Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XVII

»Guten Morgen, liebe Schwester! ich wünsche dir gute Besserung!« sprach Holofernes. Junius hatte seiner Mutter schon gesagt, daß der Onkel da sei. »Nein, ist's möglich? bist du endlich wieder einmal da, Bruder?« rief sie ganz außer sich. »Nein, ist's möglich?« wiederholte sie wohl noch zwanzigmal, als ob's etwas so Unmögliches wäre, daß ein Mensch den andern besucht. »Jetzt mußt du aber einmal länger dableiben, nicht wahr? das wirst du. Nein! ist's möglich? Ich habe mich schon so lange darauf gefreut. Nein! ist's möglich? du hast dich aber fast gar nicht verändert seit dem letztenmal, du siehst sehr gut aus. Nun setz' dich, Bruder! Nein! ist's möglich?« –

»Ob's möglich ist, oder nicht? darüber wollen wir jetzt nicht mehr streiten, liebe Schwester; denn da es doch einmal wirklich geschehn ist, so bliebe das Faktum immer dasselbe. Länger hierbleiben kann und werde ich aber nicht, sondern heut' Abend wieder abmarschieren.«

»Nein, das darfst du nicht, lieber Bruder! Da sind so viele von meinen Freundinnen, denen ich von dir und deinem tieferen Gedankenschwunge erzählt habe und die so unsäglich deine persönliche Bekanntschaft wünschen. Da ist das Fräulein von X., die englisch spricht und sehr gefühlvolle Gedichte macht, die hat dein ABC-Buch unglaublich interessant gefunden und sich die romantischen Stellen daraus in ihr Album geschrieben; und da ist die Baronesse von Y., eine äußerst gebildete Dame, die außerordentlich expressiv und intensiv singt und Fortepiano spielt und den ganzen Jean Paul gelesen und verstanden hat, wie sie sagt; die sehnt sich unendlich nach einem gebildeten Ideentauschhandel höherer Natur zur Veredlung der gegenseitigen Gemüter, denn ihr Mann ist ein roher, niederer Mensch von anomalischer Natur, der sie nie begriff und nie begreifen wird und kann, wie sie sagt, denn er hat keinen Aufschwung nach oben. Und da ist Miß Hoppelton aus Nordamerika, eine schöne Seele, die wunderhübsches, gebrochenes Deutsch spricht und sich sehr interessant mit den Studien der deutschen Literatur befaßt hat, die fragte mich erst gestern, ob mein genialer Bruder nicht einmal kommen würde, und noch viele sehr gebildete und veredelte Damen. Nein, du mußt bleiben!«

Holofernes sah wohl, daß seine Schwester ihn selbst während seiner Abwesenheit als Paradepferd benutzt und allen ihren Klatschschwestern vorgeritten hatte: der Kobold des Spottes regte sich in ihm kichernd und hüpfend.

»Es tut mir unendlich leid (sprach er mit der Miene ernsthafter Besorgnis), so viele schöne und veredelte Damen, die mir das Glück antun, sich um meine Wenigkeit zu bekümmern, ohne daß ich ein Wort davon wußte, in ihrer Hoffnung täuschen zu müssen, denn ich kann durchaus nicht länger bleiben. Aber weißt du was? Heut Nachmittag bin ich noch hier; da kannst du schnell einen Tee arrangieren und diese Damen einladen. Wenn du es dann mit guter Manier einzuleiten weißt, du verstehst mich: recht fein, da kann ich vielleicht die Ehre haben, ihnen etwas von meinen neuesten Geistesprodukten vorzutragen.«

»Ach! das ist eine göttliche Idee! (rief Frau Habichs). Sie werden sich alle unendlich freuen, denn die prosaische Gewöhnlichkeit des gemeinen Alltaglebens wird edleren Seelen so selten mit den rührenden Blumen erhabener Dichtung durchflochten. Junius setz' dich gleich an den Sekretär und schreibe mir die Einladungskarten, wie ich sie diktiere!«

(Junius oder Nicodemus nämlich dienten in solchen Fällen stets zur Verhüllung der äußerst mangelhaften Frau Habichsschen Orthographie.)

Frau Habichs diktierte nun einen konfusen Brei, dessen Quintessenz war: Auf eine Tasse Tee und auf meinen heut angekommenen Bruder Holofernes lade ich ergebenst ein etc. Während der Abfassung der Billete war Holofernes in ein kurzes Nachsinnen versunken. Er nannte dies sein Reflektionsfieber, das ihn überall verfolgte. Bei jedem Vorfall des Lebens, auch dem kleinsten, drängten sich ihm Beobachtungen und Einfälle auf, die sich aus dem hundertsten ins tausendste unauflöslich verwickelten und verzweigten, bis er zuletzt in seinem eigenen Ideenlabyrint, ohne Hoffnung eines Auswegs, sich verfing, gleich einem Wandrer, der sich in einem tiefen, ungangbaren Walde verirrt hat. Daraus wurde dann entweder eine jener langen, buntverwirrten Reden, wie wir ihn einige haben halten hören, oder eine Tagebuchsstelle oder ein langes Schweigen und Versenktsein, während die Gedankenmühle im Innern ihre wilden Takte fortklapperte. »So kommt man (seufzte Holofemes für sich) vor lauter Gedanken gar nicht zum eigentlichen Denken.« – Diesmal aber dachte er folgendes:

Es ist doch sonderbar und man sollte einmal ein Buch darüber schreiben, woher es kommt, daß ein einzelnes Weib (womit ich übrigens durchaus nicht auf meine verdrehte Frau Schwester gestichelt haben will) Männern gegenüber edel, liebreich, ungeschwätzig und doch vielsagend, ja geistreich, selbst genial sein kann; so wie aber mehrere Weiber zusammen sind, sei jede einzeln genommen sonst auch trefflich und im echten Sinne liebenswürdig – da hat alles Gute an ihnen ein Ende und geht plötzlich unter in einem allgemeinen, verschlingenden See von nichtswürdiger Sehwatzhaftigkeit, Geziertheit, Bösartigkeit, Unaufrichtigkeit; oder wenn auch das nicht, wenigstens in jenem krankhaften, ungeheuer ernst und wichtig tuenden Interesse an dem läppischsten und allergleichgültigsten Kleinigkeitskram, als da sind: Bänder, Hüte, Kindtaufen und Verlobungen, Bereitung von Kompots und dergleichen Lapalien. Des eigentlich Echten und Hohen im Leben und im Menschen, wird dabei nie mit einer Silbe gedacht und die Gescheitesten sind dann ganz ebenso einfältig und äußerlich wie alle andern, als ob sie verpflichtet wären, sieh gegenseitig ihre einzelnen Trefflichkeiten unter einer allgemein gang und gäben Maske von unendlicher Albernheit zu verbergen. Ein Weib kann verehrungswert sein, eine Versammlung von Weibern ist immer verächtlich und lächerlich und für einen, der nur im mindesten das Bedürfnis des Denkens hat, ungenießbar. – Schon dies allein würde für die Monogamie sprechen, wenn nicht schon tiefere Gründe dafür vorhanden wären, denn es ist doch besser, ein süßes, liebevolles Geschöpf für sich zu haben, als ein Gezücht schnatternder, intriguierender und gedankenloser Puppen um sich. –

Hier aber riß Holofernes seine Gedankenkette gewaltsam entzwei, so lange es noch Zeit war, sich loszumachen. Er schüttelte den Kopf und erhob ihn und sein Blick traf den seiner kleinen Nichte Malwina, die sich schnell ans Fenster zu einer Arbeit gesetzt und grade in diesem Augenblick ihre großen schwarzen Augen hell und liebevoll forschend: auf das Antlitz des Onkels, gerichtet hatte. Es war ihr dabei zumute, wie einem, der in einem tiefsinnigen, aber schwer zu verstehenden Buche liest; er vermag den Sinn nicht klar zu entwirren, aber ein unnennbares Gefühl sagt ihm, daß etwas großes und hohes unvermerkt von den Blättern in seine Seele übergegangen ist. Sie hatte vorher bei der ebenso geräuschvollen, als nichtssagenden Begrüßung ihrer Mutter kaum die Zeit gefunden, dem Onkel die Hand zu küssen, der einen hellfreundlichen; Blick auf sie richtete, dann aber vom Geschwätz seiner Schwester gewaltsam abgezogen und übertäubt worden war. Jetzt, da der Blick des Onkels plötzlich ihrem forschenden begegnete, fuhr sie leise zusammen, ein süßes Erröten überflog die Wange des frischen Kindes, die zarte Wimper senkte sich, das Licht des Auges beschattend, und die Finger, die eine Weile, als sie den Onkel ansah, stillgestanden hatten, ergriffen die Arbeit schnell und bewegten sich plötzlich mit ungewöhnlicher Eilfertigkeit.

»Ei! (sprach Holofernes bei sich, froh überrascht). Hier haben wir ja Anmut, das heißt: das A und das O des Weibes. Aus der Knospe kann eine schöne, süß duftende Blume werden. Aber halt, du alter Narr! Hast du denn schon vergessen, daß das dümmste Auge durch das gefällige Hineinfallen eines Lichtstrahls unter einem glücklichen Winkel für Augenblicke schön erscheinen kann? Und ein Erröten? Kann es nicht ebenso gut aus tölpelhafter Verlegenheit entspringen, als aus einem schöneren Grande? Aber die Sache ist wenigstens der Prüfung wert.« –

Darauf näherte er sich dem Kinde und indem er täuschend jenen einfältigen, befangenen, halbverlegenen und doch überlegen sein wollenden Ton annahm, dessen man sich gewöhnlich gegen Kinder, mit denen man nicht ganz vertraut ist, bedient, sprach er: »Ei sieh doch! So fleißig, meine kleine Malwina?« Dabei besah er die Arbeit mit affektiert ernster Aufmerksamkeit. Malwina wußte wirklich nicht, was sie auf eine solche Anrede sagen sollte, denn sie hatte, zum Ärger ihrer Mutter, es nie gelernt, auf dumme Fragen stets eine klugseinsollende Antwort bereit zu haben. Da sie aber glaubte, der Onkel meine es freundlich und sei bloß ungeschickt, sah sie ihn mit ihren schönen Augen halblächelnd an und blickte dann wieder still auf die Arbeit nieder. Dem Onkel gefiel ihr Schweigen und ihr Blick; aber es steckte ein Quälgeist in ihm. Er fuhr deshalb im vorigen Tone fort: »Wie alt bist du jetzt, liebe Kleine?« Jetzt sah Malwina ihn nicht wieder an, denn sie fühlte sich schon durch diese zweite nichtssagende Frage und durch den impertinent liebkosenden Ton, in dem sie getan war, geängstigt. Sie antwortete bloß halblaut: »Zehn Jahr.«

»Zehn Jahr!« spottete Frau Habichs in einem ironisch zimperlichen Tone nach »Zehn Jahr! Sagt man so? Zehn Jahr! Was soll der Onkel von dir denken? Er wird dich für ein Mädchen ohne Erziehung halten. Zehn Jahr, lieber Onkel! sagt man, wenn der Onkel fragt und nicht (wieder affektiert nachspöttelnd) zehn Jahr.«

»Zehn Jahr, lieber Onkel!!« sagte nun Malwina mit bebender Stimme, kleinlaut, aber doch abgemessen und mit leisem Anhauch ironischer Förmlichkeit, doch ohne Impertinenz, wie aus Gehorsam ohne Überzeugung. Dann wandte sie sich ab und zerdrückte mit dem Tuch eine hervorquellende Träne. Holofernes war nun schon vollkommen verliebt in seine kleine Nichte und jauchzte innerlich; aber wie man oft den Tick hat, diejenigen, die man am meisten liebt, durch konsequente, boshafte Quälerei zu extern (wie sie in Schlesien sagen), so er jetzt. »Erst zehn Jahr! (rief er im Kommißton erheuchelter Kinderbewunderung). Ei, ei! und schon so hübsch groß! Und wie hübsch du schon stickst für dein Alter! Laß doch einmal sehen!« So quängelte er fort und ängstete das arme Kind, das endlich ganz lautlos wurde. Frau Habichs bereitete sich schon auf eine recht schöne, moralische Strafrede vor, um mit ihrer Wohlredenheit und Erziehungsweisheit vor ihrem Bruder zu prunken; denn wenn sie mit Malwina allein war, pflegte sie sie bloß mit abgerissen ausgestoßnen, einfachen Grob- und Roheiten abzufertigen. Schon warf sie sich in die Brust, nahm eine liebevoll, zürnende Miene an und wollte eben die erste Sentenz dem Bruder vorreiten, als dieser, es merkend, zu ihrer nicht geringen Kränkung ihr den Faden an der Wurzel abschnitt, indem er sich zu Malwina wandte: »Aber du bist ja so still, liebe Kleine! Bist du immer so? Wie? Sage doch!« Natürlich wurde Malwina hierdurch womöglich noch befangener und mutloser zum Sprechen; nur einen bittenden Blick um Schonung wagte sie dem Onkel flüchtig zuzuwerfen. Der Blick traf tief, aber eben deshalb nahm sich Holofernes zusammen und verhärtete sich nur noch mehr in seiner Malize. »Nun? (fuhr er fort) weißt du mir nichts zu erzählen?« Sie blieb still. »Sag'! erzähle mir was!« sprach er, ihr unter das Kinn fassend, mit peinigender Zudringlichkeit. »Nun?« – Pause. – »Weißt du gar nichts, liebe Kleine?« »Nein!« seufzte sie ganz gepreßt. »Nun, dann werde ich dir wohl was erzählen müssen (fuhr der Ängstiger fort). Soll ich? sage!« – »Ja,« sagte sie ganz kurz; aber das »Ja« kam heraus, halb wie ein pressendes »Ach!« halb wie ein lösendes »Gott sei Dank!« denn sie schöpfte doch Hoffnung, daß sie nun endlich erlöst würde und wenigstens nicht zu sprechen brauchte. Frau Habichs zerplatzte vor Ärger, daß sie nicht zu Wort kam, denn Holofernes wußte geschickt immer den richtigen Moment zu fassen, wo sie eben den Mund auftat. Nur ein intonierendes: »Aber Malwina!!« gelang es ihr loszuschießen; da fuhr er wieder dazwischen: »Nun, – wenn du nichts sagst, so will ich dir doch eine recht schöne Geschichte erzählen, die dir gewiß gefallen wird.« Hierauf begann er, indem er läppisch mit den Händchen und Fingerchen der Kleinen tätschelte und spielte, in einem kränkend persiflierenden Kinderton folgendes Märchen zu erzählen.

Robert und Gretchen.

(Ein Kindermärchen.)

Es war einmal in einer schönen Stadt ein großes, prächtiges Schloß, und in dem Schlosse wohnte der König und seine Frau. Die hatten beide einen Sohn, der hieß Robert, und war gar ein wilder, ungezogener Knabe, denn er lief den ganzen Tag auf der Straße herum, wollte nichts lernen und folgte seinen Eltern nicht. Vor dem Tor aber, nicht weit von dem Schlosse, war eine kleine, schlechte Hütte, in der wohnte ein gar armer Tagelöhner mit seiner Frau und hatten beide ein einziges Kind, das war Gretchen genannt und ein liebes, gutes Kind.

Manchmal, wenn sie auf der Wiese vor der Hütte saß, kam Robert und sprach mit ihr und bat sie, mit ihm zu spielen. Das tat sie auch, denn sie war gegen Jedermann freundlich. Einmal aber, wo schönes Wetter war, sprach er zu ihr: Komm Gretchen, wir wollen ein bischen nach den Felsbergen hin in den grünen Wald spazieren gehn. Dein Vater ist zur Arbeit und deine Mutter auf der Bleiche, und bis sie nach Hause kommen, sind wir längst wieder hier. Gretchen ging mit, und als sie im Walde waren, sahen sie am Wege auf einem Steine ein altes, armes Männchen mit weißen Haaren und in zerrissnen Kleidern sitzen, das bat sie mit zitternder Stimme: »Liebe Kinderchen, gebt mir doch etwas zu essen oder etwas Geld, ich bin ein gar armer Mann und habe seit gestern noch kein Brot gehabt.« – Gretchen hatte sich von ihrer Mutter ein Abendbrot schmieren lassen, das hatte sie mitgenommen und wollte es eben essen; als sie aber den armen Mann sah, kamen ihr die Tränen in die Augen und gab's ihm ganz, ohne etwas für sich zu behalten. Der arme Mann nahm's und dankte, aber Robert lachte Gretchen laut aus und sprach: »Du dummes Ding, warum ißt du dein Butterbrod nicht selbst und gibst es dem alten, häßlichen Bettelmann. Ich habe Geld in der Tasche, aber ich will mir dafür lieber Kuchen kaufen und werde ein Narr sein, ihm was zu geben.« Und als er das gesagt hatte, lachte er noch mehr und spottete und schimpfte auf den alten Mann. Der aber stand auf, wurde auf einmal so groß und stark wie ein Riese, packte den bösen Knaben, hob seinen Stock und rief mit grimmiger Stimme: »Weil du so ein Bösewicht bist, will ich dich jetzt strafen, daß du daran gedenken sollst.« – Robert war vor Angst umgesunken und machte die Augen zu; aber Gretchen fiel vor dem Manne nieder und bat und weinte, er möchte es ihm doch noch einmal verzeihn und ihn nicht schlagen, Robert würde so was gewiß nicht wieder tun. Als der Mann das sah, ließ er den Stock sinken und sagte: »Weil du darum bittest, will ich's ihm noch einmal schenken, und dich will ich belohnen, weil du ein so gutes Kind bist.« Und auf einmal wurde der Mann zu einer wunderschönen Fee mit hellgrünen Kleidern, einem Diamantgürtel und einer goldnen Krone. Die sprach zu Gretchen gar freundlich: »Fürchte dich nicht mein Kind, komm mit, ich will dir meine Stuben zeigen und etwas Schönes schenken.« Und sie nahm sie bei der Hand, um fortzugehn. Gretchen aber fragte: »und darf Robert nicht mit?« »Nein,« sagte die Fee, »denn er hat es nicht verdient.« – »Ach bitte, nimm ihn auch mit,« sagte Gretchen, »sonst will ich deine Sachen auch nicht sehn, und er weiß auch nicht den Weg von hier nach Hause, er würde sich verirren, wenn er allein hier bliebe.« – »Weil du darum bittest, soll er mitgehn,« sprach die Fee. Da gingen die drei durch dicke, verworrene Gebüsche und die Zweige wichen vor ihnen aus, so daß sie bequem durchgehen konnten. Endlich blieben sie im tiefen Walde vor einer Felswand stehn. Die Fee klopfte daran mit einem Stäbchen; da tat sich der Felsen auf, und die Fee führte die Kinder an der Hand hinein. Und auf einmal standen sie in einem schönen Saal, da waren keine Fenster und keine Lichter drin und es war doch so hell, als ob zwei Sonnen geschienen hätten. Die Wände des Saals aber waren lauter wunderschöne, bunte Bilder, und auf schön gemalten Tischen lagen viele, viele Bilderbücher. Und die Fee zeigte und erklärte den Kindern alle die herrlichen Bilder, auf denen Städte, Wälder, feuerspeiende Berge, Soldaten, Türken, Vögel, Schmetterlinge und Herden gemalt waren. Als sie sich satt gesehn hatten, führte die Fee sie in einen andern Saal. In dem waren die wunderschönsten Puppen, Soldaten, Reiter, Ställe mit Kühen und Schafen und allerlei andern Spielsachen. Die Fee erlaubte Gretchen und Robert, damit zu spielen. Die Puppen und Soldaten aber konnten reden, sich bewegen und schießen. Gretchen sprach mit der schönsten Puppe, putzte sie und ging mit ihr spazieren. Robert aber kommandierte laut und ließ von den Soldaten eine große Schlacht liefern. Kaum konnten sie sich von den schönen Sachen trennen, die Fee aber führte sie weiter in einen dritten Saal. Dessen Wände waren von Marzipan und er war voll grüner Bäume, an denen wuchsen goldne Nüsse, Pfefferkuchen, Bonbons und Knackmandeln und schöne, grüne, rote, blaue und goldgelbe Vögel flatterten herum, die sangen wunderschöne Lieder, hüpften den Kindern auf Schultern und Hände und ließen sich haschen und streicheln. Die Fee aber gab den Kindern von all den schönen Sachen zu essen und es schmeckte alles so süß, wie sie noch keine Pfefferkuchen, Bonbons und Mandeln sonst gegessen hatten. Als sie satt waren, sagte die Fee: »Das schönste ist noch übrig, kommt.« Und sie kamen in eine kleine Stube, die war von purem, blanken Golde mit bunten Edelsteinen ausgelegt. In der Mitte von der Stube aber stand ein kleiner Tisch, auf dem lag ein kleiner Spiegel, ein Halsband mit einem silbernen Kreuzchen und ein kleiner goldner Ring. Da sprach die Fee zu Gretchen: »Weil du mir Brot gegeben hast, als ich wie ein armer Mann aussah, sollst du dir von diesen drei Dingen eins wählen, das ich dir schenken will. Robert aber hat mir nichts geben wollen und nun will ich ihm auch nichts geben. Der Spiegel hat die Eigenschaft, daß jeder, der täglich einmal hineinsieht, wunderschön wird, wer den Ring am Finger trägt, der wird so reich, wie der reichste Kaiser, und wer das Kreuz am Halse trägt, den haben alle Menschen lieb. Nun wähle.« – Da zupfte Robert Gretchen am Ärmel und winkte ihr, daß sie den Ring wählen möchte; Gretchen aber sagte: »Wenn du so gut sein willst, mir was zu schenken, so bitt' ich schön um das Kreuz, denn ich möchte gern, daß mir alle Menschen gut wären.« Als sie das gesagt hatte, gab die Fee ihr das Kreuz, küßte sie und sagte: »Du hast gut gewählt. Hänge dir das Kreuz unter dein Kleid um den Hals, so daß du es an der Brust versteckt trägst, dann werden dich alle Menschen lieb haben. Du darfst aber niemand etwas von dem Kreuze sagen und es auch niemals weggeben; versprich mir das, Gretchen.« Gretchen versprach's. »Und nun geht wieder nach Hause, Kinder,« sprach die Fee, »eure Eltern warten auf euch.« Als sie die Kinder aber zu einer andern Tür herausführen wollte, sah sie sich um und sah, daß der goldne Ring nicht mehr auf dem Tischchen lag. Da wurde ihr Gesicht finster und sie fragte zornig: »Wo ist der goldne Ring hin?« – »Er wird wohl auf den Fußboden gefallen sein,« sprach Robert und wurde feuerrot. »Hast du den Ring genommen?« sprach die Fee zu Gretchen. »Wie kann ich ihn genommen haben, da er mir nicht gehört?« antwortete sie ruhig. »Hast du ihn?« sprach die Fee zu Robert. »Ich bin eines Königs Sohn, wie kannst du glauben, daß ich einen Ring stehlen werde?« rief er und geberdete sich beleidigt. Die Fee aber ward noch zorniger und rief: »Kleiner Bösewicht, ich weiß es wohl, daß du ihn hast. Du hast ihn genommen, als ich mich eben umdrehte, und ihn in den Mund gesteckt, damit ich ihn nicht bei dir finden möchte. Hättest du mir's gestanden, so wollte ich dir verzeihn, aber weil du mich belogen hast, will ich dich in eine stockfinstre Kammer sperren lassen, da sollst du allein sitzen und nur Wasser und Brot bekommen und nie wieder deine Eltern sehn. Gib den Ring.« – Zitternd gab Robert den Ring her, die Fee aber winkte mit ihrem Stabe. Da hörte man ein fürchterliches Brausen und zwei schreckliche, kohlschwarze Drachen mit feurigen Augen und scharfen Zähnen kamen durch die Luft geflogen, die sollten Robert einschließen und bewachen. Als Gretchen das sah, erschrak sie sehr und es erbarmte sie des armen Robert, so daß sie weinend und schluchzend vor der Fee niederknieete, die Händchen rang und bat: »Ach bitte, bitte, schenk es ihm nur noch ein einzigesmal, es hat ihm zu sehr nach dem Ring gelüstet, weil ich etwas geschenkt bekam und er nichts. Er wird sich gewiß bessern und nie so etwas wieder tun. Verzeih ihm nur noch diesmal.« »Nein,« sprach die Fee, »ich habe ihm schon einmal verziehn, und er hat sich nicht gebessert.« – »So sperre mich mit ein, daß er nicht allein vor Angst umkommt,« schluchzte Gretchen. Da wurde die Fee wieder freundlich und sprach: »Um deiner Güte willen will ich ihm auch diesmal noch verzeihn; aber es ist das letztemal,« rief sie drohend zu Robert, »nimm dich ja in acht!« – Da verschwanden die Drachen wieder, die Fee führte die Kinder zur Tür hinaus, die schloß sich hinter ihnen und sie standen allein im Walde vor der alten Felswand. Robert war noch ganz erschrocken und lief was er nur laufen konnte. Gretchen folgte ihm. Als sie weit weg waren, so daß er sich nicht mehr fürchtete und sie beide wieder langsam gingen, sprach er: »Gretchen, was willst du mit diesem Kreuz? dich haben ja doch alle Menschen lieb, weil du so freundlich bist, schenke mir es lieber.« »Nein,« sagte Gretchen, »ich behalt' es selbst.« – »So will ich dir Geld dafür geben,« sprach Robert. »Weißt du nicht, daß mir die Fee verboten hat, es wegzugeben?« antwortete Gretchen. »Ach was, woher soll es denn die Fee wissen, wenn du es auch weggibst?« sprach Robert. Gretchen aber sagte: »Und wenn sie es auch nicht weiß, so habe ich ihr es versprochen, es nicht wegzugeben, und lügen darf man ja nicht.« »Dummes Ding, gib's nur her!« sprach Robert, und wollte es ihr wegnehmen. Gretchen wehrte sich, aber Robert sagte: »Gib's oder ich schlage dich.« – »Tu' das nicht,« bat Gretchen, »die Fee wird dich sonst strafen.« »Was kann die mir hier tun?« sagte Robert. Gretchen wollte das Kreuz nicht geben, da sie es aber nur in der Hand trug und vergessen hatte, es umzuhängen, wie die Fee es gesagt hatte, so wirkte der Zauber noch nicht, daß ihr alle Menschen gut sein mußten, und Robert schlug sie, daß sie weinte, und weil er stärker war, bezwang er sie, warf sie auf die Erde und wollte ihr eben das Kreuz aus der Hand reißen; da kam auf einmal vom Himmel fürchterlicher Donner und Blitz, daß die ganze Erde mit Bäumen und Bergen zitterte, die Vögel hörten auf zu singen, ringsum wurde rabenschwarze Nacht und ein eiskalter Wind fuhr den Kindern über die Haut. Als es wieder hell und freundlich wurde, war Gretchen allein mit dem Kreuz in der Hand. Sie suchte überall in Büschen und Wiesen, sie rief und schrie und weinte, aber Robert war weg. Endlich als es anfing Abend zu werden, hing sie sich das Kreuz um die Brust und ging sehr betrübt nach Hause. Die Eltern fragten sie, wo sie so spät herkomme. Sie erzählte alles, nur vom Kreuz sagte sie nichts, weil es ihr die Fee verboten hatte. Die Eltern lachten sie aus und sagten: sie würde wohl alles nur geträumt haben. Sie konnten aber nicht böse auf sie werden, weil sie das Kreuz auf der Brust trug.

Als sie am andern Nachmittage vor der Hütte im Grünen saß, hörte sie etwas recht kläglich winseln. Und es kam ein ganz kleiner, alter Mann auf sie zu, der war buckelig, lahm, pockennarbig und einäugig und hatte häßliche zerrissene Lumpen auf dem Leibe, eine kahle Platte und ein gar abscheuliches, erschreckliches Gesicht.

Er schleppte sich an einem Stabe langsam und mühselig heran. Gretchen erschrak und wollte weglaufen, der Mann bat sie aber so sehr, daß sie blieb. »Kennst du mich nicht?« sprach er zu ihr. »Wie soll ich dich kennen, da ich dich nie gesehen habe?« sagte Gretchen. »Ach, ich bin ja Robert, mit dem du gestern bei der Fee warst,« sagte er, und nun erzählte er ihr, wie ihm die Fee, als der Donnerschlag kam, erschienen, ihn mit ihrem Stabe in diese schreckliche Gestalt verwandelt und gesagt habe: weil er Gretchen habe das Kreuz rauben wollen, das sie bei allen Menschen beliebt mache, sollte er nun sein ganzes Leben lang von allen Menschen gehaßt und mißhandelt werden und sein Brot mühsam erbetteln. »Drauf verschwand sie,« erzählte Robert weiter, »und ließ mich hilflos und allein. Ich fühlte mich an allen Gliedern krank und weh und schleppte mich mühsam ins Königsschloß zu meinen Eltern. Die aber entsetzten sich vor mir und befahlen den Bedienten, daß sie mich zum Schlosse herauswürfen. Als ich sagte, ich wäre ihr Sohn, ihnen, die Geschichte mit der Fee erzählte und bat, sie möchten mir nur wenigstens etwas zu essen geben, sagten sie, ich wäre ein unverschämter Lügner und ließen mich schlagen und stoßen und hungrig und müde vom Schloß wegjagen. Ich hinkte weiter und bat überall um ein Nachtlager oder wenigstens ein Stück Brot, aber die Leute entsetzten sich alle vor mir und stießen mich unbarmherzig weg. Nun habe ich müssen die ganze Nacht auf der Straße liegen ohne zu schlafen, denn mich fror, daß mir die Zähne hart aneinander klapperten und daß ich zu sterben meinte. Auch heut früh habe ich noch nichts zu essen bekommen und werde gewiß verhungern, wenn du mir nichts gibst. Ach, ich hab's wohl nicht um dich verdient, liebes Gretchen, denn ich habe dich ja geschlagen und wie ein Bösewicht an dir gehandelt; aber ich weiß, daß du so gut bist und dich meiner Not erbarmen wirst, darum habe ich mich halbtot hierher geschleppt.« – Da fühlte Gretchen, wie sich ihr das Herz vor Mitleiden und Bekümmernis im Leibe umkehrte. Sie ging in die Hütte, holte ihr Vesperbrot und gab es dem armen Verhungerten, der es gierig aß. Und sie fürchtete sich nicht vor seiner häßlichen Gestalt, setzte sich neben ihn, nahm seine Hand, sprach ihm Hoffnung ein und sagte, die Fee würde sich wohl erbarmen und ihn wieder erlösen. Da weinte Robert bittere Tränen und sprach: »Nein, das wird sie nicht, und sie hat auch ganz recht. an mir getan, denn ich habe dich gekränkt und du bist doch so fromm und freundlich, wie die lieben Englein im HimmeL« Gretchen aber sprach: »Komm mit mir in den Wald. Da will ich die Fee rufen und bitten, daß sie dich wieder erlöst, vielleicht tut sie es doch.« Und sie gingen zusammen weg. Gretchen aber mußte Robert führen und ihn oft ausruhen lassen, denn er war sehr krank und schwach. Sie fanden auch nach langem Suchen die Felswand, aber keine Tür darin»Da fing Gretchen laut an zu rufen: »Liebe Fee, liebe Fee, komm' doch, komm'!« Und siehe da, plötzlich stand die Fee in glänzenden Kleidern da und sprach zu Gretchen: »Warum rufst du, mein Kind, und was suchst du?« Als sie aber Robert sah, ward sie zornig und sprach: »Was will der vor meinem Angesicht?« Da fing Gretchen an, recht herzlich zu bitten, sie möchte dem Robert wieder verzeihen und erzählte, wie schlimm es ihm ergangen wäre, wie er sein Unrecht schon schmerzlich bereut habe und ganz gewiß sich bessern werde. Die Fee aber sprach: »Nein, er hat zu oft Böses getan, als daß ich ihm verzeihen könnte.« Als Robert und Gretchen aber zusammen immer flehender baten, ward die Fee gerührt und sprach: »Und wollte ich ihn auch erlösen, so kann ich's doch nicht; denn um ihn wieder zu entzaubern, muß ich ein Fläschchen vom Wasser der Schönheit holen; daß kann aber nur mit großer Gefahr und nur von einem unschuldigen Kinde geholt werden, das niemals jemandem was zu Leide getan hat.« »Ei, so laß mich es holen, ich bring's gewiß,« sprach Gretchen. »Nein,« rief Robert, »wenn es gefährlich ist, sollst du nicht gehen. Ich will lieber ewig ein alter, häßlicher Bettelmann bleiben. Ich habe dich beleidigt und es ist nicht recht, daß du meinetwegen in Gefahr kommst.« Da sah die Fee ihn erstaunt an und sagte: »Aus diesen Worten seh' ich, daß dich dein Unglück gebessert hat und darum soll Gretchen auch das Wasser holen. Aber hast du auch wirklich niemand etwas zu Leide getan?« sprach sie zu Gretchen. »Nein, in meinem Leben nicht.« »Auch keinem Tiere?« »Nein, wie sollt' ich das, da es Unrecht ist! ein Tier zu quälen?« »Besinn' dich ja recht,« sprach die Fee, denn gehst du hin und es ist nicht wahr, so mußt du sterben.« »Nein gewiß, ich habe nie einem Wesen Leides getan,« sprach Gretchen. »So will ich dir dabei helfen, so viel ich kann,« sagte die Fee. »Geh' diesen Fußsteig nach dem Berge zu, da wirst du eine große, schwarze Höhle finden. Fürchte dich aber nicht und geh' hinein und immer grade aus, dann kommst du in einen schönen Garten, das ist der Garten der großen Schlange. In dessen Mitte ist ein klarer Springbrunnen und in dem ist das Wasser der Schönheit; wen man damit wäscht, der wird wunderschön und wäre er auch noch so häßlich gewesen. Hier hast du ein Fläschchen, das schöpfe mir voll, nimm dich aber in acht, daß du nicht ins Wasser gleitest, du könntest sonst ertrinken. Wenn du unterwegs in Gefahr kommst, so nimm dies Haar und reibe es, dann werd' ich dir zu Hilfe kommen.« So sprach die Fee, gab Gretchen ein Fläschchen und ein goldgelbes Haar aus ihren eigenen Locken und Gretchen machte sich auf den Weg. Auf dem Berge sah sie eine finstre große Höhle. In die ging sie hinein und immer gradeaus. Es war aber so finster darin, daß sie nicht sehen konnte, wo sie war. Und als sie weit, weit gegangen war, hörte sie auf einmal ein fürchterliches Brummen und ein ungeheurer, großer, häßlicher Bär mit Feueraugen und roter Zunge kam auf sie zu und brüllte: »Was willst du hier?« – »Ich will Schönheitswasser holen,« sagte Gretchen zitternd. – »Gut, weil du meiner Königin, der Schlange, das Schönheitswasser stehlen willst, so werde ich dich gleich auffressen.« So heulte der Bär und schon hatte er Gretchen gepackt und wollte sie eben auffressen, da dachte sie an das Haar und rieb es. Da ward es auf einmal so hell ringsum, als ob tausend Lichter gebrannt hätten und die Fee kam auf einem goldenen Wagen durch die Luft, den zwei weiße Schwäne zogen. Sie schlug den Bären mit ihrem Stab auf den Kopf und sprach: »Laß ab, du garstiges Tier. Gretchen hat noch keinem Wesen Leides getan, warum willst du ihr denn Leides tun?« Da kroch der Bär weg und war ruhig. Die Fee aber verschwand und Gretchen ging in der Dunkelheit weiter. Und als sie wieder wohl eine Meile weit gegangen war, wurde es hell, und sie stand vor einem grünen Gartengeländer mit einer Tür von goldnen Stäben. Eben wollte sie hineingehen, da kam auf einmal eine große, große grüne Schlange auf sie zugeschossen und zischte wütend: »Was willst du hier?« »Ich will ein Fläschchen Schönheitswasser holen,« sprach Gretchen. »Gut, weil du mich bestehlen willst, so werde ich dich gleich auffressen,« zischte die Schlange, und wandte sich in Vielen Ringen um Gretchen herum und wollte sie eben mit der spitzigen Zunge totstechen und auffressen; Gretchen aber dachte an das Haar, rieb es und die Fee erschien wie vorhin, schlug die Schlange auf den Kopf und sprach: »Laß ab, Frau Schlange! Gretchen hat noch keinem Wesen Leides getan, warum willst du ihr denn Leides tun?« – Da kroch die Schlange weg und ließ Gretchen in Ruh; die Fee verschwand und Gretchen ging in den Garten. In dem Garten aber war es gar wunderschön. Da waren auf allen Seiten grüne Bäume mit den herrlichsten Früchten, die so tief herunterhingen, als wenn sie gern gepflückt sein wollten; bunte Vögel, die schöne Lieder sangen, und grüne Wiesen mit schönen bunten Blumen, die lieblich dufteten, und an dem Wege flossen klare Kristallbäche, in denen goldne Fischchen plätscherten. Gretchen aber achtete nicht darauf und ging weiter, denn sie dachte nur daran, das Schönheitswasser zu holen, damit der arme Robert entzaubert werden könnte. Und als sie in die Mitte des Gartens kam, sah sie ein großes Marmorbecken; in dessen Mitte war ein schöner, hoher Springbrunnen, dessen Tropfen in der Sonne leuchteten wie Perlen und Diamanten, und darin war das Schönheitswasser. Sie kniete am Rande hin und hielt mit der einen Hand das Fläschchen ins Wasser um zu schöpfen, mit der andern aber hielt sie sich oben an, damit sie nicht herunterfiele. Als das Fläschchen voll war und sie es herausziehen wollte, glitt sie aber aus und fiel ins Wasser. Sie wollte sich am Rande anhalten, aber die Hand glitschte aus und sie versank. Sie verlor den Atem, es wurde ihr schwarz vor den Augen und sie meinte zu ertrinken. Da dachte sie in der größten Todesangst an das Haar, nahm ihre letzte Besinnung zusammen und rieb es. Plötzlich fühlte sie sich durch die Luft getragen, und als sie wieder zu sich kam, war sie trocken und unversehrt im Walde bei der Fee und dem bezauberten Robert. Die Fee aber sprach: »Es ist gut, daß du noch an das Haar gedacht hast, sonst hättest du ertrinken müssen!« Dann nahm sie das Fläschchen und goß Robert ein paar Tropfen auf den Kopf. Da verschwanden auf einmal die alten häßlichen Lumpen und der Buckel und die Runzeln in seinem Gesicht und er ward wieder zum schön gekleideten Knaben und hübscher als er sonst gewesen war. Und auch Gretchen war viel schöner geworden wie früher, denn sie hatte sich im Wasser der Schönheit gebadet. Als Robert seine Erlösung sah, fiel er der Fee zu Füßen, weinte und dankte ihr. Die Fee aber sagte: »Dem guten Gretchen mußt du danken, denn sie hat dich erlöst.« Da küßte Robert Gretchens Händchen und dankte und versprach, nun immer gut und liebreich zu sein. Gretchen aber hob ihn auf und freute sich, daß er wieder entzaubert war. Darauf nahm die Fee Abschied von beiden Kindern und verschwand und sie gingen Hand in Hand nach Hause.

Der König und die Königin hatten unterdes sehr getrauert, daß ihr einziger Sohn weg war, hatten ihn überall gesucht und im ganzen Lande ausklingeln und ausrufen lassen: wer ihn wiederbrächte, der sollte viele, viele tausend Taler bekommen. Als nun Gretchen mit Robert im königlichen Schlosse ankamen, da nahmen sie sie freundlich auf und waren erfreut über die Maßen, daß ihr Sohn wieder da war. Und wenn Gretchen auch nicht das Kreuz am Halse getragen hätte, wären sie ihr doch gut gewesen, weil sie ihren Sohn wiederbrachte und so lieb und freundlich war. Da sie hörten, daß Gretchens Vater ein armer Tagelöhner wäre und in einer schlechten Hütte wohnte, ließen sie ihm ein großes schönes Haus bauen und gaben ihm viel Geld, daß er es für Gretchen aufheben sollte, bis sie groß würde. Und als Robert und Gretchen groß geworden waren, wurden sie Mann und Frau und Gretchen war von jedermann geliebt, denn sie trug das Kreuz auf der Brust und war freundlich gegen alle. Als Roberts Vater gestorben war, wurden sie König und Königin und bekamen Kinder und lebten in Reichtum und Freuden, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.


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