George Sand
Die Grille oder die kleine Fadette
George Sand

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Aber da es kein Geheimnis giebt, das unentdeckt bleiben könnte, so geschah es, daß eines schönen Sonntags Sylvinet, als er an der Mauer des Kirchhofes entlang ging, die Stimme seines Zwillingsbruders erkannte, der zwei Schritte weit von ihm hinter dem inneren Winkel sprach, den die Mauer hier bildete. Landry sprach sehr leise, aber Sylvinet war so vertraut mit seiner Redeweise, daß er auf ihn geraten haben würde, wenn er auch seine Stimme nicht genau erkannt hätte.

»Warum willst du nicht zum Tanze gehen,« sagte er zu jemanden, den Sylvinet nicht sehen konnte. »Es ist schon so lange her, daß du nach der Messe nicht mehr geblieben bist; man könnte also nichts darüber sagen, wenn ich dich einmal wieder zum Tanze führte; man denkt wohl kaum mehr daran, daß ich dich überhaupt kenne. Man würde gewiß nicht sagen, es geschehe aus Liebe, sondern nur der Schicklichkeit wegen. Ich bin auch neugierig, ob du nach so langer Zeit wohl noch eben so gut tanzen wirst.«

»Nein, Landry, nein,« – erwiderte eine Stimme, die Sylvinet völlig unbekannt war, weil es schon sehr lange her war, daß er sie nicht gehört hatte, denn die kleine Fadette hatte sich von allen Leuten fern gehalten, und ganz besonders von ihm.

»Nein,« sagte sie, »man muß es vermeiden die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, das ist das Beste. Und, wenn du einmal mit mir getanzt hast, wirst du jeden Sonntag wieder davon anfangen, und das wäre schon mehr als genug, um die Leute reden zu machen. Glaube nur, Landry, was ich dir immer gesagt habe: Mit dem Tage, an dem es bekannt wird, daß du mich liebst, werden für uns die Widerwärtigkeiten und Prüfungen beginnen. Laß mich jetzt gehen, und wenn du einen Teil des Tages bei den Deinigen und mit deinem Bruder verbracht hast, dann kommst du wieder zu mir, wie wir es verabredet haben.«

»Aber es ist doch ein trauriges Ding, nie zu tanzen!« sagte Landry; »du hast doch sonst so gern getanzt, mein Fränzchen, und du konntest es so gut! Wieviel Vergnügen würde es mir machen, dich so an der Hand zu führen und dich dann in meinen Armen zu schwenken, und zu sehen, wie du dich so leicht und zierlich zu drehen verstehst, und immer nur mit mir allein!«

»Und gerade das dürfte nicht geschehen,« erwiderte sie. »Aber ich sehe wohl, mein lieber Landry, wie leid es dir thut nicht tanzen zu können, und ich sehe auch nicht ein, warum du darauf verzichten sollst. Geh doch hin und mache ein paar Tänze mit. Es wird mir eine Freude sein zu denken, daß du Vergnügen hast, und ich warte dann um so geduldiger auf dich, bis du wieder kommst.«

»O! du bist viel zu geduldig,« sagte Landry in einem Tone, der deutlich verriet, daß er nicht viel von Geduld wissen wollte; »ich aber, ich würde mir lieber meine beiden Füße abhauen lassen, als daß ich mit Mädchen tanzen sollte, die ich nicht liebe, und die ich nicht um hundert Frank küssen möchte.«

»Nun gut! Wenn ich zum Tanzen ginge,« fiel hier die kleine Fadette wieder ein, »müßte ich ja auch mit anderen tanzen, als nur mit dir, und müßte mich dann auch von ihnen küssen lassen.«

»O, geh' doch! Mach' nur, daß du fort kommst, so schnell wie möglich,« sagte Landry; »sie sollen dich nicht küssen, ich will es nicht dulden!«

Sylvinet hörte jetzt weiter nichts als Schritte, die sich entfernten, und um nicht von seinem Bruder als Horcher überrascht zu werden, trat er rasch auf den Kirchhof und ließ den Bruder ungesehen vorübergehen.

Die Entdeckung, die er da gemacht hatte, war für Sylvinets Herz wie ein Dolchstich gewesen. Er trachtete gar nicht darnach zu wissen, wer das Mädchen sein mochte, das von Landry so leidenschaftlich geliebt wurde. Er hatte genug damit, daß es überhaupt jemanden gab, dem zu liebe Landry von ihm abließ und der sein ganzes Sein bis zu dem Grade erfüllte, daß er sein Inneres vor seinem Bruder verschloß und diesem nichts von der Sache anvertraut hatte. – »Jedenfalls mißtraut er mir,« flüsterte ihm eine innere Stimme zu, »und das Mädchen, das von ihm so heiß geliebt wird, muß ihn dahin gebracht haben, daß er sein Inneres vor mir verbirgt und mich verabscheut. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß er sich bei uns zu Hause immer zu langweilen scheint, und daß er so ungeduldig wird, wenn ich mit ihm spazieren gehen möchte. Ich glaubte nur darin zu erkennen, daß er lieber allein sein wollte; jetzt aber werde ich mich wohl hüten, nur noch zu versuchen, ihn zu stören. Ich werde ihm nichts mehr sagen; er würde ja nur böse werden, daß der Zufall mir verraten hat, was er mir nicht anvertrauen wollte. Ich werde alles für mich allein tragen, während er sich freut, mich los zu werden.«

Sylvinet that, wie er es sich vorgenommen hatte, und er trieb es darin sogar noch weiter, als es sein Vorsatz gewesen war. Nicht allein, daß er nicht mehr dahin trachtete, seinen Bruder bei sich zurückzuhalten, sondern damit dieser sich auch nicht weiter durch ihn behindert fühlen sollte, sorgte er dafür, daß er das Haus zuerst verließ, und ging dann ganz allein hinaus, um sich auf der Wiese seinen Träumereien hinzugeben. Auf das Feld mochte er nicht mehr gehen, denn er dachte sich: »Wenn ich Landry dort begegnen würde, könnte er sich denken, ich wolle ihm nachspüren, und dann würde er es mich schon fühlen lassen, daß ich ihm nur störend bin.«

So stellte sich nach und nach der alte Kummer, von dem er so zu sagen schon geheilt war, wieder ein, und diesmal war er so tief und nachhaltig, daß es ihm bald auf seinem Gesichte anzusehen war. Seine Mutter machte ihm sanfte Vorstellungen; aber da er sich schämte, mit achtzehn Jahren noch dieselbe Gemütsschwäche zu haben, wie er sie im Alter von fünfzehn gehabt hatte, so war er nicht zu einem Geständnis zu bewegen, was eigentlich an ihm nage.

Dies bewahrte ihn aber auch davor, daß er nicht krank wurde; denn der liebe Gott verläßt nur solche, die sich selbst aufgeben; aber wer den Mut hat, seinen Schmerz in sich zu verschließen, der gewinnt mehr Kraft, ihn zu bewältigen, als wer sich in Klagen darüber ergeht.

Es wurde dem armen Zwilling gleichsam zur Gewohnheit, traurig und blaß zu werden. Von Zeit zu Zeit hatte er auch einen Fieberanfall zu bestehen, und da er immer noch ein wenig im Wachsen begriffen war, blieb er im ganzen schmächtig und zart. In der Arbeit war er nicht sehr ausdauernd, aber dies war wider seinen eignen Willen, denn er wußte ja auch, daß die Arbeit ihm zuträglich sei. Es war ja schon genug, den Vater durch sein betrübtes Gesicht zu verdrießen, er wollte ihn nicht auch noch durch Schlaffheit und Trägheit ärgern und schädigen. So machte er sich also an die Arbeit und schaffte gleichsam sich selbst zum Trotz. Dabei übernahm er sich oft, indem er mehr that, als seine Kräfte erlaubten, und am folgenden Tage war er dann so erschöpft, daß er nichts mehr thun konnte.

»Der wird in seinem Leben kein tüchtiger Arbeiter werden,« sagte der Vater Barbeau; »aber er thut, was er kann, und wenn er imstande ist, was zu thun, weiß er sich nicht zu schonen. Das ist es, warum ich ihn nicht zu anderen Leuten geben mag; denn aus Furcht vor dem Tadel und bei der geringen Kraft, die ihm von Gott verliehen ist, würde er sich schnell aufgerieben haben, und ich hätte mir mein Leben lang einen Vorwurf daraus zu machen.«

Die Mutter Barbeau fand diese Gründe und Ansichten ganz nach ihrem Sinn; zugleich that sie ihr Möglichstes, um Sylvinet aufzuheitern. Wegen seiner Gesundheit zog sie mehrere Ärzte zu Rate, und einige von diesen gaben den Rat, daß er sich sehr schonen und nichts als Milch trinken müsse, weil er sehr schwach sei. Andere waren der Meinung, daß man ihn tüchtig arbeiten lassen und dann guten Wein zu trinken geben solle, denn weil er sehr schwach sei, müsse er gekräftigt werden. Die Mutter wußte schließlich nicht, welchem der Ärzte sie folgen sollte, wie es immer geht, wenn man mehrere zu Rate zieht.

In diesen Zweifeln befangen, befolgte sie glücklicherweise keinen der erhaltenen Ratschläge, und Sylvinet zog seines Weges dahin, den der liebe Gott vor ihm eröffnet hatte, ohne auf etwas zu stoßen, das ihn zu sehr nach rechts oder nach links hin gedrängt hätte. Er trug sein Leid, ohne sich allzu sehr davon niederbeugen zu lassen, bis zu dem Augenblick, wo Landrys Liebesverhältnis offenkundig wurde und Sylvinet seinen eignen Kummer durch den, der seinem Bruder bereitet wurde, vermehrt sah.


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