Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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X

Zu Kriegsende gelang es Lotte, trotz aller Schwierigkeiten, den jungen Menschen mit nach Berlin zu nehmen. Sie brachte ihn hier fürs erste in einem billigen christlichen Heim für junge Männer unter. Sie sorgte in einer Selbstverständlichkeit, über die zwischen ihnen kein Wort verloren wurde, vollständig für ihn und griff unbedenklich das kleine Sparkonto an, das noch auf den Namen ihres verstorbenen Kindes Hermann lautete, um dem jungen Rumänen seine angestrebten staatsrechtlichen und nationalökonomischen Studien zu ermöglichen, als sich die Verhältnisse so weit beruhigt hatten, daß Ausländer wieder an der Universität hören konnten.

Wieder hatte Lotte »Glück«: sie konnte ihren alten Posten in der Klinik von neuem antreten, nachdem sie eine Weile sehr anstrengende Privatpflegen, in denen sie den Haushalt der Patienten halb mit versorgen mußte, gehabt hatte. Oberschwester Laura, die ihres Alters und eines Leidens wegen den Dienst hatte quittieren müssen und bei Verwandten auf dem Lande lebte, hatte bei ihrer Nachfolgerin eine warme Empfehlung für »ihre Lotte« hinterlassen, falls sie sich wieder melden sollte. – Lotte fand die Klinik verändert, mit viel neuem Komfort versehen, nachdem sie, wie man ihr schilderte, durch die Kriegsbelegschaften schrecklich heruntergewirtschaftet gewesen sei. In jedem Krankenzimmer war nun fließendes Wasser und Telefon eingebaut, Lotte bewunderte die große neue Röntgenstation, die vielen Apparate für Heilungsbestrahlungen, es arbeitete sich leichter als früher, sie wurde beliebt bei den Kranken, an die neuen Ärzte schnell gewöhnt, und hatte bald wieder den alten guten Ruf von ihrer glücklichen Hand, besonders nachdem sie eine offizielle Persönlichkeit, einen schwierigen Patienten, nach Ablösung von vier anderen Schwestern, »ganz gegen seinen Willen«, wie er, genesen, scherzte, gesund gepflegt hatte. Dennoch ruhte Lotte, von dem nüchternen Gedanken an Geldverdienen gleicherweise wie von ihrer inneren Traumesgier bedrängt, nicht eher, als bis sie es erreicht hatte, wieder als Nachtwache in das kleine Wachstübchen einzuziehen, das unverändert geblieben war bis auf die Lichtsignale, die statt der Glocken angebracht waren, und bis auf einen mattgelben Anstrich der Wände. Als Lotte bedauernd nach »ihrer nachtblauen Dämmerung« fragte, erklärte man ihr lachend, man habe herausbekommen, daß die blauen Wände einschläfernd wirkten, und das sei doch nicht das Rechte für eine Wachstube. Gelb dagegen rege an und halte munter. Das konnte schließlich auch Lotte nur recht sein, und es war, als ob wirklich eine andere Stimmung von diesen Wänden ausging als früher von den sanftblauen, denn Lottes Phantasien änderten sich, als sie sich wieder zu regen begannen. – Nur ganz flüchtig hatte sie beim Eintritt Furcht vor der Erinnerung an das Vergangene durchschauert, das sich mehr als anderswo mit diesem kleinen Raum verknüpfte, doch die dazwischenliegenden Jahre waren zu einschneidend gewesen, hatten sich wie eine Schicht neuer Lebenserde auf die damals noch so frische Wunde gelegt, und was jetzt in Lotte wieder aufkeimte und sich regte, das zielte vorwärts in die Zukunft. So saß sie nun in der Stille der Nacht und schrieb bei einem Licht »wie verdeckter Goldesschein« zwischen den hellgelben Wänden bald wieder ihre kleinen Geschichten. Eine Erkenntnis, die wie ungefähr in ihr aufdämmerte, daß sie früher wie in einer düsteren Prophetie in ihren Geschichten das Schicksal ihres Kindes vorausgestaltet, womöglich gar beschworen habe, drängte sie in dem krampfhaften Bemühen wieder in sich zurück, ein um so glänzenderes, unbedingt glückliches Leben zu schildern, je unsicherer und aufreibender die Zeit in jenen Jahren war. Auch war es die natürliche Eleganz, die etwas exotische Schönheit ihres Schützlings, seine sich in gebildeteren Regionen bewegende Redeweise, seine Kenntnis höherer Gesellschaftskreise von früher her, die Schilderungen der lebensfrohen Sitten seiner ehemals glücklichen Heimat und Jugend, seine Erzählungen von Reisen nach Paris und an die Riviera, was jetzt Lottes Einfälle in völlig andere Bahnen lenkte. Nun war es nicht mehr die eine strahlende, heldische Gestalt wie einst, die alles Geschehen in ihren kleinen Erzählungen an sich riß und beherrschte, sondern jetzt waren es die Umgebung, das Milieu, die Geschehnisse, welche die undeutlich schillernden Menschen der Darstellung in ihr Schicksal trieben, das freilich immer, nach Lottes neuem, geheimen Schutzgesetz, glücklich endete im Gegensatz zu ihren früheren tragischen Schlüssen. Allerdings konnte dies immer erst geschehen, nachdem mehr oder weniger schwer die unheilvolle Umgebung gewechselt oder die unbefriedigenden Verbindungen gelöst waren: Autorennfahrer, verwöhnt und umbuhlt, mußten einen schweren Unfall erleiden, um in den Armen der um des Rekordes willen verlassenen Geliebten wieder ein »fühlender Mensch« zu werden; Damen der hohen Gesellschaft, verarmt und leichtsinnig, sanken zu »Tanzbardamen« herab und stiegen zu glücklichen, bürgerlichen Ehefrauen wieder auf; Spieler mit natürlich vorzeitig ergrauten Schläfen verließen den grünen Tisch auf immer, um geführt von der Hand jugendlicher, aber charakterfester Söhne den heilenden Reiz »sportlicher Arbeit in freier Natur« kennenzulernen; Erfindungen wurden gemacht, die hohen Lohn einbrachten, Paläste errichtet und Feste gefeiert, und selbst Millionäre durften, nein mußten glücklich sein. Diese »Novelletten« gefielen, ein Vertrieb nahm sich ihrer Verbreitung an, und sie wurden von den in jenen Jahren wie Pilze nach fruchtbarem Regen aufschießenden Zeitungen und Magazinen gedruckt, und sie wurden besser honoriert als Lottes sentimentale Vorkriegsgeschichten.

Von dem auf diese Weise erworbenen Geld bestritt Lotte auf die Dauer den größten Teil der allerdings bescheidenen Lebensbedürfnisse des jungen Studenten, für Bücher und Kolleggebühren mußten außerdem noch die Ersparnisse herhalten. – Die beiden Menschen sahen und sprachen sich in dieser Zeit fast nur auf der Straße. Vor Dienstantritt holte Lotte ihren Schützling von seinem Heim ab, und er begleitete sie bis zu einer Ecke in der Nähe der Klinik, und an derselben Ecke stand er morgens, pünktlich acht Uhr wieder bereit, um die vom Wachen und Arbeiten übernächtigte Lotte zu erwarten und bis zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn zu bringen, an schönen Morgen, um etwas Luft zu schöpfen, auch noch ein Stück darüber hinaus, oder sie gingen gemeinsam bis zum nächsten Postamt, wo er für sie die Briefe mit den in der Nacht fertig gebrachten Manuskripten aufgeben mußte, damit sie recht viel Erfolg hätten. An ihren freien Tagen, wenn sie sich gründlich ausgeschlafen hatte, führte Lotte ihn in eine Konditorei – im Sommer war es meist ein Lokal im Freien –, und dann las sie Zeitschriften, machte sich Notizen für ihre Arbeiten, oder sie sprachen über seine Studien, die Lehrer und Kollegen, rechneten die Beträge zusammen, die für ihn nötig waren, und Lotte war unsäglich stolz darauf, wenn neben den Posten für Wohnen, Essen, Wäsche und Kleidung recht ansehnliche Summen für Bücher standen. – Der Rumäne war ihr zweites Kind, dessen Pflege in schwerer Krankheit ihr ein neues, kurzes, sie aber tief befriedigendes mütterliches Glück geschenkt hatte, nun war Lotte wieder eine Mutter, der nichts mehr zu tun übrig blieb, als Geld zu verdienen.

 

Die Eltern hatte Lotte als Greise wiedergefunden. Die Mutter war noch immer klug, verschlossen, streng vor allem gegen sich selbst geworden und mehr weltabgewandt denn je. Sie betete viel, aber im geheimen. Sie war bis zum Skelett abgemagert, da sie während des Krieges die knappen Lebensmittel stets vor allem ihrem Manne zugewendet hatte, der noch immer sehr an seinem Leben hing. Vom Gedanken an den Tod beherrscht, dem sie mit Fassung entgegensah, begrüßte die alte Frau Lottes Wiederkehr voller Erleichterung, war doch nun der Mann nicht verlassen, wenn mit ihr etwas passieren sollte. Scheinbar uninteressiert hörte sie sich die nur hie und da im Gespräch flüchtig gegebenen Erwähnungen an, die Lotte ihren alten Eltern gegenüber des Rumänen tat. – Die alte Frau starb im ersten Nachkriegswinter innerhalb dreier Tage als Opfer der schlimm wütenden Grippe. Lotte tat das möglichste für sie, doch die Mutter war von der ersten Stunde der Krankheit an apathisch. Voller Ekel drehte sie sich in ihrem Bett zur Wand, als die Tochter ihr zur Belebung des Herzens ein Glas Champagner an die Lippen setzte, die sich unablässig im Gebet bewegten.

»Der Name unseres Heilandes ist besser als das«, sagte die Mutter, noch einmal ganz in der alten, fast unmenschlichen Strenge. Doch als Lotte, die vierundzwanzig Stunden lang zu keinem Schlaf gekommen war, plötzlich von Müdigkeit überwältigt, die Augen vor der unbeweglich daliegenden, schwer atmenden Mutter geschlossen hatte und für Minuten eingedämmert war, umfaßte die Sterbende mit einem klaren und sehr milden Blick die Gestalt ihrer Tochter. Den Schmerz um ihren Sohn Hermann hatte Lotte überwunden, das fühlte die Mutter genau, sie verstand es wohl nicht, sie, die nur einmal lieben konnte und dann für immer, doch sie verzieh es. Dann dachte sie an den Rumänen, den sie zwar nie gesehen, dessen Bedeutung für Lottes Leben sie aber längst begriffen hatte. Aber sie konnte keine Richterin sein über etwas, das sie wieder als eine Schuld an der festgefügten Ordnung des Lebens ansah; sie, die selbst so mit Mühe vor dem bestand, dem sie sich in erhebender Demut unterworfen, wollte kein strenges Urteil mehr fällen. »Arme Lotte, ohne Glauben und mit der Seele nur auf der Erde«, dachte sie, »unglückliches, liebes Kind –«

Wie von diesem Gedanken geweckt, fuhr die Tochter auf. Das Gesicht der Mutter war wächsern, matt schon vom Tode verklärt. Lotte schrie auf, die Mutter aber preßte die Lippen fest aneinander. Das war ihre letzte Bewegung.

 

Lotte trauerte um die Mutter in einer Trauer, die mild, fast wohltuend war, wie die Erfüllung einer schweren, aber lieben Pflicht. Der Vater indes wagte nicht, sich dem Eindruck über den Verlust seiner Frau hinzugeben, denn er hatte große Angst vor dem Tode, weil er dann nicht mehr zum Grabe seines »kleinen Hermann« gehen könne. Sein Leben war von den Erinnerungen an den toten Enkel friedsam und oft heiter erfüllt, und um dieser Erinnerungen willen lebte er gern.

Es war Lotte sonderbar genug, wenn sie den Vater so sprechen hörte; es war ihr, als ob dieser »kleine Hermann« wirklich mehr zu dem alten Manne gehörte, als zu ihr. Nicht ohne Scham verjagte sie die bei diesen Reden sich notwendig manchmal meldenden Erinnerungen an den furchtbaren Schmerz, den sie einst um jenes so freudig-zärtlich erwähnte Grab gelitten hatte, nicht ohne Vorwurf gestand sie sich ein, daß die Erinnerung an jenen Kummer, »den sie durchmachen mußte«, stärker war, als das eigentliche Andenken an ihr Kind. »Ich bin wohl doch noch zu jung, um so an der Vergangenheit zu hängen«, so rechtfertigte sie sich vor sich selbst, »das Leben fordert sein Recht – ich habe ja auch neue Pflichten auf mich genommen.« Mit diesem Gedankengange brach sie endgültig mit der Vergangenheit und räumte dem Rumänen nun auch bewußt die Hauptstellung in ihrem Leben ein.

Da Lotte nun neben ihrem Beruf und der schriftstellerischen Tätigkeit auch noch den Vater und den kleinen Haushalt zu versorgen hatte, erstand sie, um Zeit und Geld zu sparen, eines Tages bei einem Gelegenheitskauf eines der neuartigen Patentschlafsofas, stellte es in der bisher unbenutzten Stube der kleinen Wohnung auf, und während sie weiterhin in der elterlichen Schlafkammer schlief, nahm sie den jungen Studenten als »möblierten Herrn«, freilich ohne Miete, bei sich auf.

Der Vater war überglücklich, Gesellschaft zu haben, und es entwickelte sich eine rührende Freundschaft zwischen den beiden Männern. Der Alte, den der Schmerz um seinen Enkel schwach und kindisch, aber zugänglich und menschengierig gemacht hatte, ernannte sich, wie er selber sagte, zum Kammerdiener des jungen Mannes. Er, der für sich selber nie etwas tun wollte, reinigte dem neuen Wohngenossen Schuhe und Kleidung, holte Milch und Brötchen herauf, und bereitete das Frühstück, bevor der Student in die Kollegien ging, so daß Lotte, wenn sie müde von ihren Nachtwachen nach Hause kam, sich um nichts mehr zu bemühen brauchte und sich sogleich schlafen legen konnte. Der Alte räumte dem Jungen sogar das Zimmer auf, ordnete seine Papiere und Bücher, spitzte – dies war eine besondere Kunstfertigkeit von ihm – seine Bleistifte, zuletzt verfertigte er für ihn aus Kistenbrettern ein Bücherregal, das er dunkelbraun beizte und dem er mit Lack eine künstliche Maserung gab. Dafür stopfte der Junge dem Alten abends die Pfeife, ging mit ihm spazieren, las ihm mit seiner weichen, gedeckten, aber melodischen Stimme und mit dem fremdartigen Akzent, mit dem er das Deutsche aussprach, die Zeitung vor, spielte Karten mit ihm, bei dem er ihm stets die Ehre des Gewinnes ließ, denn um etwas anderes spielten sie nicht – und ganz bezaubert war der Alte davon, wie herrlich und wie viele Melodien der Junge pfeifen könne. In der schrecklichen Zeit der Inflation hetzten die beiden Männer abwechselnd den Lebensmitteln und anderen Bedarfsgegenständen nach, um Lottes Geld möglichst schnell und zu möglichst hohem Werte umzusetzen. Der Rumäne, der mancher Ladenbesitzerin und Verkäuferin wohl gefiel und ihr auf seine unwiderstehliche Art zu schmeicheln wußte, verschaffte bald dies, bald jenes, was ohne Bezugschein oder »Edelvaluta« sonst nicht zu haben gewesen wäre.

Schließlich einigten sich beide Männer auch in ihrer Fürsorge um Lotte, die sich nun immer weniger um die Bedürfnisse des kleinen Haushalts zu kümmern brauchte, sondern im Gegenteil auch für sich persönlich bald allerlei Aufmerksamkeiten vorfand. Der Rumäne hatte sogar angefangen zu kochen, so daß Lotte, ehe sie in ihren Nachtdienst ging, eine warme Mahlzeit aufgetischt bekam. Das war ihr früher nie zuteil geworden, denn die Mutter hatte stets pünktlich um zwölf Uhr das Mittagessen fertig gehabt, auch wenn sie es, da der Mann meist »auf Bau« gewesen war, ganz allein verzehren mußte, denn Lotte lag ja um diese Zeit immer gerade noch im ersten, tiefen Schlaf. So hatte Lotte während der ganzen Jahre ihres Nachtdienstes in der Hauptsache von Kaffee und belegten Broten leben müssen, denen nur ab und zu ein gekochtes oder gebratenes Ei hinzugefügt war. Jetzt stand immer ein, wenn auch einfaches, so doch sehr schmackhaftes Gericht, nach Heimatsart des hübschen Koches zubereitet, pünktlich da, das Mittag war auf den Abend verlegt, und unter Scherzen und Lachen verzehrten die drei Menschen das Mahl. Lotte blieb nur vorbehalten, wie ein Familienvater Geld zu schaffen für dieses bescheidene, trotz schwerer Zeiten aber angenehme Leben, dessen Heiterkeit sie dem überlegenen und ausgeglichenen Temperament des jungen Rumänen verdankte.

Wieder erfüllte Lotte mehr väterliche als mütterliche Pflichten. Der letzte Rest des Sparbuches, das für Hermann Schuhmacher angelegt worden war, war nun völlig entwertet, und Lotte konnte noch froh sein, daß er zuletzt nur klein gewesen war. Sie mußte mehr denn je sehen, »Geld heranzuschaffen«, wie sie es nannte, und erreichte es auch dadurch, daß sie das Glück hatte, hie und da eine ihrer Geschichten zur Übersetzung in eine Sprache der »Edelvaluta« anzubringen.

Auch der Rumäne versuchte zu verdienen, indem er Nachhilfestunden erteilte, hier und da etwas »schob«, hauptsächlich Cognac und Liköre zu kaufen und zu verkaufen versuchte. Doch er gab das selbsterworbene Geld gewöhnlich für Theaterkarten, für feine Wäsche und Seifen, für Zigaretten, bunte Krawatten und seidene Taschentücher aus, machte für Lotte und den Alten, wie sie meinten, »unnütze« Geschenke, während er mit dem Geld, das Lotte verdiente, stets sehr sparsam umging.


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