Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XXIII.

Nach der erwähnten derben Ohrfeige befahl Herr Habichs dem Junius streng und kurz, sogleich das Bureau zu verlassen. Er gehorchte noch ganz verdutzt. Als sein Vater zur gewöhnlichen Zeit aus dem Turme kam, erwartete Junius ein neues Ungewitter und war darauf ganz gefaßt. Aber er irrte sich, und war darum um so weniger gefaßt auf das, was wirklich erfolgte. Herr Habichs nämlich nahm ihn ruhig beiseit und entwickelte ihm, in wohlgesetzter, von seinem Standpunkt aus höchst verständiger Rede, die Torheit seines Tuns, oder vielmehr seines Nichtstuns. Wo das mit ihm hinaussolle? Was er im Leben zu leisten gedenke, wenn er nicht endlich anfange? Er könne sich bei solchem Treiben unmöglich selbst achten und noch weniger auf die Achtung anderer Anspruch machen. Arbeit sei der Kern des Lebens, und die freiwillig sich selbst auferlegte, mit Beharrlichkeit und Verstand durchgesetzte Arbeit unterscheide den Menschen vom Vieh. Ohne Mühe und Entsagung komme kein Mensch durch und müßige Liebhabereien müsse jeder in seiner Jugend aufopfern. So habe er (Habichs) selbst in der Jugend die Leidenschaft gehabt, allerlei zierliche Papparbeit zu verfertigen, und nur mit äußerster Aufopferung und Anstrengung sie niedergekämpft, einsehend, daß nichts daraus erwüchse, als Vertändelung der besser anzuwendenden Zeit. So gut, wie er das Pappen gelassen hätte, könne Junius auch die Poesie lassen. Ein sogenannter großer Dichter würde er doch nicht, denn dazu müsse man Lateinisch und Griechisch können; und damit noch anzufangen, sei für ihn schon zu spät. Ob er nun ewig ohne Schwerpunkt zwischen zwei Gegensätzen schwanken wolle, zu keinem von beiden recht kommend? Denn als Steckenpferd auch könne er die Poesie nicht forttreiben, er müsse ja selbst aus dem heutigen Vorfall einsehen, daß sie ihn befinge und zu ernstem Tun untauglich mache. Es gelte endlich einmal, sich als werdenden Mann zu fühlen und einen Entschluß zu fassen. Er müsse, koste es ihm, was es wolle, die Poesie ein für allemal von sich werfen, um das ganz zu sein, wozu ihn das Geschick nun einmal bestimmt habe, nämlich ein Geschäftsmann.–

Und in Junius wallten bei diesen trivalen Sätzen Trotz, Spott, edler Unwille und das Gefühl geistiger und sittlicher Überlegenheit siedend auf? – Nein, lieber psychologischer Leser! Junius ließ sich verblüffen und übertölpeln. Daß sein Vater sich selbst in der Rede die Rolle des Geschicks anmaßte, indem es ja nur von ihm abhing, ihn studieren zu lassen, wenn seine eigensinnige Beschränktheit es geduldet hätte, daß es plump lächerlich sei, die Poesie mit Papparbeit mit feierlichstem Ernste zu vergleichen – das und noch viel mehr fiel dem Junius durchaus nicht ein. Er räumte erst ein: der Vater habe, in seiner Art, so ganz uhrecht nicht; zuletzt: er habe ganz und gar recht. Demut, Scham, fast Selbstverachtung kam über ihn. Er versprach und beschloß ehrlich, sich zu bessern.

So geht es jedem, der, auch aufs höchste Streben sinnend, nicht sattelfest ist. Stellt ihm einen beschränkten Mann gegenüber, den er in jeder Hinsicht sonst übersieht und unter sich sieht, aber einen Mann, das heißt: einen, der da weiß, was er will, und es borniert, aber fest und sicher, ihm vor- und einzureden weiß – und vor den flachsten Alltagsgründen wird sich der herabgezupfte Halbgott beugen, sich schwach und im Unrecht fühlen; und dies um so mehr, wenn der andre (wie hier von Habichs geschah) mit der Schlauheit, die der Dummheit so sehr zu Gebote steht, auf den Standpunkt des Genialen (den er nie begriffen hat) verstehend einzugehn sich anstellt, doch so, als sei er längst darüber hinaus und stehe nun durch Lebenserfahrung über demselben. Natürlich dauert die Täuschung und das sich stumme Unterwerfen nur so lange, bis der schaffende Geist aus den engherzigen Schranken wieder hervorbricht und in kühnem Fluge eine Gegenrede ersinnt, von der jede einzelne Silbe das ganze Gebäude der philisterhaften Anrede zu zerschmettern vermöchte. Aber dann ist der Moment in der Regel verpaßt und das Genie schämt und ärgert sich, wie es so klein vor dem Krämer dagestanden hat. – Bei Junius kam die Jugend und das väterliche Übergewicht noch dazu, so daß seine Selbsttäuschung länger dauerte. Die reiche schwellende Welt seiner tiefsten Anschauungen war aus ihm herausgepredigt und die Erinnerung daran widerte ihn an. Es war eine unaussprechliche Leere in ihm, wie nach einem wüsten Rausch – kurz (um mich einmal burschikos auszudrücken) er hatte den moralischen Katzenjammer. Daß sein Streben, obwohl er bisher nicht vermocht hatte, sich aus wollüstigen Träumen zu gediegener Tatkraft emporzuraffen, dennoch, auch im Zustande des müßigen Schlummers, immer noch unendlich reiner und edler sei, als das kahle, selbstsüchtige Rechnungstreiben seines Vaters, daß er den Zumutungen desselben mit höherer Berechtigung dreist entgegentreten durfte – das hatte er rein vergessen.

Junius ging also in sich und beschloß, sich im Traum mit seiner Geliebten Tausendblüt nicht mehr einzulassen; denn von ihr, das wußte er, stammte seine ganze Verirrung. Aber der Traum nahte ihm doch in der Nacht. Er wandelte in den bekannten Blütenhainen, nur der rosige Schimmer des schönen ewigen Morgens war gedämpft zu einem bleigrauen Zwielicht, das, wie mit fühlbarem Gewicht, auf allen, sonst so freien Wipfeln ruhte. Von den Blättern tropften kalte Tautränen, die dem unten Wandelnden das Mark durchschauerten. Hier und da schlüpfte ein klagender Ton hervor und konnte nicht zur Melodie werden. Und fern am traurig murmelnden Springquell lag Tausendblüt, die Gestalt halb unkenntlich in grauender Dämmerung, und weinte. Einen Blick warf sie nach ihm – da schien hie und da ein goldner Strahl sich durchs Laub zu stehlen und das klagende Rauschen der Wipfel wollte zu Musik werden. Junius aber wandte sich, stark, wie er wähnte, rasch ab und floh vor der Verlockung. Da zerflossen rings die Bäume und Stauden, kräuselten sich dampfähnlich empor, und jagten oben als schwarze Nachtwolken über den Himmel. Hervor brach ein grelles, glutrotes Licht und trieb fegend die Wolken hinweg; ein reiner, starrer, heißer Himmel, wie aus dunkelblau schimmerndem Stahl gegossen, baute sich wolkenlos auf, und ringsum, das ängstlich suchende Auge bis ins Unendliche hinfolternd, dehnte sich dunkelgelbe Sandwüste, ohne Baum, ohne Strauch, ohne Hälmchen, in furchtbarer Einförmigkeit. Und Junius war von unsichtbarer Gewalt getrieben, im sengenden Sande fortzuwaten, gewaltig arbeitend, heiß atmend, ohne Ziel und Zweck und ohne Labung. So ging er hin, von bleierner Mattigkeit wie zerquetscht, und doch vorwärts gepeitscht; so ging er Stunden, tagelang, und ringsum blieb es, wie's war. Kein Hügelchen, kein abgemorschter Stamm war da, zum Merkzeichen, daß er den Ort verändre; so daß er zuletzt in den Wahn verfiel, immerfort, obgleich gewaltig schreitend, auf ein und demselben Punkte zu bleiben. Da kam ihm entgegen, mit unheimlich langen Schritten, eine verschrumpfte, kümmerliche, grinsende Judengestalt, ein schwerkeuchendes, hochbeladnes Kamel vor sich hintreibend. Der rief ihm, krächzend wie in Schadenfreude, im fliegenden Vorbeischreiten zu: »Gelt? Ist ein angenehmer Spaziergang, das! So geh' ich schon seit achtzehnhundert Jahren. Hab' auch das Göttliche von mir gestoßen, wie du; nun soll ich mich dafür ennuyieren.« Damit war der Jude schon vorbei; aber von fern wandte er sich um, deutete mit der Peitsche aufs Kamel und schrie: »Das ist dein Vater; dem wird's auch sauer! Aber er kriegt das Gold, das er schleppt, doch nicht zu fressen. – Vielleicht treffen wir uns wieder; dann wird das Vieh hier wohl zu Tode gehetzt sein und ich lege dir den Zaum an.« – Dabei lachte er gellend auf, gab dem Kamel einen wütenden Peitschenhieb und war in gespenstigen Riesenschritten verschwunden. Und der Peitschenhieb durchzuckte Junius, daß er wild zusammenfuhr. Er erwachte in seinem Bett und sprang auf. Eine Stunde hernach saß er im zwölfeckigen Turm und arbeitete mit Eifer.

So ging es jetzt Tag für Tag und Nacht für Nacht in einförmiger Qual fort. Der Blütenhain und Tausendblüts Bild wurden im Traum ferner und dunkler; endlich verschwanden sie ganz; nur die Wüstenwanderung blieb ewig dieselbe, immer kam der Jude mit dem Kamel wieder vorbei und schrie dieselben Worte, immer fuhr Junius auf, vom gellenden Peitschenhiebe geweckt. Eine Zeitlang setzte er dem Gewicht seines Elends sträubenden Eigensinn entgegen, den er für Charakterstärke hielt. Aber es glückte ihm nicht lange, sich selbst zu betrügen, und eines Abends, da das Gefühl seiner Verlassenheit, des Verscherzens alles Echten und Schönen überwältigend über ihn kam, schrieb er unter Tränen folgende Verse:

Aus eines hohen Königs Krön'
Fiel in den Kot ein Edelstein;
Er hat es längst vergessen schon,
Daß er einst gab so lichten Schein. –
Ich weiß: ich hört' einst einen Sang,
Und nach dem tanzte Welt und Herz;
Jetzt sinn' ich lang' und dumpf und bang,
Und find' es nicht. Das ist mein Schmerz.
Ich wüßt' einmal ein hohes Wort,
Das Gott beim Welterschaffen sprach;
Jetzt forsch' ich in der Sprache Hort
Und such' umsonst dem Worte nach.
Ich war einmal ein heller Stern.
Durch Sonnen schlang sich meine Bahn;
Das war ein Traum; doch träumt' ich gern.
Nun will er nimmer mich umfahn.
Jetzt geh' ich auf zwei Beinen hin,
Könnt' eben auch auf vieren gehn;
Auf Futter richt' ich meinen Sinn
Und bin wie andre anzusehn.
Ich wollt' ich wär' ein weißer Schwan
Und schwämm hinein ins Abendrot,
Und sänge leis' auf meiner Bahn,
Und sänge laut und säng' mich tot.
Vielleicht, wenn ich mich selbst verlor,
Dann fänd' ich wieder, was mir fehlt;
Vielleicht taucht dort ein Stern empor,
Wenn hier ein Herz sich totgequält.

Malwina überraschte ihn dabei. Sie hatte längst gesehen, wie sich Junius vor ihr in eigensinnigem, unzugänglichen Schmerz verschloß. Jetzt drang sie mit rührenden Bitten in ihn, ihr alles zu sagen, und er tat es. Da bat sie ihn innigst, von seinem unfruchtbaren Treiben abzulassen und sich ganz der beseligenden Fülle seiner Träume wieder hinzugeben. »Was können sie dir anhaben? (sprach sie) du bist einmal so und hast recht. – Und bitte noch morgen früh den Vater, daß er dich gehn lasse, den Onkel Holofernes aufzusuchen und bei ihm zu bleiben. Sag' dem Vater nur klar und eindringlich, wie es dir ganz unmöglich ist, nach seinem Sinne zu leben und zu wirken und wie du dabei zugrunde gehen mußt. Ich werde mit für dich bitten und der Vater wird sich erweichen lassen.« –

(Es war sonderbar, daß das Bild des Onkels Holofernes, obgleich er in Malwinas Gegenwart fast nichts getan hatte, als den Narren spielen, in ihrer Erinnerung dennoch immer in ernster Ehrfurcht und Vertrauen erzwingender Gestalt dastand. Daher hoffte sie alles von ihm, wenn Junius bei ihm leben dürfe.) Junius schüttelte stumm verneinend das Haupt, denn er hoffte nicht, seinen Vater bewegen zu können. »Doch will ich es versuchen (sagte er mutlos). Aber du, Malwina, – was wirst du hier tun ohne mich?« – Junius fühlte das Zentnergewicht dieser Frage nicht, denn er wußte nicht, wie unendlich ihn seine Schwester liebte, wie all ihr bestes Sinnen und Denken nur eine stille Blume war, die im Sonnenlicht seines Geistes wuchs, erblühte und sich entfaltete, die ohne ihn verkommen müsse. Alles das fühlte Malwina tief und schmerzlich; sie hatte es vorher schon gefühlt, und doch, ihm zu Lieb', den Vorschlag seiner Entfernung gemacht. Jetzt nahm sie sich zusammen und sagte mit hastiger Heiterkeit: »Was denkst du an mich? Hier gilt es, daß du dich selbst wiederfindest. Und ich kann ja hier an dich denken den ganzen Tag, und wenn ich nur weiß, daß dir es gut geht, dann ist ja alles gut!« – »Ich will's versuchen (sagte Junius wieder), vielleicht läßt sich der Vater bewegen. (Denn er begann lebhafter und lebhafter zu wünschen, mithin die Sache immer möglicher zu finden.) Aber Tausendblüt finde ich doch niemals wieder (fuhr er trübe fort). Ich habe ihr den Rücken gewandt und sie für immer verloren.« – Da lächelte Malwina und sprach: »Wie? Sie hat dich lieb, und du meinst sie verloren zu haben? Weißt du denn gar nichts, Junius? Willst du denn gar nichts verstehn? Meinst du: Liebe ließe sich abweisen? O du Tor! Tausendblüt wird sich wieder finden lassen, oder ich kenne mich selbst nicht.« – »Ob sie auch wirklich ist? (fuhr Junius sinnend fort). Ob sie mit ihrem Zauberhaine wirklich mehr ist, als ein ganz gewöhnlicher Traum, den jeder andre auch träumen könnte?« – »Und ist das bloßer Traum, das ein neues frisches Leben zu schenken weiß? (sprach Malwina) Ihr Kleingläubigen! müßt ihr immer Wunder und Zeichen sehn? Wohlan! weil du doch schwach genug bist, es zu bedürfen, so bitte deine holde Fee, wenn du sie wiedersiehst, sie möge dir irgend ein geringes, süßes Angedenken mitgeben aus ihrem Zauberreiche, auf daß es dich in diesem armen Tagesleben tröste und – überzeuge.« – »O! warum dachte ich daran nicht früher? (rief Junius überrascht) Ja gewiß, das will ich, und dir bring' ich auch ein Zeichen mit. Sei's nur ein einzig Blütenblatt von dort – und Friede wird in deine Seele kommen, wenn du es anschaust.« –

Junius entschlief am Abend in schönen Empfindungen. Aber der Wüstentraum kam hartnäckig wieder. Junius aber wanderte nicht weit, da übermannte ihn Mattigkeit und Sehnsucht; er warf sich nieder, drückte das Antlitz in den heißen Sand und weinte. Plötzlich fühlte er ein kühleres Wehen ums Haupt, und eine bekannte Stimme flüsterte: »Weine doch nicht! es ist ja alles wieder gut!« Rasch blickte er auf und lag in Tausendblüts Armen am hellen Springquell. Heute hatte für ihn alles, nach so langer Entbehrung, noch eine mildere, unaussprechlichere Herrlichkeit. Und er wandelte wieder mit Tausendblüt im Zauberlabyrinth der Sage. Ehe er von ihr schied, bat er sie um ein Zeichen, es mitzunehmen hinab in das Leben. »Das hättest du früher bitten sollen (sprach sie); jetzt wird's vielleicht nur Unheil bringen, denn es ist zu spät. Doch nimm hin!« – Si« brach einen Rosenzweig mit zwei halbaufgeblühten Knospen ab und reichte ihn dem Junius. Als er erwachte, wie süß war sein Staunen! Er hielt den Rosenzweig wirklich in der Hand. Bald suchte er seine Schwester auf, zeigte ihr das Zeichen in freudigem Triumphe, brach sogleich schweigend den einen Stengel mit der Knospe ab und steckte ihn ihr an die Brust. Aber noch vor Anfang der Bureauzeit mußte heut der Versuch gemacht werden, Herrn Habichs zu bewegen, daß er Junius gehn lasse. Junius, in seinem wiedergefundenen Glücke froh, hatte schon große Lust, die Sache noch länger aufzuschieben, weil er, gerade heut, sich vor einer unangenehmen endlichen Entscheidung fürchtete. Die festere Malwina aber bestand darauf. Den Erfolg weiß der Leser voraus, nämlich: daß Habichs, trotz aller Bitten, Vorstellungen, Bestürmungen und Tränen des Bruders und der Schwester durchaus nichts davon wissen wollte. Die letztere namentlich nannte er, mit ungemeiner Verachtung, ein dummes Ding, das von dergleichen gar nichts verstehe, und sich um ihren Stickrahmen kümmern solle. Zu Junius aber sagte er: er habe gemeint, er sei auf der Besserung begriffen und habe Vernunft angenommen, und es werde nun alles gut gehn; er sehe aber jetzt, daß er sich geirrt habe und müsse nun zu ernsteren Maßregeln schreiten. Es gebe schon noch Mittel, den Trotz eines solchen Herrchens zu brechen, und sei es, wenn nichts andres mehr fruchte, durch Hunger und einsamen Arrest. Dabei packte er ihn heftig und klemmend beim Arme und zerrte ihn mit sich in den zwölfeckigen Turm, und Junius saß wieder auf seinem ledernen Esel, die Feder in der Hand. Er hatte den einen Rosenstengel mitgenommen, und steckte ihn, um die Hand frei zu haben, in die Drahtgitterwand ihm zur Seite. Dann richtete er den Blick ins Buch und suchte durch eifriges Arbeiten seinen Schmerz zu betäuben. Durch einen krähenden Ruf seines Vaters: »Was zum Henker ist das?!« wurde er aus der Betäubung geweckt, sah auf, und siehe da! – die zwölf Schreiber, ganz aus ihrer regulären Schlachtordnung gerissen, saßen da in den verschiedensten Stellungen des Erschreckens und stierten, mit wildem und wirrem Entsetzen, an den Drahtgitterwänden umher, bald hierhin, bald dorthin. Der Grund aber war folgender.

Kaum hatte Junius den Rosenstengel in die Drahtgitterwand gesteckt, als er langsam begann, frische Sprossen zu treiben nach allen Seiten. Die wuchsen und verzweigten sich hierhin und dorthin, und leise sich verbreitend, umrankten und durchwebten Sie, in sichtlichem Wachsen, nach und nach alle Gitterwände des Turms, bis alle von frischem, üppigen Grün, süßduftenden, glühend aufgequollnen Rosen und lauschenden Knospen ganz überdeckt waren. Man denke sich die zwölf nüchternen Schreiberpergamentgesichter, jedes von einer Rosenzelle überwölbt, von der aus ein leiser Rosenschimmer über die blassen und aschgrauen Wangen floß. Welch ein frisches, schwellendes Leben, welch lebendige Frühlingspracht plötzlich statt der ungeheuren öden Leere des Turms! Endlich machte bei Herrn Habichs der Schreck dem Zorne Raum. »Was ist das? Was sind das für Narrheiten?« rief er. Er erinnerte sich jetzt an den, am Morgen zufällig von ihm bemerkten, Rosenzweig in der Hand des Junius. »Treibt Er auch schon Taschenspielerstreiche? (schnauzte er Junius an) Der treffliche Herr Onkel Holofernes hat Ihm wohl dergleichen Narrheiten beigebracht? Gleich mein Bureau wieder gesäubert von dem Unrat! Auf der Stelle! Dumme Störung, das!« – Aber Junius begann jetzt, von Begeisterung hingerissen: »Es möchte wohl weder in meiner, noch in Ihrer Macht stehen, diesen Unrat, wie Sie es zu nennen belieben, wegzuschaffen, denn....« Und hier erzählte er ihm die ganze Geschichte von der Fee Tausendblüt, und daß der Sproß aus ihrem Zauberhaine mitgebracht sei. Habichs hörte, mit weit offnem Munde, zu; ebenso die Schreiber. Als Junius aber geendet hatte und nun meinte, alle Heiden bekehrt zu haben – hatte er plötzlich wieder eine tüchtige, im Ohr lang nachklingende Maulschelle weg. »Unsinn und kein Ende! Wenn Er selbst verrückt ist, braucht Er wenigstens nicht noch andre verrückt machen zu wollen. – Angepackt, meine Herren! (krähte er dann den Schreibern zu) Reißen Sie das Unkraut ab, daß wir's hinauswerfen und wieder Ordnung ins Bureau bringen!« –

Da fuhren alle zwölf, und Herr Habichs selbst an der Spitze, auf, wie von einem Dämon gepeitscht, und rannten mit Wut an die Drahtwände, und sprangen daran herum und daran hinauf, wie tückische Affen, und zerrten und rissen und rauften. Aber es half nichts, kein Blättchen fiel zur Erde; und, wo sie wild hineingepackt hatten, da sproßte, keimte, blühte und glühte es in neuer doppelter Fülle. Die Dornen aber taten ihre Pflicht. Alle ihre Hände waren wild zerrissen und zerfetzt; aber der grimme Schmerz machte sie toller und toller. Aus ihren Augen zuckte, unheimlich, dunkel glühend, die Begeisterung des Wahnsinns, und drauf und dran ging's, in verstärkter nutzloser Wut. So rasten und rauften sie fort, daß es Junius angst und bange ward, bis die Raserei der kraftlosesten Erschöpfung wich, und alle, tiefatmend und zusammengeknickt, mit blutrünstigen Händen und Gesichtern, auf ihren Ledereseln mehr hingen als saßen. Aber die Rosenpracht war schwellend gewachsen und hatte den alten Turm zu einem kleinen Paradiese umgeschmückt. »Mein Gott! (sprach jetzt Junius lächelnd) Was tun Euch denn die stillen sanften Rosen? Läßt sich's zwischen ihnen nicht ebensogut arbeiten, wie zwischen kahlen, schwarzen Drahtgittern?« – Herr Habichs hätte dem Junius für diese Worte gern wieder eine plötzliche Ohrfeige verabreicht; aber er war zu matt und die Hand schmerzte ihn selbst zu sehr. Er lachte bloß, in heisrer Krähe, boshaft und bitter vor sich hin.

Am Nachmittage ließ Habichs seine Schreiber ruhen, damit sie ihre Hände bis zu morgen ausheilten, und bestellte dafür Arbeiter mit Sägen, Beilen und Gartenscheren, um den Turm zu reinigen, damit es wieder »ordentlich und vernünftig« darin aussehe. Aber wo sie sägten, hieben und schnitten – da fiel nichts herab, sondern neue Sprossen schössen hervor, rankten sich hinüber und herüber, und neue Rosenpracht quoll auf. Nachdem sie sich so einige Stunden abgearbeitet und geäschert hatten und das Rosenlabyrinth nur immer dichter, voller und wirrer wurde, gebot ihnen Habichs, der scheltend und aufmunternd, knirschend und schäumend die Arbeit leitete, endlich Halt, zahlte ihnen, mit zitternder Hand, ihren Arbeitslohn, und ließ sie nach Hause gehn, wo ihnen ihr Schoppen Wein, bei dem sie über des Alten Narrheit lachten, ebensogut mundete, als wenn das Abhauen und Wegräumen wirklich gelungen wäre.

Herr Habichs war nun ernst, bleich und stumm. Ein ungeheurer Kummer lag, wie ein Alp, pressend auf seiner Brust. Seinen Sohn mied er mit furchtsamer Scheu.

Malwina aber nahm ihr Rosenzweiglein mit in ihr Schlafgemach und steckte es, zu ihren Häupten, ans Bett. Und es wuchs, sproßte und verschlang sich, und tausend Rosen blühten daran auf. Träumerisch schaute sie Blüt' und Blatt über ihrem Haupte nicken und entschlief. Und alle Rosen wurden im Traum zu süßen Engelsgesichtem, die sangen ihr selige Lieder ins Ohr und ins Herz. Aber wenn sie tiefer horchte, waren es alles Lieder ihres Bruders Junius. Sie schwebte leicht und frei über wonnige Zaubergefilde hin, vom singenden Engelchor begleitet, bis sie am Morgen unter der schimmernden Dämmerung der Rosenlaube lächelnd erwachte. – Junius aber lag in der Nacht am Springquell, ihm zur Seite Tausendblüt. Und er erzählte ihr alles, wie es geschehen war. Als er den Namen seines Onkels Holofernes nannte, lächelte Tausendblüt und sprach: »O ich kenne ihn! ich hatte ihn einst lieb und wollte ihn in meinen Zauberhain führen. Aber der Bücherstaub und der Puder in seinem Haar belasteten ihn, er konnte dem schwebenden Fluge nicht folgen. Und durch das kalte Lächeln seines Spottes wären alle Blüten von meinen Bäumen gefallen. Darum ließ ich ihn unten.« – »Wie? (fragte Junius erstaunt) Mein Onkel ist ja alt, wie würde er sich zu dir passen?« – »Damals war er jung,« sagte Tausendblüt lächelnd. – »Wie er jung war, warst du ja noch nicht geboren.« – O du Tor! (erwiderte Tausendblüt) Meinst du, ich sei ein Weib von dort unten? Wie ich jetzt bin, so war und bleibe ich.« Als Junius auserzählt hatte, bat er: »O gib mir nur für einen Tag deinen goldnen Vogel mit! Mein Vater ist schon erschüttert durch das Wunder des Rosenzweiges. Hört er den Vogel nur einmal singen, so wird er bezwungen und läßt mich ziehn in Frieden.« – »Nimm ihn!« sprach Tausendblüt, und der Vogel hüpfte auf Junius Schulter. »Aber du ahnst nicht, wie das enden wird.«

Als Junius erwachte, sah der Vogel ihn von seiner Schulter mit hellen Augen an.

Herr Habichs mußte sich fürs Erste ins Unerträgliche finden. Er ließ ein großes Zimmer seines Hauses zum Bureau einrichten; dann wollte er versuchen, ob das Rosenunkraut im Turm nicht durch Feuer auszurotten sei. Den ersten Vormittag aber mußte er sich schon entschließen, mit seinen zwölf Schreibern unter nickenden Rosen zu arbeiten, denn das Geschäft durfte ja nicht stocken. Mit äußerstem Widerwillen ging er daher in den Turm und nahm seinen alten Platz ein. Junius folgte ihm mit Absicht, obgleich er heut recht gut hätte wegbleiben können, ohne daß Habichs seiner mit einer Silbe erwähnt haben würde. Der goldne Vogel hatte sich still an seine Brust geduckt.

Als sie nun verdrießlich und gestört durch die ungewohnte Rosenpracht, alle dasaßen, da ließ Junius den Vogel hervorschlüpfen. Der flog in die Rosenhecke, wiegte sich, neugierig um sich schauend, auf einem schwanken Reise und begann mit eins sein schmetterndes Lied. Und er sang wundersame Worte von Lust und Leben und vom Vergessen irdischer Qual. Herr Habichs und die Schreiber fuhren zusammen, blickten und horchten, dumm und betäubt.

Und siehe! welch verwirrender Spuk! – Die Ziffern und Buchstaben in ihren Büchern wurden bunt und lebendig; die gekräuselten Schriftzüge schwangen und schlangen sich vom Blatt auf, verlängerten sich in üppigem Gaukeln und wurden zu lachenden Blumengewinden, die von den Rosenwänden hinüber und herüberhängend sich wiegten. Und die Ziffern flatterten fort als heitre, seltsam gezeichnete, wunderlich gestaltete Schmetterlinge und suchten Blüten, sich darauf zu wiegen. Das schmetternde Lied des goldnen Vogels aber ward lauter und jauchzender.

Und Habichs und seine zwölf Schreiber standen auf, packten ihre großen, nun buchstaben- und ziffernleeren Bücher mit beiden Händen und warfen sie im Grimm der Verzweiflung auf den Vogel, um ihn zu zerquetschen. Aber die Bücher wurden zurückgeschleudert, wie abprallend von diamantner Wand, flogen mit Macht auf die Werfenden los und schlugen ihnen, rechts und links hart aufklopfend, mit gespenstig tückischer Beharrlichkeit polternd um die Ohren. Da sprang Habichs und die Schreiber in wildem, sich überstürzenden Gedräng, die Haare gesträubt, in atemloser Flucht aus dem Turm, polternd die Treppe hinab, aus dem Hause durch den Garten. Junius, den singenden Goldvogel auf der Hand, folgte ihnen und rief: »So bleibt dochl So kommt doch zurück! Was ist denn hier so Entsetzliches?« Aber sie rannten, in wilden Sätzen, fort in die Wildnis und schwanden, weit ab, hierhin und dorthin versprengt, hinter Felsklippen. – Hinten aber krachte der zwölfeckige Turm in einen Trümmerhaufen donnernd zusammen.

Und der Goldvogel sang schmetternder und schmetternder und strebte auf nach oben, daß ihn Junius kaum mehr halten und bändigen konnte. Denn im Singen wuchsen ihm mächtig Leib und Schwingen bis zur Größe des riesigsten Königsadlers. Mit Gewalt sich sträubend wollte er der Faust des Jünglings entstürmen, – da packte der ihn herzhaft und schwang sich auf ihn, ein kecker Luftreiter, und der Vogel flog in jauchzendem Hymnus sausend mit Junius empor in die reineren Lüfte, und weit, weit hin, über die Reiche der Welt weg, bis zu dem Zaubergarten. Da schaute von unten Tausendblüt lächelnd und winkend empor, und der Vogel senkte sich mit Junius nieder zu ihr, und Junius lag in ihrer Umarmung.


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