott, er ist wahnsinnig! – Sigurd atmete tiefer. »Ich wollte,« sagte er, jählings flammend, »den – den Andern, den Sohn, diesen –«

Gleich darauf lag er vor ihren Füßen auf der Erde, sie sah seine Hände von stählernen Ringen zusammengehalten und schauderte vor diesem Zeichen des Verbrechens. Sie fühlte sein Gesicht an ihren Knien, wollte es wegheben, aber eine schaurige Erinnerung zwang sie, die Hände auf seinem Kopf zu lassen: damals, als Esther tot war, damals kniete er so. – Und dann fuhr sie ein-, zweimal mit den Fingern durch das lockre und weiche Haar. – Hötting siebenzehnhundertundachtzig … hörte sie, ihr Mund zuckte, sie streichelte wieder seinen Kopf, hörte ihn leise wimmern, fuhr, verzweifelten Herzens, fort, dem zerrütteten Haupt an ihren Knien mit den Händen wohlzutun und es zu beruhigen, und murmelte Worte, die sie nicht mehr verstand. –

Er gehorchte und stand vor ihr, die geröteten Augen verstört, voll Schmerz und Feuer. Um seinen Mund zuckte ein Lächeln, da er sagte: »Esther hat es ja nicht zu erleben brauchen …«

Seine Blicke glitten an den Boden; als sie mit den ihren folgte, sah sie wieder den blauen Falter dort liegen, bückte sich und hob ihn auf.

»Immer«, sagte sie leise zu Sigurd, »liegt mir der Falter im Weg; sieh, wie ist er schön, und immer unverletzt.«

Sigurd schluchzte plötzlich auf und sagte: »So wie du …«

Sie schauderte, da wurde die Tür geöffnet, der Offizier erschien, auch der Arzt, der sie zum Herzog bat.

Nun stand sie zu Füßen des Bettes. Das Gesicht des Herzogs war gelb. Er schlug die Augen auf, sah sie schmerzlich und mitleidig an und sagte sehr leise: »Tut es noch immer weh?«

Renate senkte die Stirn, ohne zu verstehn, und er sagte wieder: »Ich dachte, dir wäre längst besser – nun.« Und nach einer langen Pause: »Arme Helene …«

Renate ging um das Bett zu ihm, schlug die Decke zurück, legte die Finger in seine Hand und drückte sie leise. Er hatte die Augen geschlossen.

Eine Weile später sah sie die dunklen Pupillen wieder glänzen. »Ach, Renate!« sagte er, leise lächelnd und kaum vernehmbar; dann – mit einer langen Pause zwischen jedem Wort: »Du – – warst – – sehr – – schön. – – Aber – –«

Lange Zeit kam nichts mehr. Sein Atem ging sehr rasselnd. Die Tür wurde plötzlich aufgerissen, ein halbes Gesicht fuhr herein und verschwand sofort: die Tür wurde sehr langsam zugezogen.

»Helene?« hörte sie eine kraftlose Stimme sagen und nach langen Sekunden: »bist – – du – – noch – – da? – – Ach so!« sagte er dann.

Renate stand auf und stellte sich in die Gartentür. Leise fiel im Dunkel der Regen. Auf dem vom Licht im Zimmer beleuchteten Wege sah sie ihren Schatten liegen, dessen Haupt im Schatten von Zweigen verschwand. Sie fröstelte, wandte sich um und trat wieder ans Bett. Vor ihr beugte der Arzt sich auf den Daliegenden, beugte sich tiefer, richtete sich nach Sekunden wieder auf, sah sie ernst an und nickte. Gleich darauf fing irgendwo ein Mensch laut zu weinen an.

Renate warf noch einen Blick ohne Gefühl auf das gelbe, entfremdete, hager gewordene Gesicht, wandte sich ab und ging zur Tür, die vor ihr geöffnet wurde, ging zwischen Menschen hindurch über den Flur und trat in die Nacht und den Regen, wo Menschen im Halbkreis geschart im Laternenlicht standen. Sie ging geradesweges zwischen ihnen hindurch und weiter, steif in sich, kalt, unbeweglich, nur langsam ermüdend, aber sie ging weiter und weiter, bog um Hausecken, ging viele Straßen kreuz und quer, jemand redete sie an, sie blieb stehn und fragte: »Ja, was wünschen Sie?« und die Gestalt vor ihr drehte eilig um und entfernte sich. Sie ging weiter, schritt plötzlich auf ein riesengroßes, leuchtend weißes und vergittertes Fenster zu, das über ihr schwebte, erkannte eine hohe Mauer und bog um die nächste Ecke. Neben einem Hauseingang blieb sie stehn und sah zu den Fenstern auf. Drei erleuchtete gewahrte sie, sie hörte einen Fensterriegel, ein Schatten beugte sich heraus und verschwand gleich wieder. Sie konnte nicht mehr stehn, ging zur Haustür, faßte nach dem Türdrücker und lehnte sich in die Nische. Die Augen fielen ihr zu. Dann hörte sie einen Schlüssel im Schloß, die Tür bewegte sich, sie öffnete die Augen, erkannte im Dunkel Saint-Georges' Gesicht und sagte leise und vorwurfsvoll: »Aber Georges! – wo warst du denn den ganzen Tag?« Seine Antwort vernahm sie nicht mehr.

Sterne

Georg konnte sich nicht bewegen. Das weiße und blaue Pferd rannte in wütender Eile mit Renate bergunter, aber, obgleich sie laut um Hülfe schrie, lag er auf der Seite fest und konnte die überkreuz gefesselten Hände nicht bis zu der Pistole bringen, die dicht vor seinen Augen lag. Das Pferd galoppierte unaufhörlich, endlich hatte er nach fürchterlicher Mühe die Hände an der Pistole, aber sie war so groß wie ein Maschinengewehr, hatte keinen Lauf und einen unverständlichen Mechanismus von lauter Hebeln und Rädern, der Kolben war nicht zu finden, er ächzte und fluchte: »Wer hat denn dies verrückte Ding hier hergestellt, damit kann man doch nicht schießen!« – Aber plötzlich knallte es, jedoch ganz leise, und Georg sah einen kleinen Hahn sich bewegen und auf ein Zündhütchen fallen, und dachte: Sonderbar! Erst schießt es, und dann fällt erst der Hahn. – Der Hahn bewegte sich von selbst wieder in die Höhe, und nun fiel das Zündhütchen herunter, fiel ins Innere der Maschine zwischen die Hebel und Stangen, und Georg sah es unten unter der Tabulatur liegen, denn nun war es eine Schreibmaschine. Ach, nun weiß ich! dachte er und drückte eine Taste; sogleich knallte es, und noch einmal, und wieder, sooft er die Taste niederdrückte …

Georg schlug die Augen auf und fand sich in einem Halbdunkel. Irgendwo mußte ein Licht sein, da berührte etwas Warmes und Weiches seine Stirn, und er sah dicht über sich einen großen Pferdekopf. Unkas, dachte er, merkte, daß er am Boden lag, und fror. Sein Kopf glühte, ihm war sehr elend, aber nun fiel ihm ein, daß er ja gesucht wurde, daß er fort wollte, fort mußte. Er stand auf, seine Glieder schmerzten heftig, er schwankte, ihm wurde tödlich übel, und an den Pfosten der Box gelehnt, erbrach er sich mit furchtbarem Krampf. Danach war ihm etwas leichter, er sah das Kopfzeug des Pferdes dahängen, nahm es herab, trat neben Unkas und machte es mit unsäglicher Anstrengung, mit immer wieder lahm herabfallenden Armen, notdürftig fest. Er ergriff einen Zügelriemen und zog das Pferd hinter sich her. Die Stalltür war angelehnt, er kam auf den Hof, sah im Vorwärtsgehn alle Fenster seiner Wohnung erleuchtet, auch einige darüber. Die arbeiten die ganze Nacht durch, dachte er spöttisch, aber wieder fiel ihm ein, daß er gefangen werden sollte, und er zog Unkas nach links hinüber in den Garten. Nun konnte er nicht mehr gehn, streifte Unkas den Zügel über den Hals und kletterte ächzend und verzweifelt auf seinen Rücken. »Ja, nun geh, geh doch!« flüsterte er. Das Pferd fing an zu gehn, er hielt sich an der Mähne fest, wankte mit geschlossenen Augen vor- und rückwärts, da stand das furchtbare Tier wieder still. Die Augen öffnend, sah Georg Wasser unter sich, daneben einen kreisförmigen Schattenriß strahlenartiger Latten, die den Weg am Wasser versperrten, begriff, daß er durch den Graben mußte, trieb Unkas mit Faustschlägen und den Absätzen hinein, und nun hörte er lange Zeit das schwere Planschen der Hufe im Wasser. Plötzlich ging es mit einem Ruck bergauf, er hielt sich fest, sah im Dunkel vor sich ansteigend den Pferdenacken, warf sich vornüber, und nun ging es wieder auf ebenem Boden weiter, entsetzlich langsam, und schließlich stand die Bewegung wieder still.

Da funkelten Sterne … Drei, fünf, viele, unzählbare standen in der Nacht und funkelten unablässig. Weiter oben am Himmel jedoch waren keine, und Georg wunderte sich, daß die Sterne nur noch unten waren. Ihre kleinen Feuer loderten, andre blinzelten nur leise, aber sie waren alle seltsam in Bewegung und funkelten ohne Unterlaß. Er sah wieder nach oben, ob dort noch immer keine seien, legte den Kopf in den Nacken, verspürte augenblicks einen knallenden Schlag und starken Schmerz am Hinterkopf und lag am Boden. Vor seinen Augen zuckte und sprang das Sterngewimmel aufgelöst durcheinander, nach einer Weile wurde es wieder ruhiger, jedoch eine wahnsinnige, tödliche Angst wälzte sich zermalmend über seine Brust; er glaubte zu sterben, alles wurde weich und schwarz um ihn her, die Augen fielen ihm zu, aber unverändert noch lange Zeit blieben im Dunkel ihm Sterne sichtbar, sich verlierend in eiskalte Finsternis, funkelnd und glitzernd unablässig.

 

Hier enden des siebenten Buches neun Kapitel oder dreimal soviel Stunden.


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