Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel VIII

Und hundert und hundert andre süße Märchen und Sagen und tiefe Worte drangen aus Blüte, Blatt, Gras und Luft dem Knaben ans Herz; aber sie tönten schöner, reiner, klarer und voller, als er sie in menschlicher Sprache nachzudenken vermochte, und tausend innige Augen lächelten und grüßten dazu. Selig und leicht ging er umher und ging weiter und weiter, und überall neue Gesänge, neue Verkündigungen, neue Offenbarung; und doch war eins im andern schon enthalten, alles nur wie lieblich wechselnde Variationen auf ein einziges, ewiges Thema. Und diese Grundmelodie war ihm so neu zugleich, und doch so altbekannt. Er mußte sie schon einmal in frühster Kindheit, ehe er nachdenken konnte, irgendwo gehört, aber dann lange, lange vergessen haben, meinte er. Sie hatte so lange in ihm geschlummert. Und das hatte sie wirklich, aber nicht seit Jahren her, wie er sich einbildete, sondern seit Jahrtausenden.

A. d. T. d. O. H.

Ich glaube, es hat's schon längst einer gesagt: daß der Mensch nichts erlernen kann, als das, was er schon weiß. Hätt's noch keiner gesagt, so würde ich jetzt diesen Gedanken, als einen ganz originellen, meiner eignen lieben Eitelkeit wie einen besonderen Leckerbissen vorsetzen. Aber mag's auch ein andrer gesagt haben, so hat's diesmal auch für mich seine Tiefe und Wahrheit.

In uns ruht vom Beginn der Dinge her eine eingeschlummerte Allwissenheit. Da sind unzählige Bilder, Gestalten, Worte und Gedanken, gleich den Einwohnern jener Stadt, die durch Zauber versteinert waren; und so werden wir in diese Welt der Erscheinungen und Klänge geworfen, wie blinde Hündlein. »Nun schaff dir selber Rat und finde dich zurecht!« Aber wenn der rechte Ton oder Strahl von außen in unser Inneres hineinfährt, da wird da drinnen das zu ihm gehörende Bild oder Wort aus dem Zauberschlaf geschreckt, erlöst, wird lebendig, wie das Memnonsbild beim Gruß der Sonne. So lebt die ausgestorbene Stadt auf, und da ist ein Volkstrubel und Gewirr, da wogt und webt eine lebendige Ideenwelt, so daß wir schon hier meinen, ein Gedankenall in der Brust zu hegen und es kaum ertragen mögen. Wie wird es uns erst dort werden!

Und dies gilt nicht bloß von den Erscheinungen der Natur, ihrer Bedeutung und ihrem Zusammenhange, auch nicht bloß von den allgemeinen innern und äußern Eigenschaften des Menschen, nein! auch von der ganzen Weltgeschichte, ihrem Verlauf und Zusammenhange bis zu den einzelnsten Charakteren, zu den geringsten, scheinbar zufälligen Tatsachen. Es war uns alles schon unbewußterweise bewußt, sonst könnten wir gar nichts davon verstehn. (Ein Beweis übrigens, daß auch das Kleinste wichtig, weil es göttliche Offenbarung ist.) Zumal einen Charakter könnten wir gar nicht begreifen, wenn wir ihn nicht ganz, sein Hassens- und Liebenswertes, sein Hohes und Niederes schon in uns selber trügen, mithin nachfühlen könnten, und so tragen wir wirklich jeden nur möglichen Menschencharakter in uns, das heißt, jeder einzelne Mensch ist zugleich der Inbegriff der ganzen Menschheit. Er weiß es nur in keinem Augenblicke ganz, sondern heut weiß er dies, morgen jenes, und dies weiß er öfter, als jenes. Die Durchschnittssumme derjenigen Eigenschaften, Empfindungen und Gedanken, deren Bewußtsein sich bei ihm am häufigsten wiederholt, nennt er dann: seinen Charakter. Ich aber weiß, daß ich in Augenblicken schon Nero und Caliban gewesen bin, und daß ich alles sein kann. Übrigens entspringt aus dem Satz: jeder Mensch ist zugleich der Inbegriff der Menschheit, die tröstende Überzeugung, daß keiner, von welcher Seite er sich auch eine Spanne Zeit hindurch zeige, für die Ewigkeit verloren gehen kann.

Man hat sich, nach allem Gesagten, gar nicht so übermäßig zu verwundern, daß ein Mondsüchtiger Klavier spielen kann. Die ewigen Gesetze der Musik liegen in jedem, und dies ist ein augenblickliches, energisches Zurückbesinnen. Auch die ganze Seherin von Prevorst ist so, ohne stinkige Frömmelei, genügend kommentiert. Es ist eben nichts weiter, als daß wir früher einmal alles gewußt haben, was da war, ist, und sein wird. Unsere Bestimmung hier ist, dies Wissen selbsttätig wieder aus uns heraus zu entwickeln, so weit das begrenzte Lokal es gestattet. Großes Vorgerücktsein in dieser Fähigkeit macht, wenn es formell erstarrt, den Philosophen; wenn es in lebendigem Fluß und Werden bleibt, den Dichter, das heißt die eine Seite des Dichters. Die andre ist, daß er dergestalt bis auf den Grund der Sprache sieht, wie einer, der von der Oberfläche des Meeres mit einem Blick alle seine Tiefen durchschaute, alles Lebendige und Herrliche, was sie hegen, alle Tiere, Korallen, Perlen, alle versunkenen und vergessenen Schätze und Städte.

Wie Junius, im Genuß seines neuen Glückes, umherschwärmte, kam er unvermerkt aus seines Vaters Garten heraus in eine schöne, waldige Wildnis, welche die Stadt von einer Seite begrenzte und an den Garten stieß. Da sah er eine duftige, glühende Walderdbeere stehen, und die Zweige darüber säuselten:

Wie die ganze Welt sich senket
In des Menschen stille Brust,
Was er von ihr sinnt und denket.
Das nur wird ihr selbst bewußt –
Und wer ihm ins Herz geschauet,
Nennt die Welt erkennend sein:
Also ist herabgetauet,
Leis von jedem Zweig im Hain,
Aller frischen Einsamkeiten
Selig labendes Gefühl,
Alles Girren, Liedesstreiten,
Rauschen, Wirren, Waldgewühl.
Und in jener süßen Beere
Ward's ein holdes Angesicht,
Das mit Lächeln, was er wäre,
Neu zum Walde selber spricht.
Denn des Waldes ganze Seele
Ist in ihr erst aufgelebt:
Schattenlied der Philomele
Selber ward in sie verwebt.
Schon im Dufte, leis verstäubend,
Kündet Waldgeheimnis sich:
Koste sie! und übertäubend
Kommt Waldwonne über dich.

Junius ließ sich das nicht umsonst sagen. Er aß die Beere und wie trunken, und doch kühl und frei um die Stirn, streifte er weiter, denn er hatte im Aroma der Beere das ganze würzig frische Waldleben durchgekostet. In der Fülle seines Herzens begann er zu singen:

Welches Wunder! es beginnen
Draußen tausend süße Lieder.
Welches größre Wunder! drinnen?
Tönen tausend süßre wieder.
Jeder Klang zum Herzen hüpfend,
Findet drinnen den Gesellen;
Lächelnd durcheinander schlüpfend,
Plätschern sie in Klangeswellen.
Singt es draußen, singt es drinnen?
Oder singt es allerorten?
Bin ich's selber? Oder spinnen
Zweig und Blüte sich zu Worten?
Nun, so will ich niedertauchen
Und nicht weiter danach fragen,
Heiß nur in die Frische hauchen
Wunderseligstes Behagen.

Aber zwischen den süßen Sang fuhr mit einemmal wie ein schartiges, rostiges Schwert, das einen Rosenzweig zerschneidet, eine ängstliche, heisre Stimme: »Junius! Junius!« und heran keuchte Nicodemus, vom Gesange endlich richtig geleitet, atemlos und glühend, mit verwirrten Haaren, an denen einige Waldblätter hängen geblieben waren, die sein philisterhaftes Antlitz mit phantastischer Ironie ausschmückten.

»Gott sei dank! da bist du ja. Komm gleich mit zur Mutter! Ach! ich habe deinetwegen viel leiden müssen, unglücklicher Knabe! Wie kannst du dich auch so rücksichtslos bis nach dem Mittagessen herumtreiben und uns alle in Angst setzen? Und du weißt, daß dein armer Lehrer immer das meiste dabei zu leiden hat. O Gott! was muß ein armer Teufel nicht alles herunterschlucken!« –

Und herunterschlucken hatte er viel müssen, in der Tat. Die Frau Habichs hatte, als Junius immer und immer nicht nach Hause kam, erst den Garten durchsuchen lassen und dann, in ihrer Seelenangst, das ganze Haus in Bewegung gesetzt. Das kommt davon (fuhr sie den armen Nicodemus an) wenn Hauslehrer sich einbilden, ihre Zeit für sich anwenden und in albernen, gelehrten Büchern kramen zu dürfen. Werden sie von den Büchern bezahlt, mein Herr? Werden Sie von den Büchern gekleidet und satt gemacht, mein Herr? Gehn Sie Ihrer Wege und nehmen Sie die Bücher mit und sehen Sie, wie weit Sie damit kommen, wenn Sie Ihr Pflichtgefühl nicht besser ausfüllen wollen! Wenn Sie Gewissen und Ambition hätten, so würden Sie jeden Tritt und Schritt des lieben, unglücklichen Kindes bewachen. O Gott! wer weiß, ob nicht die Fluten des Baches jetzt über seine dahingeschiedne Seele rauschen! (schluchzte sie und fuhr dann plötzlich auf): »Auf der Stelle fort und suchen Sie, suchen Sie! Wenn Sie ein Mensch von zarteren Sentiments wären, so würden Sie schon längst fort sein, ohne meine Invitation. Und wenn Sie das gute, arme unglückliche Kind nicht mitbringen, so rate ich Ihnen nicht, mir noch vor die Augen zu kommen!«

Nicodemus war froh, sich fort machen zu dürfen, und suchte, von dannen eilend, möglichst wenig von dem Gewitter zu hören, das ihm aus der Ferne noch nachgrollte: »Das hat man davon, wenn man einem so stupenden Menschen, einem solchen authentischem begus kambi sein Teuerstes anvertraut usw. usw.« dies und mehr wurde als Monolog gesprochen und Nicodemus hatte wenigstens das Glück, darin nur in der dritten Person zu figurieren. In der Tat war es aber doch deshalb so laut geschrien, damit er's hören sollte.

Dies alles geschah, als man sich eben zum Mittagessen anschickte. Herr Habichs war mehr verdrießlich, als unruhig. »Dummes Herumtreiben das! Warum gibt ihm Herr Nicodemus nicht mehr zu arbeiten auf? Hätt' ich den Bengel nur erst auf dem Bureau, dann könnten dergleichen Unordnungen nicht vorkommen.«

Als er nach Tisch in den Turm zurückging, hinterließ er aber doch den Auftrag, man sollte es ihm sagen lassen, wenn der Junge wieder gefunden wäre.

Nicodemus hatte auf diese Weise nichts zu Mittag gegessen, aber die Angst um sich selbst und um seinen Lehrling ließ ihn gar nicht zum Hunger kommen. Rufend und keuchend war er stundenlang im Walde umhergestrichen und zwar hatte er in der ganzen Zeit, ohne es zu merken, immer und immerfort, wie ein blindes Pferd in der Pulvermühle, nichts, als einen engen Kreis gemacht, immer nur wenige Schritte von Junius entfernt; so sehr hatten Haß und Angst seinen außerdem nicht glänzenden Ortssinn umnebelt und desorientiert. (Man ziehe gefälligst den Hut vor Einbürgerung dieses Fremdwortes!) Junius würde ihn längst gehört haben müssen, hätte er nicht auf andere Dinge zu hören gehabt. Jetzt sah er ihn ganz erstaunt an, denn er hatte nichts davon gemerkt, daß er schon seit Stunden in Wonne schwelgte. Als er aber hörte, daß Nicodemus in seiner Anrede des Mittagessens erwähnte, sprach er ganz heiter: »Ei! ich brauche nichts, ich habe schon gegessen, getrunken, gehört und gesehen. Ich habe Wohllaut in Strömen getrunken und alle Waldwunder in der roten Beere gekostet. O, kosten Sie auch, Herr Nicodemus!«

»Mache jetzt keinen Spaß mehr, sondern komm!« sprach Nicodemus. Als er aber die vollen Erdbeerbüsche sah, auf die Junius lächelnd hindeutete, bückte er sich doch, instinktmäßig, um sie im Weggehn noch schnell mitzunehmen und seinen lechzenden Gaumen damit zu laben. »Nun, wie wird Ihnen? (sprach Junius) Hören Sie die tausend süßen Stimmen? Fühlen Sie Waldfrische im Atem Ihrer Brust und Waldeswohllaut im Schlage des Herzens?« –

»Mach keinen Spaß, sage ich dir, Junius, sonst reizest du die Mutter noch mehr,« sprach Nicodemus und nahm ihn bei der Hand. Junius ließ sich gutwillig führen, schwebte aber mehr, als er ging, und sang für sich sein voriges Liedchen:

Welches Wunder! es beginnen usw.

Schon im Garten flog die Mutter ihnen entgegen. Man kann leicht denken, daß von Vorwürfen nicht mehr die Rede war. Junius wurde mit Küssen auf Mund, Wange, Stirn, Kopf, Nase und Hand fast erdrückt: »Wo warst du denn, du armer, armer Junge?« Dies waren die einzigen, oft wiederholten Worte der Frau Habichs. »Wo ich war? Je, Mutter, im Waldesparadiese, wo die tausend Stimmen von holden Wundern sangen.« Das überhörte die Mutter noch. Als sich ihre Ekstase ein wenig gelegt hatte, sprach sie: »Aber jetzt komm und iß! du wirst recht hungrig sein, du armer, armer, armer Junge! – Nun, Herr Nicodemus! (fuhr sie diesen, der ganz verlegen und dumm aussehend, wie immer die dritte Person bei einer rührenden Szene, dem Treiben zugesehen hatte, etwas barsch an), Sie stehn noch hier? Sie hätten auch wohl so diskret sein können, schon längst zur Köchin zu gehn und ihr zu sagen, daß sie das Essen aufträgt für meinen armen, armen Jungen, damit mir das Kind nicht hungert.«

Herr Nicodemus eilte im Trabe davon; aber Junius rief: »Nein, liebe Mutter, ich brauche nichts. Bleiben Sie, lieber Herr Nicodemus! ich habe gegessen, ich bin ganz satt von Waldlust und Waldernst, ich habe alle Waldwunder in der roten Beere gekostet.«

Bei diesen Worten stutzte Frau Habichs schon einigermaßen. »Komm und iß! (sprach sie) es ist dir nicht gesund, lieber, Junius, wenn dein Magen so lange in Insolenz bleibt; du wirst mir sonst am Ende gar krank, du armes, armes Kind!« (Neues Küssen.) »Nein Mutter! ich mag, ich kann nicht essen, gewiß nicht! Aber erzählen will ich dir, viel, viel erzählen. Denk' dir nur, was die alte Linde mir gesungen hat! Höre!« – und hier wiederholte er den ganzen Gesang des Lindenbaums. Seine Augen funkelten, seine Wangen glühten, seine Stirn bebte; so ergriff ihn die Erinnerung.

Die Mutter wollte ihn erst unterbrechen und liebreich schelten, aber, aufmerksam gemacht durch den Rhythmus, horchte sie auf, und horchte weiter und stand mit weit offnem Munde und vom Schreck aufgerissenen Augen da. »Um Gottes Willen! was ist dir, was fehlt dir, Kind? Um Gottes Willen, sprich!«

»Nichts fehlt mir, gar nichts; mir ist gar wohl, liebe Mutter, und ich bin sehr fröhlich, denn denke dir nur, was die Vögel im Garten singen!« – Hier folgte das Lied der Vögel.

Frau Habichs sah betäubt und befremdet auf Junius, dann fragend auf Nicodemus.

Dieser sprach, blaß werdend, mit zitternder Stimme: »Der Kleine sprach vorher von einer roten Beere – – –« Das Wort erstarb ihm auf der Zunge.

»Und die hab' ich auch gegessen, und den ganzen Wald hab' ich in mir!« rief Junius freudig.

»Im Walde, wo ich den Kleinen fand (stotterte Nicodemus weiter) habe ich früher einmal wahrgenommen, daß daselbst Tollkirsch –«

»Ach!!!« (dies soll einen jener bekannten Schreckweiberkreische vorstellen, die sich übrigens durch die im Alphabet üblichen Vokale gar nicht ausdrücken lassen. Der Leser denke sich den richtigen Ton dazu.) »Fort, fort zum Doktor! Gott, Gott! mein Kind vergiftet! Fort! Was stehn Sie noch? O Gott, o Gott, o Gott!«

Nicodemus rannte ohne Hut davon; Frau Habichs warf den Knaben, der gar nicht wußte, wie ihm geschah, auf ihren Arm und lief wild, den großen und kleinen Kamm aus den Haaren verlierend, so daß die Zöpfe und Locken herumflogen, in das Haus. Da setzte sie sich in einen Winkel, den Knaben auf dem Schoß, preßte, küßte und nudelte ihn, winselte, stöhnte, weinte und seufzte über ihn, bis Nicodemus angerannt und mit ihm der dicke Doktor, bei jedem Schritt pustend und sich den Schweiß von der Stirne wischend, angewatschelt kam. Er ging auf den Kleinen zu, sah ihm ins Auge und faßte seinen Puls. Mit einem mißbilligenden, bedenklichen: »Hm, hm!« zählte er die Schläge. »Also keinen Appetit, sagten Sie?« – »Nein (sprach Nicodemus) er will durchaus nichts essen.«

»Hm, hm! (fuhr der Doktor fort) Widerwille vor Speise und Trank, fieberischer Puls, vergrößerte Pupille – bedenklich, sehr bedenklich! Und irre redet er schon, sagten Sie?« – »Ja und er sprach auch von einer roten Beere –« – »Was wollt Ihr? (rief Junius, in dem die ganze Szene den Taumel der Lust noch nicht ganz verdrängt hatte). Es war eine Erdbeere, die hab' ich auch gegessen.« Und nun begann er aufs neu vom Kosten der Waldlust und vom Liede der Linde und der Quelle und der Bienen schwärmerisch zu erzählen. »Es ist kein Zweifel (fuhr der Doktor rasch dazwischen) er redet irr. Die Symptome, welche nach den besten Autoren bei Vergiftungen durch die in unserer einheimischen Flora allerdings vorkommende atropa belladonna oder populär: Tollkirsche, auch Wolfskirsche sich zeigen, sind ganz evident. Wir müssen sogleich ein Brechpülverchen anwenden.«

»Vergiftet!!!« kreischte Frau Habichs nochmals laut auf und begann von neuem ihr Geheul, das sie nur unterbrochen hatte, um, den Doktor starr anstierend, den Urteilsspruch von seiner Stirn zu lesen. »Also wirklich vergiftet? Ist keine Rettung mehr möglich?« –

»Wollen sehn, wollen sehn!« sprach der Doktor geheimnisvoll und hatte schon ein Pülverchen aus der Tasche gezogen; Nicodemus mußte aus der Küche eine mehr als unverschämt große Quantität lauwarmer Milch holen und trotz allen Sträubens, Schreiens und Zappelns (was ihm als Toben der Tollheit ausgelegt wurde und die Sache nur noch dringender machte) mußte Junius das Pulver verschlucken und Milch in fürchterlichen Zügen nachtrinken.

»Mein liebes, armes, goldnes Herzenskind! trink', trink', sonst stirbst du!« rief einmal übers andre die Mutter, schmeichelnd und küssend, während Junius von der ihm mit Gewalt in den Hals gegossenen Milch beinah erstickte und sie einigemal in krampfhaftem Sprudeln durch Mund und Nase von sich spritzte.

Die Wirkung kam bald; ein trauriger Wechsel auf den Überschwang der Waldwonne, dieses nicht leben und nicht sterben können, dieses erstickende Würgen und ekle Vonsichgeben! Aber der Doktor freute sich über die Todesqual des armen Knaben und sagte schmunzelnd: »Ganz nach Wunsch, ganz nach Wunsch! Werden noch helfen können, denke ich.« – Der selig berauschte Zustand des Knaben war durch die unfreiwilligen Eruptionen natürlich gründlichst vertrieben; trübselig, geduckt und nüchtern blickte er vor sich hin.

Der Doktor blieb noch eine Zeitlang da, um zu beobachten. Da er aber sah, daß Junius aufgehört hatte irre zu reden (sie hatten's ihm wohl vergällt!), da er die Pupille nicht mehr erweitert und den Puls ruhig fand (ruhig aus Ohnmacht, so wie er vorher unruhig aus Überfülle des Lebens gewesen war) und da Junius, aller traumgesättigten Begeisterung enthoben, zuletzt, nach der gewaltsamen Ausleerung einen herzhaften Hunger spürte und demütig um Essen bat, so empfahl sich der Doktor mit den Worten: »War ein Glück, daß Sie mich noch zu rechter Zeit in Kenntnis setzten; der Knabe ist jetzt vollkommen gerettet. Hätten Sie mich aber eine einzige Minute (mit Nachdruck) später rufen lassen, so wäre er unwiderbringlich (wieder mit Nachdruck) verloren gewesen. Fahren Sie nur mit der warmen Milch fort. Adieu!« – Die ausgelassene Freude der Frau Habichs äußerte sich nun so übermütig und unsinnig, wie vorher ihre Angst und Verzweiflung. Sie rannte und hopste, nachdem die ersten Liebkosungen ausgestürmt hatten, und während Junius ein derbes Stück Rindfleisch aß, aus einer Stube in die andre und sang dabei:

Rinaldo Rinaldini,
Er der Räuber allerkühnster usw.

Und: Guter Mond, du ziehst so stille usw. Und: Schönste Minka, ich muß scheiden usw.

und noch mehrere andere ganz neue Lieder. Dazwischen lachte sie hell auf, warf Türen zu, lief Trepp' auf Trepp' ab, schalt sogar die Magd aus reinem Übermut, sprang dann wieder zu dem kauenden Junius und fragte: »Schmeckt dirs mein Tierchen, mein Äffchen, mein Hundelchen?« schmatzte ihn auf die Backen und lief und trällerte weiter. Jetzt erst fiel's ihr ein, Herrn Habichs, den sie ganz vergessen hatte, von allem in Kenntnis zu setzen. Sie entsandte daher die Magd in den Turm (ihr selbst graute davor), die Sache mit möglichster Weitschweifigkeit, mit dazwischen gestreuten Wiederholungen und Ausrufungen und: »Nein, das hätten Sie sehen müssen!« und unerschöpflichen; »sagt er« und »sagt sie,« zu Herrn Habichs herzlichen Verdruß aus- und abspann.

»Gut, geh' Sie!« sagte er kurz und rechnete weiter.

Wer aber den eigentlichen Verlauf der Sache gekannt hätte, wie der Leser und ich, der würde ausgerufen haben:

Mon Dieu! tant de bruit pour une fraise!


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