Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XIII

Junius verschloß die Eindrücke dieses Vormittags sorgfältig in seiner Brust; denn das hatte er schon gelernt, daß man sich nur vergeblich bemüht, mit gewöhnlichen Menschen von ungewöhnlichen Dingen zu sprechen. Man drücke sich in den schlichtesten Worten darüber aus – sie werden es doch für unklar und für absichtlich neblich und hochtrabend halten. Aber als er des Nachmittags einen ungestörten Augenblick gefunden hatte, nahm er seine kleine Schwester Malwina bei der Hand, führte sie in den Garten und, unter der alten Linde sitzend, erzählte er ihr vom Tempel der Wildnis mit seinen wunderbaren Chorgesange. Das sinnende Kind hörte ihm schweigend zu, und als er auserzählt hatte, bat sie ihn: »Führe mich auch hin, daß ich's selbst sehe und höre!« Das versprach er ihr.

Der Leser muß nämlich wissen, daß mehrere Jahre verstrichen sind, während er nur einige Stunden lang gelesen hat. Malwina war der Wiege und dem Gängelband entwachsen, hatte sprechen, denken und fühlen gelernt, ein stilles, blühendes Kind. Sie hatte nicht jenen äußeren Habitus altkluger Verständigkeit, der Mädchen ihres zarten Alters oft so posierlich läßt, sie war durchaus Kind, äußerlich und innerlich, aber ein Kind voll tiefer Ahnungen und heller unschuldiger Gedanken. Zu ihr nahm Junius immer seine Zuflucht, wenn er sich einsam und wie abgesperrt fühlte. Natürlich fiel es ihm nach jener Ohrfeigenszene nicht mehr ein, seine Waldesträume, die reicher und reicher ihm die Stirn umblühten, zu Papier zu bringen. Aber seine kleine Schwester horchte ihm gern und mit stillem Erstaunen, wenn er in melodischen Rhythmen ihr davon erzählte, sie wußte nichts darüber zu ihm zu sagen, aber das beste und tiefste verstand sie, fast ohne es selbst zu wissen. Auch sie mochte gern auf Baum und Blume und in das stille Blau des Himmels blicken und den Klängen umher lauschen, aber sie fühlte, daß es Junius gegeben war, anders zu sehen und zu hören, als sie. »Könnt' ich doch das alles auch hören!« sprach sie erst manchmal; dann aber fügte sie sich still darein und freute sich ihres Bruders, wie eines erfahrenen Lehrers und Dolmetschers. Sie verehrte und liebte in ihm einen Höheren, der das blumenreiche Füllhorn seines geistigen Schatzes gern in ihren Schoß schüttete. Alle Bemühungen der Frau Habichs, sie zu einer zierlichen, knixenden Drahtpuppe zu erziehen, scheiterten an ihrer natürlichen und unerlogenen Anmut und an dem tieferen Inhalt ihres Denkens und Sinnens. Deshalb ereiferte sich Frau Habichs oft darüber, daß sie sich nicht zu benehmen wisse, wie ein anständiges, wohlerzogenes Kind, indem sie jedesmal hinzufügte: »Als ich in deinem Alter war, wußte ich mich besser zu drehn und zu wenden und hätte für meine Mutter die Honneurs beim Tee machen können.«

A. d. T. d. O. H.

Vielleicht liegt ein Hauptgrund davon, daß die Weiber so oft ganz oberflächlich und inhaltlos bleiben, grade in ihrer ausgezeichneten Fähigkeit, alles äußerliche, schon von frühester Kindheit an rasch und scharf zu fassen und zu kopieren. Man sehe nur, mit welcher komischen Naturwahrheit kleine Mädchen in ihren Spielen Bräute, Frauen, Hausmütter, gesellschaftgebende Damen usw. darstellen, während sich die Knaben dabei immer linkisch und verlegen geberden. So lernt manches Mädchen früh, sich in die Formen der Welt finden und in ihnen sich bewegen, wie eine Alte. Und im Grunde ist dies nicht so sehr zu verwundern, wenn man bedenkt, wie wenig es eigentlich ist, was ein Weib wissen und kennen muß, um grade keinen Verstoß zu begehn. Aber ein Jammer ist es, daß die meisten es auch hierbei bewenden lassen und, wenn ihnen das äußerliche des Lebens einmal geläufig ist und sie sehen, wie leicht sie damit durchkommen, sich um den Kern und die tiefe Bedeutung desselben wenig kümmern. Und leider arbeitet die gewöhnliche Mädchenerziehung, welche in der Tat nichts als menschliche Dressur ist, dieser angeborenen und bequemen Oberflächlichkeit in die Hände. Manches erwachsene Mädchen erlebt Liebesgeschichten und führt sie mit einem meisterhaften Anschein von Wahrheit durch, und es ist doch in der Tat nichts, als eine Wiederholung ihrer Kinderspiele, als sie in ihnen die Braut äußerlich kopierte, nur daß sie jetzt durch die Lebhaftigkeit des Spiels sich selbst täuschen und hinreißen läßt, bis sie zu der Einbildung gelangt, als empfände sie wirklich eine Leidenschaft, von der sie höchstens den Namen kennt, ohne von ihrem innern, tiefen und ernsten Wesen auch nur den mindesten Begriff zu haben. Wird ein solches äußerliches Tun aber erst zum gewohnten Spiel und zum Bedürfnis, dann wird es Koketterie, und manch ein gutherziges Ding ist auf diese Weise nach und nach durch reines Mißverstehn ihrer eignen Handlungsweise, zur trügerischen, abgefeimten Dirne geworden, ehe sie es selbst recht gewahr wurde.

Versprochenermaßen führte Junius seine Schwester in den Wald um den Baumtempel zu suchen, voll froher Wonne, daß er auch ihr einmal recht unmittelbar und von der Quelle zu kosten geben könne, worin sein Gemüt schwelgte. Sie folgte ihm schüchtern, fast furchtsam; fast wollte sie sich so hoher Eindrücke unwert halten. Aber Junius suchte und suchte, drang mit ihr da und dort hinein, spähte und horchte – alles umsonst; er konnte den Platz, wo er voll Seligkeit auf seinem Antlitz lag, nicht wiederfinden. Malwina wollte fast weinen; aber sie bezwang sich, schmiegte sich an Junius, küßte ihn und sprach: »Wenn ich's auch nicht selbst hören und sehen darf – hab' ich doch dich, und gelt, du erzählst mir alles?« – »Sei ruhig, Malwina! (sprach Junius) alles erzähl' ich dir, und was ich im Baumtempel im Brausen der Wipfel vernahm, will ich mir behalten und dir es noch recht, recht oft sagen, bis du es auch weißt.«

Junius selbst fand die Stelle des Tempels niemals wieder, und wozu hätte es auch gefrommt? Einmal hatte er dem Chorale gelauscht, und das einmal war für ewig. Noch öfter als Gegenwart wäre es am Ende zu süßem, trägen Sinnengenuß herabgesunken; in der Erinnerung blieb er verklärt, geistig und göttlich.


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