Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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VIII

So ging das in Freuden und Leiden begrenzte Leben des Knaben bis zu seinem vierzehnten Jahre hin. In der Schule hielt er sich gut: Mathematik und Physik belebten seinen bedrückten und etwas schläfrigen Geist, und als er nach und nach abstrakter Vorstellungen fähig wurde, übten sie einen festigenden Einfluß auch auf seinen Charakter aus, denn sie vermittelten ihm eine Welt, die ihm in noch größerem Maße als die Religion unabhängig von der Welt des alltäglichen Lebens schien, in welcher er eben nie recht warm werden konnte, in der es für ihn »nicht ganz stimmte«, die »Gleichung nicht aufging«. – Diese neue Welt mit ihren auch für ihn lösbaren, richtigen Voraussetzungen gab ihm ein neues Selbstbewußtsein und ein stilles inneres Glück. Wenn er sich jetzt manchmal seine Zukunft vorzustellen begann, so war es eine ruhige, zurückgezogene Existenz, die er vor sich sah und die auf irgendeine, ihm noch etwas unklare Weise von der Beschäftigung mit Büchern und Studien ausgefüllt war. Doch er sprach nie davon, und er wurde auch gar nicht um seine Wünsche und Gedanken betreffs der Zukunft befragt.

Lotte, seine Mutter, die ohne Ahnung von seinem wahren, inneren Wesen ihn neben sich aufwachsen sah, hatte schon längst ihre bestimmten Pläne mit ihm. Die Helden ihrer kleinen Geschichten hatten sich verändert. Aus schönen, edelherzigen Kavalieren waren sie mehr und mehr Männer der reinen Tat geworden, faszinierend durch eine martialische Eleganz – ihre Liebhaberhelden waren Offiziere geworden, die nur von »Kriegs- und Kriegersruhm«, von »Feldern der Ehre« und zuletzt von stolzen Schiffen sprachen, die mit »scharfem Bug die schäumenden Wellen durchschnitten, und aus dräuenden Kanonenmündern Verderben spieen auf den Feind«. – Denn Lotte und ihre nun innig Vertraute, Oberschwester Laura, waren auf die Idee gekommen, daß »der Junge« zur Marine solle, und sie waren beide Feuer und Flamme dafür, Hermann in Wind und Wetter auf hohe See hinauszuschicken.

Allerdings war diese Frauenphantasie von einem realen Untergrund gestützt. Wie schon so oft scheinbar Glück in Lottes Leben waltete, hatte es sich getroffen, daß ein hoher Beamter des Marineamtes einer Operation wegen in die Klinik eingeliefert wurde, dessen schwierige Pflege, die den Ausgang auf Leben oder Tod entscheiden konnte, Oberschwester Laura besonders aufmerksam und tätig überwachte. Als er ihr nun zum Abschied dankte und sie dringend nach einem Wunsch fragte, den er ihr erfüllen könnte, rückte ihr blitzartig der Gedanke betreffs des kleinen Hermann vor den Sinn, und unverzüglich fragte sie den Herrn, dem sie durch sein leutseliges Wesen hatte nahe kommen dürfen, ob er nicht in dieser Hinsicht etwas tun könne. Er erklärte sich gern dazu bereit, gab genau seine Amtsstelle an, an die man schreiben solle, wenn es so weit wäre – einstweilen solle der Junge seine Schule zu Ende besuchen, in den Hauptfächern möglichst gut abschneiden, Singen und sittsames Betragen wären weniger wichtig, ein richtiger, mutiger Draufgänger wäre viel eher richtig, und vor allem solle der Junge ein guter Turner und tüchtiger Schwimmer werden. Der Beamte erfuhr nichts von der illegitimen Herkunft des Knaben, Schwester Laura hatte nur von dem Sohn einer Freundin gesprochen, und der Herr nicht weiter nach dem Stand des Vaters gefragt, denn die ernste, gesetzte Schwester Laura und die höhere Schulbildung des Knaben erschienen ihm vertrauenswürdig.

Schwester Laura, die in ebenso eigenwilliger, blinder Liebe an dem Knaben hing wie seine Mutter, und für ihn lebte, ohne ihn wahrhaft zu kennen oder kennen zu wollen, ihn auch nur höchst selten sah und dann einfach von ihm entzückt war, lief nun mit ihrer Freudenbotschaft zu Lotte, und Lotte war stolz und selig. – Diese ganzen Jahre, Blütenjahre ihres Lebens, hatte sie nur einem gelebt: der Zukunft ihres Sohnes. Wie sie nur schlief und arbeitete, träumerisch dichtete und Mark für Mark verdiente und ersparte, so hatte sie ihr Herz, ihr Glück, selbst ihre Liebe zu dem Kind gleichsam auf ein Konto gelegt, um es mit Glückeszinsen dereinst zu genießen. Nun schien es schon so weit zu sein, nun hatte sie also schon einen Gönner für ihren Jungen gefunden, und so wurde es von selbst zur festbeschlossenen Sache, ihr Sohn Hermann kam zur Marine. Sie sah ihn schon vor sich, groß, kräftig, braungebrannt, in weißer Offiziersuniform mit goldenen Knöpfen und Litzen. Sie sah ihn vor sich, Gestalt der träumerischen Ferne, die er für sie nun schon so lange war, wie er zurückkehrte von Reisen um die Welt, Kisten voller Gaben mit sich führend, die »bunte, rauschende Pracht ferner Länder, Märchenwelt des Orients«, die sie, Nachtschwester Lotte, nie erblicken würde – aber das war dann ihr Werk!

Auch der Großvater, der sich gern seiner eigenen Militärzeit erinnerte, war begeistert von dieser Idee, als Lotte sie eines Sonntagsnachmittags den Ihren mitteilte. Nur die alte Frau murrte: »Da hat man ihn aufgezogen – die viele Arbeit gehabt, und dann wird er die ganze Zeit irgendwo da draußen sein –«, eine Bemerkung, die ihre still erwachsene, doch verborgene Neigung zu dem Kinde erhellte, und die gerade darum Lotte auffahren ließ. Stolz, wie sie glaubte, unbewußt schmerzensbitter aber, wie es klang, sagte sie: »Du hast ihn großgezogen, jawohl, du hast die Arbeit gehabt – aber ich habe das Geld verdient, ich habe ihn auf Schule geschickt!«

Daraufhin fragte die alte Frau nur noch in ungewöhnlicher Sanftheit: »Will denn Hermann selber auch? – Es ist doch auch nicht ungefährlich –«

»Die modernen deutschen Schiffe sind groß und sicher wie ein Haus – da kann gar nichts passieren –. Besseres kann man sich für den Jungen nicht wünschen, ich bin froh, daß ich das für ihn erreicht habe, er ist versorgt fürs ganze Leben, er kann die Welt kennenlernen, er wird Karriere machen!« – Das war Lottes Antwort auf die Mahnung an Gefahr, während sie die Gestalt ihres Knaben mit einer Begeisterung umfaßte, die zugleich eine herzensferne, fast gewalttätige Energie enthielt. Ihr einfaches, offenes Frauengesicht war vor Entschlußkraft beinahe finster in diesem Augenblick, während ihre runden, schwarzen Augen den schwärmerischen Ausdruck der phantasievollen, aller Wirklichkeit entrückten Lotte zeigten, die nachts im blaudämmernden Wachstübchen kleine Geschichten schrieb. Die gefährliche, väterliche Macht, die schwere männliche Entscheidung – Lotte übte die eine mit verschüttetem mütterlichen Herzen aus, fällte die andere im Vertrauen auf ihre glückliche Hand.

 

Der Knabe war entsetzt von diesem Plan, der seiner ganzen Natur widersprach. Aber gleichzeitig war er hilflos, sich dagegen zu wehren. Er war trotz allem anstrengenden Nachgrübeln noch nicht imstande, seine Liebe zu den Büchern, die Wohltaten, die er von ihnen empfing, mit einem praktischen Beruf in Verbindung zu bringen. Den in ihm schlummernden Wunsch nach irgendeinem Studium, und sei es nur das der Technik, wagte er nicht zu äußern, er wußte, daß es schon ungeheuer viel für seinen Stand bedeutete, eine Realschule zu besuchen. Er war doch eine arme Waise, für welche die Mutter schwer das Geld verdiente. Ohne sich Gewißheit zu verschaffen, hatte der Knabe natürlich längst begriffen, daß er den Namen seiner Mutter trug, ohne daß es aber in dieser Hinsicht bis jetzt bei seinem einfachen, ganz auf sich bezogenen Leben zu irgendeinem äußeren Konflikt gekommen wäre. Nun warf die Vergangenheit ihren Schatten in die Zukunft voraus, und dem Kinde, in einem Alter, das noch weniger Können als Wissen barg, bangte vor dem kommenden Dasein. Der Knabe verbrachte aufgeregte, ratlose Wochen in seiner Einsamkeit. Einmal versuchte er es wohl, die Großmutter als Verbündete gegen den Plan Lottes zu gewinnen. Sie sprachen vertraut miteinander wie noch nie – doch die alte Frau, gerade jetzt merkwürdig stark getrieben, endlich der Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihre Arbeit, ihren Erfolg und nun auch ihre Meinung zu achten, wußte ihrem und dem Herzen des Enkels keine bessere Antwort als: »Überlaß es Gott, Hermann! Laß uns Ihm vertrauen. Kommt Zeit, kommt Rat!« –

Der Hinweis auf Gott erweckte in dem Knaben nur die leise, aber stets regsame Gewissensqual um seiner verlorenen Frömmigkeit willen, und verstärkte sie zu größerer Trauer und Pein. Aber da ihm nichts blieb als dieser Zuspruch der alten Frau, so wollte er sich wenigstens der Zeit anvertrauen und sich mit der Frist, die ihm die zwei Schuljahre noch vor Berufsfragen Ruhe gaben, trösten und Mut machen. Da bestand Lotte eines Tages darauf, daß er auf alle Fälle schon schwimmen lernen solle. Sie war bereits unruhig und ungehalten über die mittelmäßige Note ihres Sohnes im Turnen – daß Hermann einmal bei einem Dauerlauf schlappgemacht hatte, und bei anstrengenden Übungen unter Stechen am Herzen litt, wußte sie überhaupt nicht – und nun hatte sie Eile, die vielleicht einer tiefen Besorgnis entsprang, daß der Junge nur ja ein recht tüchtiger Schwimmer werde, allen Gefahren des Wassers gewachsen.

Der Knabe mußte sich also kurz nach Weihnachten zu einem Schwimmkurs anmelden. Das war eine Niederlage in seinem stillen Widerstand. Er konnte sich also nicht für eine geraume Zeit noch in seine Ideenwelt retten, sondern mußte sich schon jetzt mit dem aufgezwungenen Beruf beschäftigen, ohne daß ihm noch ein anderer klar vorgeschwebt hätte, der ihm einen Halt im Kampf gegen den Willen der Mutter gegeben hätte. Ihm graute im Innersten vor der Schwimmerei, ihm tat die Zeit leid, die er nicht mit den geliebten Büchern verbringen konnte, sondern für diese Wege zur Anstalt und die Übungen selbst vergeuden mußte. Wenn es wenigstens im Sommer gewesen wäre, im Freien, während der Ferien! Er hatte sich gerade jetzt mit besonderem Eifer seinen Aufgaben gewidmet, in dem Ehrgeiz, bei der Osterversetzung mindestens Zweitbester zu werden – vielleicht konnte er es auch bis zum Primus bringen, späterhin auf sich aufmerksam machen, einen Preis, ein Stipendium erringen, um doch nicht zur See gehen zu müssen, nun fürchtete er sofort, mit seiner Arbeit zurückzubleiben – und selbst seine Hilfe bei den Rechenaufgaben seiner kleinen Freunde schien ihm wichtiger als diese Schwimmübungen, die er um eines verabscheuten Berufes wegen unternehmen sollte. Aber Lotte duldete keinen Aufschub, im Sommer, so meinte sie, müsse der künftige Mariner schon in allen Seen der Umgebung schwimmen und tauchen!

Hermann stellte sich also beim Unterricht besonders ungeschickt und widerwillig an, und der Schwimmlehrer glaubte seine erprobten, etwas brutalen Methoden gegen »Wasserscheue« auch bei ihm anwenden zu müssen, »tauchte« ihn ordentlich an der Leine, ließ ihn Wasser schlucken und um Hilfe rufen, klatschte dann im Trockenen überlegen-gutmütig den halb ohnmächtigen, zitternden Burschen mit leichten Schlägen ab, um ihn wieder »ordentlich zu sich zu bringen«. – Hermann aber lief heulend wie ein kleines Kind in seine Zelle, während alles um ihn herum lachte. Er nahm sich daher die nächsten Male krampfhaft zusammen, verbiß seinen Widerwillen, sein aufsteigendes Grauen vor dieser ganzen Überwältigung seiner selbst tief in sich hinein, bezwang auch tapfer Atemnot, Schwindelanfälle und die sonderbaren Übelkeiten, die sich immer häufiger nach einer Weile im Wasser einstellten – und so kam der Tag heran, an dem er zum ersten Mal ohne Leine, sich also freischwimmen und ein Schwimmzeugnis erhalten sollte.

Sein Großvater hatte ihm für diesen Abend »etwas ganz Besonderes« versprochen, seine Mutter schenkte ihm im voraus zwei Mark für diese Leistung. Hermann ging, zart und schmächtig wie ein Zwölfjähriger, mit dem trostlosen Mut eines einsamen Kindes, eines vom widrigen Schicksal Geführten die glitschigen Stufen in das große Hallenbassin hinab, legte sich auf das nach Chlor riechende Wasser, machte wie ein Automat drei exakte, schulgerechte Züge, die Augen auf das dicke Seil gerichtet, das, zehn Meter weit entfernt, sein Ziel war. Er zweifelte nicht, es ohne weiteres zu erreichen, doch sagte es in ihm mit traurig vorgreifender Weisheit: »Wenn ich diesen Strick erreicht habe, dann kommt bald ein neuer, den ich erreichen muß, und weiter ist das Ganze nichts für mich – also los!« – Doch diese verzweifelte Aufforderung an sich selbst schien ihn nur zu lähmen. Schon in den nächsten Stößen wurden seine Bewegungen falsch und unregelmäßig, vergebens brüllte ihm der Schwimmlehrer die Kommandos zu, das tief in sich hinabgezwungene Grauen brach in dem Knaben auf: Grauen vor dem Wasser, das ihn von allen Seiten umdrückte, vermischte sich mit dem Grauen vor dem zukünftigen Beruf, vor einem drohenden, verfehlten Dasein nach bedrückter Kindheit – und ein verzweifelt-wütender Haß auf das Schwimmen, das ihn diesem Berufe, diesem Dasein zutragen sollte, verwirrte noch mehr seine unsinnig rudernden Bewegungen –eine körperliche Überwältigung kam hinzu: im Innern der Brust tat sich vom Herzen her eine Hand auf, fuhr würgend hoch bis zur Kehle, machte das Atmen zu übermenschlich schwerem Kampf, und nichts tauchte in dieser armen Seele auf, das ihr Halt, rettende Lebenskraft im letzten Augenblick eingegeben hätte. Sekundenschneller Abschied von den rührend kargen Anfängen seines Daseins machte dem Knaben noch einmal sein Ziel, das Seil, in seiner fünffachen Windung deutlich, dann aber entraste es in eine ungeheuer weit sich auftuende Ferne. Aus dieser Ferne rückte seinem inneren Auge noch einmal etwas nahe von dem, was seinem Herzen lieb gewesen war: der himmelblaue Zwergpapagei hinter dem Fenster der Vogelhandlung vergrub seinen kleinen grauweißen Krummschnabel in das duftige Brustgefieder – eine Buchseite blätterte sich auf und zeigte die fein detaillierte, steingrüne Abbildung eines Schachtelhalmes, eines verehrten Lehrers gütig-skeptisches Gesicht, bewegt im Sprechen, neigte sich gegen ihn, und es war noch einmal der oft umgrübelte Satz, den des Lehrers Mund soeben verkündete: »Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch untereinander gleich – wer ein Kerl ist, der glaubt es, beweisen kann man's nicht« –, zuletzt aber rückte auf den Knaben des Großvaters hohe kräftige Gestalt zu. Riesenhaft war der Mann in dem furchtbar-schönen Augenblick, da er mit muskulösen Händen den Knaben packte: hochgeschwungen zu werden weit hinauf über des Großvaters graubehaarten Kopf, schwindelnd vor Liebesfurcht vor dem Leben, aus aufgerissenem Herzen in seliger Hilflosigkeit die Worte aufsteigen zu lassen »Unser Vater, der du bist« – das war die letzte Empfindung des untergehenden Knaben, der nach kurzer Gegenwehr zappelnd und gurgelnd den Atem verlor. Ohne Schrei versank er im Bassin.

Sekunden später, gerade so lange wie sein entsetzter Ausruf »der Scheißkerl haut ab!« gedauert hatte, war der Bademeister an der Stelle. Doch Hermann kam nicht von selbst wieder an die Oberfläche, man mußte ihn hochtauchen, und die sofort eingesetzten Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Ausgepumpt von redlicher Anstrengung sackte der Bademeister zusammen: »Im Bassin zu ersaufen! Is mir doch noch nie passiert!« meinte er trübselig, »aber wenn ik da von vornherein mit Sammethandschuh zugefaßt hätte, naß wären die für den armen Kerl ooch gewesen – das bringt das Metier so mit sich –«

Der herbeigerufene Arzt stellte Tod durch Herzlähmung fest.

 

Ein Polizist machte Meldung, als Lotte gerade von ihrem Tagesschlaf aufgestanden war und Kaffee mit belegten Broten verzehrte. Ihre Mutter seifte die Fenster ab, denn es war Sonnabend. Es wurde den beiden Frauen gesagt, dem Hermann Schuhmacher sei beim Schwimmen ein Unfall zugestoßen. Zitternd und schweigend legten sie ihre Überkleider an und eilten in die Badeanstalt. Dort lag der Knabe in einem Lazarettraum.

In dem Augenblick, da Lotte sein zartes, jünger als seine Jahre erscheinendes Gesicht, den kleinen Kopf mit dem trotz der Nässe krausen Haar sah, war er für sie wieder das winzige Kind, das sie im Kornfeld geboren, das sie heimlich genährt und fortgeschleppt hatte aus dem Dorf, und sie war wieder Mutter.

In einem jähen, instinktiven Begreifen ihres wahren Schicksals, in einem hellsichtigen Durchdringen, in dem sie urplötzlich ermaß, um welches Glück sie betrogen, in welcher Unterdrückung das gehalten worden war, was einzig wahr und lebendig in ihr gewesen, und welches entsetzliche Opfer es nun gekostet hatte, wandte sie sich gegen die Mutter um. Sie erhob die Hand zu einem Schlag ins Gesicht, sie wollte drei-, viermal zuschlagen, so wie sie einst von der Mutter ins Gesicht geschlagen worden war.

Die alte Frau nahm den einen Schlag hin, er konnte sie nicht mehr treffen, nach jenem Schlag, den der Anblick des toten Enkels ihrem Herzen versetzt hatte. Doch mit überlegener Kraft und Ruhe, unbewegten Gesichts hielt sie den Arm der Tochter auf, als er sich zum zweitenmal gegen sie erhob, und sie riß ihr Kind an sich. In einer gewaltsamen Umarmung barg sie Lottes Gesicht an ihrer Brust, und während sie nach einer Weile durch ihr Kleid hindurch die Feuchtigkeit von Lottes Tränen spüren konnte, glaubte sie, sich selbst und ihrem Kinde verzeihend sagen zu dürfen, daß sie das Kreuz des Lebens liebend umschlungen hielt. In ihrem Schmerz um das tote Kind blieb sie stumm, es war ein Schmerz, der sich in sie einsenkte, ein still-zehrender Funke. Im Heimfahren, ihr laut jammerndes Kind im Arm, dachte sie in tiefer Bangnis an den Mann, und konnte sich seinen Schmerz nicht vorstellen, wenn er diese Kunde empfangen würde.

Der Mann, in seiner starken Lebenskraft, schrie auch auf wie ein Tier, das zu Tode getroffen war, und seine Klagelaute mischten sich mit dem tobenden Schluchzen Lottes. Die Mutter mußte alle die für einen solchen Fall nötigen Gänge erledigen und erschien beinahe unbewegt. Der Mann erlitt späterhin Anfälle von geistiger Trübung, in denen er wie ein Gefangener in der kleinen Wohnung umherirrte und nach seinem »lieben Hermann« rief. Er war zur Arbeit nicht mehr zu gebrauchen, und es besserte sich erst mit ihm, als im kommenden Sommer der blühende Grabhügel des Enkels seine Zufluchtsstätte wurde, an der er viele Stunden verbrachte, unermüdlich gärtnerte, kleine Spielsachen des Enkels – sein Holzpferdchen, auch seine ersten Schuhe – in die Hügelerde eingrub, ehe er die Pflanzen setzte, und zuletzt in fast schwachsinniger Weise an diesem Platz mit dem Verstorbenen redete und scherzte.

Die Mutter hielt das Heim als solches noch einigermaßen zusammen, und kurz vor Ausbruch des Krieges war es durch ihre Initiative gelungen, dem Mann seine Altersrente zu verschaffen, die sie sparsam und geschickt einteilte, so daß sie von der Tochter kein Geld mehr anzunehmen brauchte.

Der Krieg trennte auch Lotte von den Eltern.


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